Die Hitze aus der Tiefe: Japan setzt verstärkt auf Geothermie

Erdwärmekraftwerk

In Japan ging gerade der letzte noch laufende Atomreaktor vom Netz. Damit liegen die nach der Fukushima-Katastrophe verbliebenen 50 Reaktoren, von denen Japan vorher ein Drittel seiner Energie bezogen hat, zur Prüfung still. Doch theoretisch verfügt das rohstoffarme Japan über genügend von einer Ressource, die gleich 20 Reaktoren ersetzen könnte: Geothermie. Genutzt wird sie praktisch bisher wenig. Zu wenig, findet die japanische Regierung inzwischen und lockerte die Bestimmungen. Außerdem gibt sie Anreize für den Bau neuer Erdwärmeanlagen.

Am Hang vor dem Gasthof von Kyoko Abe in den nordjapanischen Bergen zischt weißer Dampf aus der Erde. Überall blubbert es, gurgelt es, dampft es. Seltsame Gerüche ziehen vorbei. Wer nicht aufpasst, läuft Gefahr, in eines der glucksenden Löcher hinabzufallen, die sich schon mal mitten auf dem Weg auftun. Wolken und Nebelschwaden ziehen über den Hang und hüllen die wenigen verbliebenden Baumruinen ein, die Gespenstern gleich ihre kahlen Äste ausstrecken. Ein wenig gruselig, aber auch sehr urig. Kyoko Abe, die Wirtin des Gasthauses mit dem treffenden Namen „Fukenoyu“ – Dampfbad – kann sich nicht über einen Mangel an Gästen beklagen. Sie lieben es, beim in Japan so beliebten Bad in heißen Quellen („Onsen“) dabei zuzuschauen, wie neben den hölzernen Bädern am Hang Dampffahnen aufsteigen, die der Wind mit den Wolken vermischt.

Grundwassser von Magma erhitzt

Seit 400 Jahren zieht der Ort Badebegeisterte an – aber ob das auch in weiteren 400 Jahren noch möglich sein wird? „Ja klar“, sagt die Wirtin sofort. Die ältere Dame demonstriert Zuversichtlichkeit. Gleichzeitig fühlt sie ihre berufliche Existenz von zwei Seiten potenziell bedroht. Sie hat Angst, dass ihr im wahrsten Sinne des Wortes das heiße Wasser abgegraben wird. Denn nur je einen Kilometer entfernt stehen zwei Geothermie-Kraftwerke – Sumikawa, seit 1995 in Betrieb, und Ohnuma, seit 1974 am Netz.

Die Anlagen laufen mit heißem Dampf, der entsteht, wenn Grundwasser tief unter der Erde vom Magma im Erdinneren erhitzt wird. Über bis zu 2500 Meter tiefe Bohrlöcher wird der Dampf mechanisch ausgeleitet. Er treibt eine Turbine an, die Strom produziert. Während die Firma Mitsubishi Materials für die Dampfgewinnung zuständig ist, übernimmt der Stromkonzern Tohoku Electric Power die Stromherstellung. Das Wasser, das entsteht, wenn der Dampf abkühlt, wird inzwischen wieder in die Erde zurückgeleitet. Früher sei mit der Abwärme ein neu gebautes Schwimmbad geheizt worden, erklärt Yasuhiro Nagai von Hachimantai Geothermal, der örtlichen Betreiberfirma. Doch irgendwann blieben die Gäste weg. Das Bad hatte an Reiz verloren. Die schlechte Verkehrsanbindung und über vier Meter Schnee im Winter, die in der Präfektur Akita normal sind, taten ein Übriges.

Erdwärme „im eigenen Land hergestellt“

Derzeit verfügt Japan an 18 Standorten über 21 Geothermie-Kraftwerke, die eine Kapazität von rund 550 Megawatt haben. Das entspricht etwa fünf Prozent der Energie aus Erdwärme, die weltweit produziert wird. Obwohl die drei japanischen Firmen Toshiba, Fuji Electric und Mitsubishi Heavy Industries mehr als die Hälfte des Marktes für Geothermie-Turbinen kontrollieren, bezieht Japan nur 0,3 Prozent seines Stroms aus dem Dampf aus der Tiefe. Zum Vergleich: 550 Megawatt kann ein durchschnittlicher Atomreaktor erbringen, ein leistungsstarker mehr als die doppelte Menge.

Bild entfernt.Das Informationszentrum im Geothermie-Kraftwerk Sumikawa wirbt mit einem Video damit, dass die Energie aus Erdwärme „im eigenen Land hergestellt“ und erneuerbar sei und im Vergleich zu anderen Energieformen einen geringen CO2-Ausstoß verursache. Das Argument der Erneuerbarkeit stimmt jedoch nur zum Teil. Zwar ist die Erdwärme als solche unerschöpflich. Aber alle drei Jahre muss ein neuer Produktionsbrunnen gebaut werden, da die Dampfkraft an der jeweiligen Stelle von Jahr zu Jahr um etwa fünf Prozent nachlässt, erklärt Yasuhiro Nagai. Beim Rundgang übers Gelände zeigt er auf die silbernen Rohre, die den Dampf aus dem Untergrund befördern. „Berühren Sie die Rohre auf keinen Fall“, warnt er. Denn der Dampf kommt mit etwa 200 Grad aus der Erde.

