Europas Jugend in Bewegung: Eine Dokumentation

Europas nicht nur wirtschaftliche sondern auch moralische Krise, ihre Ursachen und Konsequenzen – wohl kaum eine andere Frage hat die nationalen Medien, Zivilgesellschaften und politischen Debatten in den vergangenen Jahrzehnten so sehr geprägt. Rückbesinnung auf nationale Lösungen, oder mehr europäische Solidarität und damit auch Kompetenztransfer nach Brüssel? Eigeninitiative oder verstärkter Druck auf die Brüsseler Institutionen? Welche innovativen wirtschaftlichen Perspektiven gibt es angesichts einer galoppierenden Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa? Zwischen Opfern der Dauerkrise, engagierten jungen Europäern, findigen Jungunternehmern, EU-Politikern und Wissenschaftlern aus den Think Tanks gehen die Meinungen darüber auseinander.

In der Diskussion über das „Solidarische Europa und Europas Jugend“ im Rahmen der Konferenz „Europas Zukunft – Europas junge Generation“ in der Heinrich-Böll-Stiftung wurde die Bandbreite der Einschätzungen und Lösungsperspektiven unmittelbar erlebbar: Zunächst hinterfragte die italienische Wissenschaftlerin Ilaria Maselli vom Centrr for European Policy  Studies in Brüssel den Begriff der Jugendarbeitslosigkeit. Statistisch gesehen, so Marselli, sei die Jugendarbeitslosigkeit in Europa weitaus geringer als oft behauptet und nur „eine Erscheinungsform der allgemeinen Arbeitslosigkeit unter vielen“. Laut Eurostat-Angaben betrage die Arbeitslosenrate beispielweise unter spanischen Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren demnach nicht, wie oft behauptet, über 50 Prozent, sondern bewege sich um die 30 Prozent. Alle Maßnahmen, die allein darauf zielten, die Jugend- und nicht die allgemeine Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, seien „wirtschaftspolitisch sinnlos.“

Ausgeschlossen von Arbeitsmarkt- und Bildungssystem

Mit ihrer Analyse sorgte Maselli für entschiedene Reaktion auf dem Podium und im Publikum der Berliner Konferenz.

Der Grieche Michalis Goudis, der sich bei CECODHAS Housing Europe für öffentlichen, sozialen und kooperativen Wohnungsbau einsetzt, hielt dagegen, dass die Jugend seines Landes nicht nur vom Arbeitsmarkt, sondern auch vom Bildungssystem ausgeschlossen sei. Die griechischen Universitäten litten infolge des rigiden Spardiktats der Troika (EU-Kommission, EZB, IWF) unter einem dramatischen Finanzierungsdefizit. Ohne Ausbildung kein Job und keine Zukunft, so Goudis. Ähnlich wie im Krisenstaat Spanien lebe ein Großteil der jungen Griechen wegen der finanziellen Notlage infolge der Austeritätspolitik bei ihren Eltern, was dem Menschenrecht auf Wohnen zuwiderlaufe.

Die polnische Journalistin und Aktivistin Marcelina Zawisza gab zu bedenken, dass Europas Jugend aufgrund der unsicheren Lage auf dem Arbeitsmarkt de facto vom Sozialsystem ausgeschlossen sei. Der gesetzliche Mindestlohn von umgerechnet zwei Euro und die äußerst unsicheren Anstellungsverhältnisse in Polen brächen mit einer Tradition, die ihr Land seit der Solidarnosz-Bewegung pflege. Die Aufforderung aus Brüssel, man müsse auf die Unsicherheiten am heutigen Arbeitsmarkt flexibler und mobiler reagieren, lehnt Zawisza ab: die Jugend ihres Landes sei keine „Ressource“, sondern es gehe um Menschen mit Familien und sozialer Verankerung. Mobilität und Flexibilität müssen für Marcelina Zawisza stets eine freie Entscheidung, nie aber der letzte mögliche Ausweg aus der Notlage am Arbeitsmarkt sein.

