Täglich einen Halbmarathon gegen die Atomkraft

Buddhistische Mönche und Nonnen wanderten mit ihren Unterstützern 17 AKW's in Japan ab, um gegen die nukleare Bedrohung friedlich zu protestieren.
Foto: Sonja Blaschke

11. Juni 2013
Sonja Blaschke

Eine Gruppe Buddhisten wanderte vor einem Jahr betend und trommelnd alle 17 Atomkraftwerke in Japan ab, um gegen die Atomkraft zu demonstrieren. Rund um Japans größtes AKW Kashiwazaki-Kariwa war der Empfang für die gläubigen Aktivisten besonders frostig. Andernorts dagegen wurden sie herzlich begrüßt. Eigentlich sollten die Reaktoren des AKWs ab April 2013 wieder angefahren werden, doch der Betreiber verzichtete bisher darauf. Premierminister Shinzo Abe kündigte bereits an, die Atomkraft weiter zu fördern, nun in Kooperation mit der Atomnation Frankreich – trotz des Fukushima-Desasters und der Ängste der Mehrheit der Bevölkerung.


Eine freundliche Einladung klingt anders. „Möchten Sie hereinkommen oder ist es hier OK?“, fragt der Verwaltungschef unsicher. Er steht vor dem Eingang des Rathauses von Kariwa, einer 5000-Seelen-Gemeinde in der Präfektur Niigata am japanischen Meer. Nach einer Schrecksekunde weist er den kahlköpfigen Buddhisten in ihren gelben, roten und brauen Gewändern den Weg ins Foyer - aber nicht weiter.

Dort stellt er sich flankiert von Mitarbeitern in zwei Metern Abstand vor der zwanzigköpfigen Gruppe auf. Eigentlich sollte an seiner Stelle der Bürgermeister stehen. Doch der hatte sich trotz des vor Wochen vereinbarten Termins entschuldigen lassen. Der die Gruppe leitende Mönch Tatsuma Sato verliest leise eine Petition: „Wir bitten um die endgültige Abschaltung des Atomkraftwerks Kashiwazaki-Kariwa für die Zukunft der Kinder Japans.“ Die nervösen Beamten nehmen mit eingefrorener Miene die Bittschrift entgegen, verbeugten sich leicht. Die Angestellten hinter den Tresen im Foyer tun so, als hörten sie nichts.

Hoffnung auf ein Ende des Atomkraftzeitalters in Japan

Im Herbst 2012 gab es kurz einen kleinen Hoffnungsschimmer. Damals verkündete die Vorgängerregierung unter Premierminister Yoshikiko Noda von der demokratischen Partei (DPJ) den Atomausstieg „bis zu den 2030ern“. Das klang vage und ambivalent, war jedoch mehr als lange erwartet und bestätigte Atomkraftgegner in ihren Aktivitäten.

Das Mega-AKW Kashiwazaki-Kariwa sollte unabhängig davon ab April 2013 Reaktor für Reaktor wieder ans Netz gehen. So sah es der Businessplan der Betreiberfirma Tokyo Electric Power (Tepco) vor, den die Regierung im Sommer 2012 akzeptierte und Tepco dafür weitere Milliarden Yen aus der Steuerkasse gab. Tepco betreibt auch das havarierte AKW Fukushima Daiichi. Doch Tepco-Chef Naomi Hirose sagte im April 2013 ohne Angabe von Gründen, dass die Reaktoren alle erst einmal vom Netz blieben – trotz der daraus resultierenden finanziellen Belastung, zusätzlich zu Kompensationszahlungen und Treibstoffimporten. Er gab sich kämpferisch: „Wenn wir es nicht schaffen, wieder schwarze Zahlen zu schreiben, werden wir nicht länger existieren wie bisher. Wir werden alles tun, um es zu schaffen.“ Eine Wahl hat Tepco aktuell ohnehin nicht, da erst neue Sicherheitsregelungen für AKWs in Japan erlassen werden müssen.

