China: Das System der Umerziehung durch Arbeit und seine "Reform"

Auch Abgeordnete des Nationalen Volkskongresses setzen sich für die Abschaffung der administrativen Zwangsmaßnahme ein. Bild: Nationaler Volkskongress, Autor: Gisling Lizenz: CC BY-SA 3.0 Original: WikimediaCommons

4. April 2013
Katrin Altmeyer und Xia Nan
Im Januar 2013 verkündete Meng Jianzhu, Sekretär des Rechtsauschusses im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas, dass das „System der Umerziehung durch Arbeit“, chinesisch abgekürzt „Laojiao“,  abgeschafft würde. Bereits seit 2012 gab es Berichte, auch in deutschen Medien, die darüber spekulierten, dass die neue Führung die Praxis der Administrativhaft und Umerziehungslager beenden würde.

Die berüchtigte Umerziehung durch Arbeit oder Laojiao beruht auf einer Verwaltungsverordnung von  1957, die Polizei und Sicherheitsbehörden weitgehende juristische Befugnisse einräumt. In den Anfangsjahren der Volksrepublik gab es in China noch kein Justizsystem; mit der Administrativhaft wollte man Kleinkriminelle, Prostituierte und Arbeitsscheue kontrollieren und disziplinieren. Die Verordnung erlaubt es den Behörden, Menschen wegen geringfügiger Straftaten in Administrativhaft zu nehmen und  für bis zu drei Jahren in Arbeitslager zu überstellen, durch wiederholte Einweisungen sogar für wesentlich längere Zeit. All dies ohne Einbindung der Gerichte.

Häufig wird die Verordnung angewandt, um Protestierende und Andersdenkende wegzusperren. So werden etwa Anhänger nicht anerkannter religiöser Gruppen und Falun Gong Mitglieder häufig Opfer des Systems. Besonders oft verhängen lokale Behörden die Lagerhaft auch über Menschen, die gegen Behördenwillkür protestieren und Petitionen an höherer Stelle einreichen. Das Vergehen lautet dann „Störung der öffentlichen Ordnung“ und die Beschwerdeführer sollen mundtot gemacht und von weiteren Eingaben abgehalten werden.

Rechtswissenschaftler und Intellektuelle sowie einige Abgeordnete des Nationalen Volkskongresses  setzen sich seit vielen Jahren dafür ein, dass die administrative Zwangsmaßnahme abgeschafft  wird. Bereits 2004 forderten 420 Delegierte des Nationalen Volkskongresses, die behördliche Lagerhaft zu reformieren. 2005 wurden erneut Reformanträge vorgelegt. Die Abgeordneten verlangten ein ordentliches Gesetz, mit dem die Bestrafung von Rechtswidrigkeiten und Kleinkriminalität in die Zuständigkeit der Justiz fällt oder zumindest der Rechtsweg beschritten werden kann, um die Einweisungen anzufechten. Auch der Vollzug in den Lagern sollte reformiert werden. Die Formulierung eines solchen „Gesetzes zur Korrektur illegalen Verhaltens“ stand seitdem auch immer wieder auf dem Arbeitsplan des gesetzgebenden Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses. Ein Entwurf wurde bis heute nicht veröffentlicht.

Die Umsetzung der Reformvorhaben scheiterte bislang am Widerstand der Polizei- und Sicherheitsbehörden. Sie wollten auf dieses Instrument zur „Disziplinierung und Kontrolle der öffentlichen Sicherheit und gesellschaftlichen Stabilität“ nicht verzichten; denn lokale Behörden können vom Laojiao System gleich zweimal „profitieren“: Sie ziehen damit sowohl unliebsame Kritiker und Störenfriede aus dem Verkehr und können gleichzeitig durch die Zwangsarbeit in den Lagern finanzielle Gewinne erwirtschaften. Laut des chinesischen Internetportals www.360.doc.com soll es über 300 Lager mit insgesamt ca. 260.000 Insassen geben. Offizielle Zahlen liegen dazu jedoch nicht vor.

Kritiker des Laojiao Systems haben lange Zeit vor allem mit der Unvereinbarkeit der Verordnung mit inzwischen geltenden Gesetzen und der Verfassung argumentiert. So heißt es im Gesetzgebungsgesetz, dass der Entzug der persönlichen Freiheit nur durch Gesetze erlaubt ist, die vom Nationalen Volkskongress erlassen wurden.