Ein neues europäisches Wirtschaftsmodell durch die Förderung innovativer Technologien

Der Vorsitzende der Europäischen Grünen Partei, Reinhard Bütikofer, forderte auf dem Podium angesichts solcher Skepsis gegenüber der Brüsseler Politik umso entschiedener eine europäische Lösung: nicht das sechs Milliarden Euro schwere „Jugendgarantie“-Programm, das die Staats- und Regierungschefs im Juni 2013 zur Jobvermittlung in Europa verabschiedet haben, allein sei die Lösung. Dessen Wirksamkeit hängt für Bütikofer zu stark von der Effizienz der Institutionen im jeweiligen Land ab. Realistische neue Impulse und eine europäische Solidaritätspolitik gegen Jugendarbeitslosigkeit und für mehr Jobsicherheit – dieses Ziel erreiche man nicht durch eine europäische Finanzmarktsteuer, ein EU-weites Grundeinkommen oder eine gemeinsame Steuerpolitik. Der Chef  der europäischen Grünen fordert vielmehr ein neues europäisches Wirtschaftsmodell und die Förderung innovativer Technologien in den Bereichen Verkehr und Energie. Durch technologische Forschung, eine nachhaltige Werteproduktion und die Förderung des Handwerkssektors könne Europa neue Arbeitsmärkte erschließen und sich langfristig als stabiler Wirtschaftsstandort etablieren.

Wie abseits politischer Zukunftsvisionen die konkrete Realität in den EU-Mitgliedsländern aussieht und welche Erwartungen beziehungsweise Hoffnungen und Enttäuschungen gerade junge Menschen mit der EU verbinden, war auf der Konferenz in spontanen Gesprächen und an den jeweiligen „Ländertischen“ zu erfahren. An den Ländertischen  stellten viele der 60 Europäerinnen und Europäer, die von der Heinrich-Böll-Stiftung und ihren Kooperationspartnern European Alternatives, Federation of Young European Greens (FEYEG) und Junge Europäische Föderalisten (JEF) zur Konferenz nach Berlin eingeladen wurden, die Situation in ihren Heimatländern vor. Präsentation von Defiziten und Erwartungen, Artikulation von Perspektiven und ein transeuropäischer Austausch darüber – das war schließlich auch das Ziel der Konferenz.

Die Erwartungen an Europa: Wohnen, Bildung, Arbeit.

Michalis Goudis zum Beispiel, der nicht nur für CECODHAS Housing aktiv ist, sondern sich zugleich in der Initiative „Thessaloniki in a different way“ in seiner Heimatstadt mit Festivals, Konferenzen und öffentlichen Interventionen für die Vermittlung zwischen jungen Kreativen und der Wirtschaft einsetzt, brachte seine Erwartungen an Europa wie folgt auf den Punkt: Wohnen, Bildung, Arbeit. Für Goudis entstehen wirtschaftliche Stabilität und soziale Sicherheit aber nicht nur über Subventionsprogramm wie die „Jugendgarantie“ des Europäischen Rates. „Wir müssen als Gesellschaft wieder zusammenfinden, und erkennen, wie wir unsere Potentiale zusammen nutzen können.“

Seine „urban activism group“ organisiert seit drei Jahren zahlreiche Events, bei denen sich beispielsweise Vertreter der Stadtverwaltung mit jungen Kreativen auf Jobsuche treffen, um gemeinsam zu entdecken, wo junge ungenutzte Potentiale eingesetzt werden und welche Räume in der Öffentlichkeit für innovative Projekte genutzt werden können. Im Hafen von Thessaloniki, der mangels Auslastung zunehmend verwaist, sind so neue Ausstellungshallen und kreative Treffpunkte für alle Gesellschaftsgruppen entstanden. „Eine gesunde Stadt braucht Menschen, die zusammenkommen!“, meint Goudis.

Junge Protestwähler in Frankreich

Am Ländertisch Frankreich erklärte derweil die 23jährige Claire Darmé von den Jungen Europäischen Föderalisten, wie die Politik ihres Land derzeit von Parteiskandalen und Intrigen zerrissen wird, und was der neuerliche Erfolg des rechtsextremen Front National über die Sicht der Franzosen auf Europa aussagt. Die junge Französin kehrt gerade von einem einjährigen Studienaufenthalt in Cambridge zurück und hat eine feste Überzeugung im Gepäck: „Weil Europa nicht immer gut funktioniert, wollen einige weniger davon. Wir dagegen wollen mehr!“