Über die Atomkraft zu sprechen, war nach dem Unfall in Fukushima lange ein Tabu

Lange begrüßten die Japaner die Atomkraft, sahen sie für ihre ressourcenarme Inselnation, deren Industrie viel Strom braucht, als unverzichtbar an. Doch seit dem Atomunglück von Fukushima begann sich die öffentliche Meinung zu ändern, zuerst nur unter der Oberfläche und im Internet. In den Mainstream-Medien, selbst in Gesprächen unter Kollegen und Freunden, war der Unfall lange ein Tabu. Noch im Herbst 2011 berichteten die japanischen Medien nicht oder nur am Rande, dass in Tokio 50.000 Menschen gegen die Atomkraft demonstrierten. Eine weitere Großdemonstration einen Monat vor dem ersten Jahrestag ging unter. Die Hoffnung unter Atomkraftgegnern schwand.

Aufgeben wollten sie trotzdem nicht, und so begann eine kleine Gruppe jeden Freitagabend vor dem Sitz des Premierministers zu demonstrieren. Richtig viel Zulauf bekamen sie aber erst über ein Jahr nach dem Fukushima-Desaster, als die Noda-Regierung im Sommer 2012 zwei der 50 zu Prüfzwecken ruhenden Reaktoren wieder anschaltete. Damals sprang der Funke des Widerstands auch auf die breite Bevölkerung über. Angestellte im Anzug, junge Mütter mit ihren Kindern, Senioren, alle kamen. „Wie können sie AKWs anschalten, solange wir nicht genau wissen, was den Unfall in Fukushima verursacht hat!?“, denken viele Japaner inzwischen laut.

Die Provinz tickt anders als die Großstadt: Atomkraftwerke sind dort wichtige Arbeitgeber

Anders als in den Großstädten, wo das Thema Atomkraft nun durchaus auf den Tisch kommt, ist in der Provinz von dem Bewusstseinswandel wenig zu spüren, erst recht nicht in AKW-nahen Orten wie der 90.000-Einwohner-Stadt Kashiwazaki oder dem Nachbardörfchen Kariwa. Angst haben die Menschen dort auch, aber sie reden nicht darüber. Vielleicht, weil sie schon zu lange damit leben. 2007 zum Beispiel war dort nach einem starken Erdbeben radioaktiv verseuchtes Wasser ausgetreten. Großzügige Investitionen des Stromanbieters Tepco, etwa in einen 50-Meter-Pool direkt am Meer, helfen seit Jahrzehnten beim Verdrängen, ebenso die vielen Jobs, die am AKW hängen. Die Nachrichtenagentur Kyodo berichtete, dass allein Kariwa mit seinen 5.000 Einwohnern vier Milliarden Yen (30 Millionen Euro) an Bargeld und Land von Tepco bekam. Das macht 800.000 Yen (6.000 Euro) pro Person.

Kilometerlange Märsche gegen Kriege und Atomkraft

Entsprechend verschnupft reagierten die Anwohner auf den Besuch der buddhistischen Vereinigung Nipponzan Myohoji. Ihre Mitglieder brechen regelmäßig zu monatelangen Friedensmärschen auf. In Japan wanderten sie 2012 zu allen 17 AKWs, um davor zu beten. Seit 8. Juni 2013 wandern sie von Tokyo nach Hiroshima und Nagasaki, wo sie zu den Gedenktagen der Atombombenabwürfe ankommen, um für den Frieden und eine Welt frei von Atomwaffen zu beten. Finanziert werden ihre Wanderungen über Spenden. „In Orten ohne AKW sind die Leute deutlich freigiebiger“, stellte die Nonne Yuki Yako bei ihrer Tour zu den AWKs fest. Unterschlupf finden sie meist in buddhistischen Tempeln.

Die 37-Jährige und ihr Wanderkollege Sato bedauern, dass viele ihrer Landsleute ein ganz auf wirtschaftlichen Profit ausgerichtetes Leben führten. Darüber verlören sie das Menschsein aus dem Blick. Sie daran zu erinnern, dafür lohnen sich für die Idealisten die Strapazen. Jeden Tag stehen sie um vier Uhr auf, beten, machen Frühstück. Um halb sieben brechen sie auf. Eine Tagesetappe beträgt 20 bis 30 Kilometer, das ist ein Halbmarathon pro Tag mindestens.