Eine breitere gesellschaftliche Debatte wurde erst ermöglicht, als die Dimension des Machtmissbrauchs und willkürlicher Entscheidungen durch die Veröffentlichung vieler Fälle deutlich wurde. Yu Jianrong, Sozialwissenschaftler an der Staatlichen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS), dokumentierte in jahrelanger Arbeit tausende Fälle, in denen Petitionäre im Umerziehungslager weggesperrt  wurden. Lokale Behörden fangen Beschwerdeführer dabei in den Provinzhauptstädten oder in Peking ab, sammeln sie in sogenannten „schwarzen Gefängnissen“ (umfunktionierten Hotels oder Wohnungen) und führen sie anschließend zurück in die Heimatregion. Dort werden sie mit einem Federstrich der Verwaltung in die Arbeitslager eingewiesen. Ende 2009 veröffentlichte Professor Yu Jianrong in einem von der hbs unterstützten Projekt 100 Einzelfälle aus seiner umfangreichen Forschung. Das Buch verschickte er an NVK-Abgeordnete und Medienvertreter und erntete eine unerwartete Resonanz auch aus Regierungskreisen. Im Vorfeld der Sitzung des Volkskongresses 2010 gab es eine Pressekonferenz und erstmals brachen Medien in China ihr Schweigen über das bisherige Tabuthema der Arbeitslager. Die Onlineseite der parteieigenen Chinesischen Volkszeitung (Renmin Ribao) und eine Vielzahl anderer Medien berichteten ausführlich. Erneut landete die Reform des Systems auf dem Arbeitsplan des gesetzgebenden Ausschusses und erneut passierte nichts.

Erst durch die öffentliche Debatte, vor allem die Enthüllungen neuer Fälle im Internet und in den sozialen Medien wurden die Regierenden schließlich zum Handeln gezwungen. Allerdings war auf der Pressekonferenz des diesjährigen Nationalen Volkskongresses keine Rede mehr davon, das Laojiao System abzuschaffen. Es soll lediglich reformiert werden, heißt es jetzt wieder.

Alter Wein in neuen Flaschen?

Die größte Sorge der Laojiao Kritiker ist, dass Polizei und Sicherheitsbehörden die Gesetzgebung maßgeblich beeinflussen werden und dass auch nach dem neuen Gesetz die Entscheidungsbefugnisse über den Freiheitsentzug bei der Polizei und den Sicherheitsbehörden bleiben wird. Damit wäre wenig gewonnen. Chinesische Rechtswissenschaftler und Intellektuelle fordern daher zunächst Transparenz und Bürgerbeteiligung im bevorstehenden Gesetzgebungsprozess. Diese und weitere Forderungen und Vorschläge fasst der Anwalt und Rechtsexperte Xia Nan im Folgenden zusammen: 

a) Recht auf Beobachtung und Berichterstattung
Durch die Zulassung einer gewissen Anzahl von Beobachtern sollen Bürger Gesetzgebungsprozesse mitverfolgen dürfen. Die Regeln, wer und wie man sich dafür bewerben kann, müssen öffentlich und transparent sein. Ist eine direkte Beobachtung durch die Bürger aus objektiven Gründen nicht möglich, sollen sie zumindest indirekt über die Medien informiert werden. Diese müssen umfassend und aktuell über Sitzungen der Legislative und über Abstimmungen berichten sowie Interviews machen dürfen.

b)  Öffentliche Anhörungen
Öffentliche Anhörungen sind ein wichtiges Instrument der Bürgerbeteiligung. Sie bieten der Gesetzgebung die Möglichkeit, unterschiedliche Meinungen und Positionen zu hören. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Gutachten und Fachwissen von Experten und Forschern eingeholt werden, die die Notwendigkeit und Machbarkeit eines geplanten Gesetzes objektiv beurteilen.