Laut aktueller Umfragen sind die jungen Franzosen politisiert wie schon seit langem nicht mehr. Allerdings herrsche die Einstellung des „tous pourris – alle sind verdorben“ vor, das Vertrauen in die nationalen und europäischen Institutionen sei derzeit auf einem Tiefpunkt angelangt, so Darmé. Immerhin 30 Prozent der Stimmen für den rechtsextremen Front National, der bei den letzten Kantonalwahlen im Département Var in Südfrankreich erschreckend erfolgreich war, stammten von jungen Franzosen –gleiches gelte perspektivisch auch für die kommenden Europawahlen. Der Zulauf für die Rechtsextremen sei dabei nicht gleichzusetzen mit Europafeindlichkeit, meint Claire Darmé, sondern sei als Protest zu verstehen und als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der politischen Klasse in Paris und auch in Brüssel. Ein erstes Ziel, um das Vertrauen der französischen Jugend in Europa zurückzugewinnen, hat Claire Darmé auch auf die Flipchart an ihrem Ländertisch geschrieben: „Ein soziales Europa ist möglich.“ Durch mehr Integration, institutionelle Reformen und direktere Bürgerbeteiligung wäre ein europäischer Mindestlohn durchsetzbar. „Allerdings fehlt es bisher noch am guten Willen der Bürger und der Politiker“, räumt die Französin ein.

Angesichts der Krise ist den jungen Mazedoniern die Lust auf die EU vergangen

Am Ländertisch Mazedonien präsentierte Ivana Jordanovska ein noch kritischeres Bild ihres Landes und seiner europäischen Perspektive. Die 22jährige Politikwissenschaftlerin hat gerade ihr Studium der „Transatlantic relations“ an der Hochschule Science Po in Paris abgeschlossen und sucht seit Mai 2013 vergeblich einen Job. „Einen der begehrten Posten in der Verwaltung zu bekommen, ist ohne politische Seilschaften in Mazedonien so gut wie unmöglich“, meint Jordanovska, die Mitglied der Jungen Europäischen Föderalisten ist, aber keiner Partei angehört. Die ex-jugoslawische Republik Mazedonien unterhält seit 2005 den Status des EU-Beitrittskandidaten. „Vor der Krise hat man die EU-Perspektive vor allem mit Geld und Arbeitsplätzen verbunden. Mittlerweile ist der Jugend in Mazedonien mit Blick auf Länder wie Griechenland und Spanien die Lust auf die EU vergangen. Die meisten träumen jetzt von einem sicheren Job in der mazedonischen Verwaltung.“

Gleich drei wichtige Problemfelder wurden derweil am spanischen Tisch aufgezeigt: Demokratie, Ökologie und Ökonomie. Inés López-Dóriga ist 24 Jahre alt und Mitbegründerin der neuen grünen Partei Spaniens Red Equo Joven (RQJ): „Die Regierung und das Königshaus werden immer wieder von Korruptionsskandalen erschüttert. Friedliche Demonstrationen gegen die Sparpolitik werden dagegen als gewalttätige Ausschreitungen diskreditiert. Wir sagen: 600 Euro im Monat zu verdienen, das ist ein Gewaltakt“, erklärt die junge Frau energisch.

Ökologisches Dilemma in Spanien

Aus ökologischer Sicht leide Spanien nicht nur unter einem Ministerpräsidenten, der den Klimawandel leugnet, und den Folgen des Baubooms, der viele Küstenregionen zerstört habe. „Spanien ist das sonnenreichste Land Europas und importiert 75 Prozent seiner Energie, davon 85 Prozent aus konventionellen Quellen.“ Auch was den Arbeits- und Ausbildungsmarkt angeht steht es laut Inés López-Dóriga nicht gut um ihr Land: Bei  einer Jugendarbeitslosigkeit von nach ihren Angaben 57 Prozent und der zunehmenden Abwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte ins EU-Ausland sind infolge des Brüsseler Spardiktats die Kosten für ein Universitätssemester in zwei Jahren um 60 Prozent gestiegen. „80 Prozent der unter 30jährigen sind von ihren Eltern abhängig. Die jungen Menschen fühlen sich nicht ernst genommen, weder von der Regierung noch von Brüssel“, stellt Inés López-Dóriga fest.