Wiederaufbereitungsanlage Rokkasho: Maskenhafte Gesichter im örtlichen Rathaus

Sie demonstrieren friedlich und zurückhaltend und werden doch manchmal wie Aussätzige behandelt. Am schlimmsten sei die Etappe um die umstrittene Wiederaufbereitungsanlage Rokkasho in der Präfektur Aomori gewesen: „Im Rathaus dort waren die Gesichter der Leute wie Masken“, erzählt Yako. „Selbst bei strömenden Regen hat uns niemand aufgenommen, mir sind die Tränen runtergelaufen“, erinnert sich auch Sato. Die Reaktion kamen nicht von ungefähr: Die Region fordert von der Regierung, die weitere Nutzung der Recycling-Anlage für nukleare Brennstäbe zu garantieren. Mit Erfolg: Abe sagte explizit im Gespräch mit dem französischen Premierminister Francois Hollande am 7. Juni, dass die beiden Länder „sicheren und stabilen Betrieb“ der Anlage sicherstellen wollten. Atomkraftgegner sehen Rokkasho als Beweis dafür, dass Japan sich die Option offenhält, Atomwaffen herzustellen. Laut Professor Frank von Hippel von der US-Universität Princeton wäre dies in nur wenigen Wochen möglich.

Japan und Frankreich wollen gemeinsam die Atomkraft fördern und ihre Atomtechnik in Entwicklungsländer exportieren

Die beiden Staatsoberhäupter vereinbarten außerdem, bei Reaktoren der nächsten Generation zu kooperieren und ihre Firmen dabei zu unterstützen, Nukleartechnik in Entwicklungsländer zu exportieren. Es war eine der klarsten Aussagen der Regierung Abe bisher, die sich in den letzten Monaten damit recht zurückhielt. Der Grund: Sie will den erwarteten Sieg bei den Oberhauswahlen im Juli nicht aufs Spiel setzen, der ihr die Kontrolle über beide Kammern des Parlaments verschaffen würde.

Sollte Japan doch noch aus der Atomkraft aussteigen, erhält die Region um das AKW Kashiwazaki-Kariwa bereits einen Vorgeschmack auf eine atomkraftfreie Zukunft. Denn seit im März 2012 der letzte der sieben Reaktoren dort zu Prüfzwecken vom Netz ging, wurde es still und der Besucherstrom hat merklich abgenommen. Daneben gibt es nur in der Region nur noch eine Keks- und eine Batteriefabrik, ansonsten bleiben nur Jobs als Landwirt oder Fischer. Etwa 70 Prozent der Arbeitsplätze hängen am AKW, schätzen Anwohner.

Unverständnis und Ablehnung, aber auch herzliche Empfänge

Negativ über die Atomkraft zu sprechen, käme dem sprichwörtlichen Biss in die Hand gleich, die einen füttert. Deswegen will sich eine Angestellte in einem Eierladen 100 Meter vor dem AKW lieber nicht äußern. „Das bringt doch sowieso nichts.“ Ihre Kollegin schüttelt den Kopf angesichts der Wandermönche, die seit Stunden gegenüber von ihrem Laden das Lotus-Mantra singen, beten und trommeln. „So etwas haben wir hier noch nie gesehen.“

Dass es auch ganz anders als in Kariwa laufen kann, erlebten die Gläubigen auf Hokkaido in Nordjapan, 50 Kilometer entfernt vom AKW Tomari: „In der Stadt Niseko kam der Bürgermeister direkt zu uns, um uns zu begrüßen!“, erzählt Sato froh. Solche Erlebnisse lassen sie Abfuhren wie im Rathaus von Kashiwazaki am nächsten Tag gelassener nehmen. Wieder ist der Bürgermeister nicht da. Unverdrossen sagt Sato: „Ich glaube an die Kraft der Gebete. Sie ist zwar nicht sofort sichtbar, aber ihre Wirkung entfaltet sich mit der Zeit.“

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Sonja Blaschke ist Journalistin und Korrespondentin in Tokio