Vom Verfahren der Anhörung ist zum ersten Mal im chinesischen „Gesetzgebungsgesetz“ die Rede und zwar bei der Verwaltungsgesetzgebung. Die Bestimmungen nennen Anhörungen im Sinne der Verwaltungsgesetzgebung jedoch in einem Atemzug mit Diskussionsveranstaltungen und Expertenrunden. Die wichtige Funktion von öffentlichen Anhörungen in der legislativen Praxis kommt damit nicht mehr zur Geltung. Laut gegenwärtiger Bestimmungen „können“ die gesetzgebenden Institutionen des Staatsrates Anhörungen abhalten, wenn  die „unmittelbaren Interessen von Bürgern“ von neuen Gesetzentwürfen betroffen sind. Sie sind dazu aber nicht verpflichtet und haben außerdem großen Ermessensspielraum bei der Entscheidung, was unter „unmittelbaren Interessen von Bürgern“ zu verstehen ist, da es an einer klaren Definition mangelt. 

c)  Veröffentlichung von Sitzungsprotokollen
Im Moment gibt es im chinesischen Gesetz keine Bestimmungen, in denen die Veröffentlichungspflicht von Sitzungsprotokollen eindeutig geregelt ist. So ist auch der Entwurf des „Gesetzes zur Korrektur illegalen Verhaltens“ bis heute nicht veröffentlicht worden, was zu Misstrauen in der Öffentlichkeit führt. Für folgende Dokumente sollte es eine Veröffentlichungspflicht geben: Hintergrundmaterialien und -daten zur rechtlichen Grundlage, auf der das jeweilige Gesetzesvorhaben basiert; die kompletten Gesetzentwürfe; die von Interessenvertretern während der Sitzung geäußerten Positionen; das Abstimmungsverfahren und -ergebnis sowie Veröffentlichungskanäle.

d)   Anträge
Bürger sollen Anträge bei gesetzgebenden Organen einreichen können, um auf dem Rechtsweg, neue Gesetze vorschlagen bzw. die Änderung oder Abschaffung geplanter Gesetzesvorhaben erlangen zu können. Derartige Anträge müssen von den Behörden  gesetzeskonform bearbeitet werden. Akzeptiert der Bürger die Entscheidung der Behörde nicht, sollen ihm rechtliche Schritte zum Einspruch oder Widerspruch offenstehen. Ein solches Verfahren existiert in China bislang nicht.

e)   Ausschluss aus Befangenheit
Bei Gesetzentwürfen, die die direkten Interessen einer Behörde berühren, muss diese Behörde vom Gesetzgebungsverfahren ausgeschlossen werden können. Der Entwurf muss in diesem Fall von gesetzgebenden Organen oder von Experten erstellt werden, die durch diese beauftragt werden.  Gegenwärtig gibt es im Verwaltungsprozess und Verwaltungsstrafprozess die Möglichkeit des Ausschlusses aus Befangenheit, nicht aber in der Verwaltungsgesetzgebung selbst. Dies ermöglicht Behörden Gesetze zu formulieren, die ihre eigenen Interessen betreffen sowie anstehende Gesetzesreformen bzw. -änderungen zu verhindern.

Ausblick

Der bekannte Rechtsanwalt Pu Zhiqiang, der einige Laojiao-Opfer vertreten hat, ist der Meinung, dass die Meldung über die mögliche Abschaffung des Systems der Umerziehung durch Arbeit „einen sehr großen Sprung für den Aufbau eines rechtsstaatlichen Chinas bedeutet.“ Die vorab dargestellten Mängel verdeutlichen allerdings, dass es beim neuen „Gesetz zur Korrektur illegalen Verhaltens“ schwer wird, Transparenz und Bürgerbeteiligung im Gesetzgebungsprozess zu gewährleisten.

Zhu Zhengfu, Mitglied der Politischen Konsultativkonferenz der Provinz Guandong, ruft seit zehn Jahren zur Abschaffung des Systems der Umerziehung durch Arbeit auf. Seiner Auffassung nach ist die Tatsache, dass das System der Umerziehung durch Arbeit so lange existieren konnte, ein Beweis dafür, dass die Verfassung in China nicht umgesetzt werden kann. „Das größte Problem der chinesischen Gesellschaft besteht im Moment darin, dass die Staatsmacht keine Beschränkung kennt. (…). Soll  die Macht in einen Käfig gesperrt werden, dann nicht in den Käfig der Moral oder der ungeschriebenen Gesetze, sondern in den Käfig der Rechtsstaatlichkeit.“

 

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Katrin Altmeyer ist Leiterin des Asienreferates der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin
Xia Nan ist Rechtswissenschaftler und Rechtsexperte in Peking

 

Der Artikel wurde in der Online-Publikation „Der Käfig, in den die Macht eingesperrt werden soll“ veröffentlicht.