Vorteile, Nachteile und Risiken

Mit jedem neuen Bohrloch fürchten sich „Onsen“-Betreiber wie Kyoko Abe, dass ihnen die Basis für ihren Lebensunterhalt geraubt wird. Deshalb blockieren sie Abstimmungen über neue Anlagen sogar präfekturübergreifend. Bisher konnte die Wirtin aber keine Änderung feststellen. „Es gibt in Japan keine Fälle, wo Geothermiekraftwerke die Wasserquellen von Onsen negativ beeinflusst hätten“, sagt Geothermie-Professor Noriyoshi Tsuchiya von der Universität Tohoku. Er erklärt, dass das Wasser für die Badequellen aus unterirdischen Reservoirs komme, die viel weniger tief lägen als jene für Erdwärmekraftwerke.

Ein Restrisiko bleibe jedoch bei solchen Bohrungen immer, so Tsuchiya. Niemand könne zu 100 Prozent sagen, was unter der Erdoberfläche vor sich gehe. In Neuseeland sei tatsächlich einmal eine heiße Badequelle einmal deshalb versiegt. Doch dort sei anders als in Japan keine ausführliche Umweltverträglichkeitsprüfung gemacht, veraltete Technik eingesetzt und zu viel Wasser gepumpt worden.
Der Geothermie-Experte nennt noch eine weitere Sorge, die viele Anwohner umtreibt: Die Bohrungen stehen in Verdacht, Erdbeben auszulösen. Die japanische Öffentlichkeit sei diesbezüglich inzwischen sehr empfindlich, so Tsuchiya. Entsprechend zeitaufwändig sei es, den Anwohnern genau zu erklären, welche Vor- und Nachteile sowie Risiken der Bau einer solchen Anlage mit sich bringen könnte.

Auch deswegen dauert es 10 bis 15 Jahre, bis ein Erdwärmekraftwerk in Betrieb genommen werden kann. Trotz der hohen Anfangskosten setze sein Unternehmen weiter auf Erdwärme, sagt Masahiro Chida vom Stromkonzern Tohoku Electric Power. Man wolle einen breiten Energiemix anzubieten. Der Vorteil gegenüber Wind- und Solarenergie sei, dass die Erdwärme wetterunabhängig und damit relativ gleichbleibend Energie liefere.

Angst vor Energieknappheit

Aller Bedenken zum Trotz hat sich seit dem Unglück am Atomkraftwerk Fukushima Daiichi in Japan die Einstellung zu erneuerbaren Energien und damit auch zur Geothermie gedreht. Nicht ganz freiwillig: Denn seit infolge der Katastrophe die meisten AKWs in Japan zu Prüfzwecken ruhen, geht die Angst vor Energieknappheit um. Da inzwischen zwei Drittel der Japaner gegen die Atomkraft sind, werden in absehbarer Zeit keine Reaktoren mehr angefahren werden können. Der letzte ging am 16. September vom Netz. Teure Energieimporte, die zum Ausgleich des Energiedefizits nötig wurden, belasten seit der Katastrophe vor zweieinhalb Jahren die Handelsbilanz.

Das zwang die Regierung zum Umdenken. Das Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie gab im April 2013 den Plan bekannt, in der näheren Zukunft mindestens 21 Geothermie-Projekte anstoßen zu wollen, darunter auch kleine Anlagen. Bisher sind in der Präfektur Akita zwei neue Anlagen in Planung, drei weitere im Rest des Landes. Ermöglicht wurde dies auch durch gelockerte gesetzliche Bestimmungen, die seit 1999 den Bau weiterer Anlagen verhindert hatten. Jetzt können die Betreiber, deren Anlagen zum Beispiel in Akita direkt neben einem Nationalpark stehen, diagonal unter der Grenze hindurch in das Nationalparkgebiet bohren.

Anreize zum Ausbau erneuerbarer Energien

Lange hatte die Atomkraft in Japan die oberste Priorität. Aber mit den neusten Energiegesetzen könnte die „verlorene Dekade“ für die Geothermie in Japan, wie Professor Tsuchiya die Zeit seit dem letzten Erdwärmekraftwerk 1999 nennt, zu Ende gehen. Nicht zuletzt locken finanzielle Anreize: „Mit der Einführung der Einspeisungstarife lohnen sich jetzt auch sehr kleine Projekte“, sagte ein Vertreter des Ministeriums im April. Seit dem Gesetz über die Einspeisungstarife im Juli 2012 bekommen große Anlagen mit einer Kapazität von 15 Megawatt und mehr 27,3 Yen pro Kilowattstunde, kleinere Anlagen 42 Yen, beide für 15 Jahre.

Masamichi Hashiguchi, Energie-Experte und Vize-Gouverneur der Präfektur Akita, begrüßt die Einführung des Einspeisungsgesetzes im Juli 2012, „es wurde auch Zeit“. Den Engpass für den Ausbau erneuerbarer Energien in Japan sieht er vor allem in einem Mangel an Starkstromleitungen zu den meist abgelegenen Gebieten, an denen aus Erdwärme oder Windkraft Energie gewonnen wird.

Die japanische Regierung hofft, durch Anreize zum Ausbau erneuerbarer Energien Japan unabhängiger von die Handelsbilanz belastenden Energieimporten zu machen. Auf Basis der Anzahl aktiver Vulkane berechnet, habe Japan zufolge das drittgrößte Potenzial für Geothermie, nach USA und Indonesien, so Professor Tsuchiya. Mit 23.500 Megawatt verfüge die Inselnation auf dem pazifischen Feuergürtel über fast fünfmal so viel Erdwärme wie Island und fast zehnmal so viel wie Italien, zitiert er eine Studie von 2005. Könnte Japan dieses Potenzial vollständig nutzen, würde die Energie aus dem Erdinneren zwanzig Atomreaktoren ersetzen.