„Wir müssen aus der Passivität heraus und individuelle Lösungen finden“ glaubt auch ihr Landsmann Eduardo Ocaña. Der 23jährige Wirtschaftswissenschaftler sucht derzeit einen Job als Journalist und hat vor drei Jahren die Organisation „Jugend ohne Zukunft“ mit gegründet. Die Initiative organisiert in sozialen Netzwerken einen neuen politischen Diskurs der jungen Generation, ruft zu Demonstrationen gegen die verheerenden Folgen der Sparpolitik auf, bietet kostenlose Arbeitsrechtsberatung und vernetzt rund 8000 junge Spanier, die derzeit im EU-Ausland einen Job suchen. Der Name seiner Organisation sei nur ein Slogan, sagt Eduardo verschmitzt. Die eigentliche Botschaft sei: „Ihr seid nicht allein, wir protestieren zusammen!“

Neue Impulse durch grüne Ideen

Inwiefern individuelle Lösungen einen realen Ausweg aus der strukturellen Krise bieten können, erklärte dann am Nachmittag der Grieche Kostas Terzopoulos in der Diskussion über „Grüne Ökonomie als Weg aus der EU-Krise“. Zwei Jahre lange suchte der ehemalige Radiotechniker vergeblich einen Job, bis er selbst eine innovative Idee umsetzte: Mit seiner Wirtschaftskooperative „GreenWays Social Cooperative Enterprise“ setzt er sich heute erfolgreich für den Ausbau der Radwege in Griechenland ein. Er berät Kommunen und auch die Tourismusbranche zur Entwicklung des Fahrradsektors, bietet Sicherheitstraining in Schulen an und veröffentlicht Kartenmaterial und Radführer.

Wie über grüne Inhalte gerade in ländlichen Regionen eine neue gesellschaftliche Solidarität befördert werden kann, zeigte auf der Europa-Konferenz in der Böll-Stiftung unter anderem der 27jährige Pieter Ploeg aus Schweden. Mit seiner Initiative „Summer of Soil“ sorgte er in der Kommune Järna unweit von Stockholm mit Ausstellungen, Workshops und einer Konferenz zum Thema „Living Soil“ für ein neues gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für den nachhaltigen ökologischen Schutz der Bodenqualität. Mit den europäischen Institutionen arbeitet er zwar inhaltlich zusammen, hat aber auf eine finanzielle Subventionierung aus dem Regionalfonds verzichtet, um den langwierigen Bewerbungsverfahren und dem immensen bürokratischen Aufwand aus dem Wege zu gehen. „Ich will flexibel und unabhängig von Institutionen bleiben“, meint der nachdenkliche Niederländer. Im nächsten Jahr will er mit seiner Idee in Spanien Fuß fassen.

Das EP: ein Feigenblatt zur Kaschierung des europäischen Demokratiedefizits

In der Abschlussdiskussion über ein „Demokratisches Europa und Jugend in Bewegung“ wurde dann erneut die Divergenz zwischen den konkreten Anliegen der europäischen Bürger und der institutionellen Realität der EU-Bürokratie deutlich. Während der Spanier Eduardo Ocaña von „Jugend ohne Zukunft“ feststellte, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament die meisten Spanier schlicht nicht interessierten und das Parlament eigentlich „ein Witz“ sei, bestätigte der  grüne Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht, dass man sich als EP-Abgeordneter tatsächlich wie ein Feigenblatt zur Kaschierung des europäischen Demokratiedefizits fühle.

„Viele Bürger sind pro-europäisch aber anti-EU eingestellt.“

„Die nationalen Parlamente müssen die Diskussionen im Europäischen Parlament in die Mitgliedsländer tragen, damit die Bürger stärker beteiligt werden“, forderte Albrecht. Die Einrichtung der „Europäischen Bürgerinitiative“, mit der eine Million EU-Bürgerinnen und Bürger die Europäische Kommission auffordern können, sich mit bestimmten politischen Themen zu befassen, sei ein kleiner, aber wirkungsvoller Schritt in Richtung mehr direkter Teilhabe, so Albrecht. Immerhin habe man auf diesem Weg bis heute den Verkauf des griechischen Wassersystems an einen privaten Investor aufhalten können, obwohl die Troika dies im Rahmen der Sparmaßnahmen verlangt hatte.

„Es sieht schlecht aus, aber es ist nicht hoffnungslos“ stellte Daniela Schwarzer, Wissenschaftlerin in der Stiftung Wissenschaft und Politik zum Vertrauensverlust der EU-Bürger in die Brüsseler Institutionen fest. „Viele Bürger sind pro-europäisch, aber anti-EU eingestellt.“ Und diese Einschätzung kann zugleich alles Tenor der Konferenz gelten: Die Dauerkrise und die Enttäuschung vieler junger Menschen über die EU schmälert offensichtlich mitnichten das Interesse an trans-europäischem Austausch über alternative Lösungsideen und einen produktiven Reformdruck für mehr demokratische Teilhabe in den EU-Institutionen. Europas Zukunft ist immerhin ihre eigene Zukunft.