Politisches Erdbeben in Tschechien: Absage an etablierte Parteien

Es geht um das schlechteste Ergebnis eines Wahlsiegers in der Geschichte der Tschechischen Republik. Fast alle etablierten Parteien erlitten Verluste und die Wahlbeteiligung war eine der niedrigsten seit 1989.

Wenzelsplatz in Prag
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Der Wenzelsplatz in der Mitte von Prag

Die Ergebnisse der vorgezogenen Neuwahlen in Tschechien kommen einem Erdbeben gleich, das die politische Landschaft neu ordnet: Ins Parlament ziehen sieben Parteien ein, wobei die Sozialdemokraten mit 20,5 Prozent stärkste Partei wurden. Es geht um das historisch schlechteste Ergebnis eines Wahlsiegers in der Geschichte der Tschechischen Republik. Fast alle etablierten Parteien verzeichneten Verluste. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 60 Prozent eine der niedrigsten seit 1989.

 

Tabelle: Die Wahlergebnisse im Vergleich zu 2010 im Überblick (nur Parteien, die 2013 über 1% erzielten)
Daten: Český statistický úřad, siehe www.volby.cz

 

Pyrrhussieg der Sozialdemokraten

Nach sieben Jahren in der Opposition ist dieses Wahlergebnis für die Sozialdemokraten alles andere als ein Erfolg. Vor einigen Monaten lagen sie in Umfragen noch über 30 Prozent. Im Vergleich zu 2010 verlor die ČSSD nun sogar 6 Mandate (von insgesamt 200 Mandaten im Abgeordnetenhaus). Die Bürgerdemokraten ODS, von 2010 bis 2013 stärkster Regierungspartner, büßten im Vergleich zu den letzten Wahlen fast Zweidrittel der Stimmen und insgesamt 37 Mandate ein. 2006 vereinte die ODS noch über 35 Prozent der Stimmen auf sich, 2013 nur noch knapp 8 Prozent. Auch ihr Koalitionspartner, die TOP 09, verzeichnete einen Verlust von fast 5 Prozentpunkten. Dennoch bewertet der Parteivorsitzende Karel Schwarzenberg das Ergebnis als Erfolg. Die TOP 09, so der Wortlaut einer Presseerklärung, habe das stärkste Mandat zur Verteidigung konservativer Werte. Schwarzenberg erhielt außerdem die meisten Präferenzstimmen aller angetretenen Kandidatinnen und Kandidaten. Die ehemalige Regierungspartei VV (Öffentliche Angelegenheiten) trat nach einigen Korruptionsskandalen und parteiinternen Konflikten, die zu deren Spaltung führten, bei diesen Wahlen nicht mehr an (2010: 10,9 Prozent). Mitglieder der VV fand die Wählerschaft auf der Liste der erst im Mai 2013 gegründeten Partei des rechtspopulistischen Senators und Unternehmers Tomio Okamura wieder, die mit 6,9 Prozent erstmals den Einzug ins Parlament schaffte. Die einzige Partei, die in der letzten Legislaturperiode im Abgeordnetenhaus vertreten war und dazugewann, ist die Kommunistische Partei, die sich bis heute nicht reformiert und nie klar von ihrer Vergangenheit distanziert hat. Ihre Fraktion wird sich um 7 Abgeordnete vergrößern. 
 

Wahlsieger Andrej Babiš: Der Staat als Unternehmen

Schon seit Wochen zeichnete sich ab, wer der eigentliche Sieger dieser Wahlen sein wird: Dem Großunternehmer Andrej Babiš ist es gelungen, mit seiner erst vor kurzem gegründeten Bewegung ANO aus dem Stand zweitstärkste Kraft im Abgeordnetenhaus zu werden – er erzielte 18,7 Prozent (das Kürzel ANO steht für „Aktion unzufriedener Bürger“ und bedeutet im Deutschen „Ja“). ANO verfügt im neuen Abgeordnetenhaus über 47 Mandate, die Sozialdemokraten haben nur drei Mandate mehr. In vier von insgesamt 14 Wahlkreisen wurde ANO stärkste Kraft (die Sozialdemokraten gewannen neun Wahlbezirke, die TOP 09 die Hauptstadt Prag). Babiš gründete ANO 2011 als eine Bürgerinitiative, seit 2012 ist ANO als politische Bewegung registriert. Babiš ist deren Vorsitzender, Eigentümer des tschechischen Agrar- und Chemieunternehmens Agrofert sowie seit 2013 auch Besitzer des größten tschechischen Medienkonzerns Mafra, der die Tageszeitungen Mladá fronta Dnes und Lidové noviny herausgibt. Ausländische Medien beschreiben Babiš seither gerne als „tschechischen Berlusconi“. Das Ergebnis seiner Partei ist zwar nicht überraschend, da Umfragen diesen Trend schon seit Wochen vorhersagten. Womit aber niemand gerechnet hat, ist, dass der Abstand zu den Sozialdemokraten so gering ausfallen würde. Die Tatsache, dass eine brandneue politische Bewegung ohne politische Erfahrungen auf kommunaler Ebene einen derartigen Erfolg einfahren konnte, ist für tschechische Verhältnisse ungewöhnlich. Dabei ist Andrej Babiš alles andere als ein politisches Naturtalent. In Fernsehduellen war er rhetorisch nur wenig überzeugend und wirkte oft unbeholfen. Das Wahlprogramm seiner Partei ist mehr als dürftig. Protestwählerinnen und -wähler fühlten sich anscheinend durch seine Antipolitik-Kampagne angesprochen. Mit Slogans wie „Wir sind nicht wie die Politiker. Wir schuften.“ und „Klare Regeln für alle“ erreichte Babiš eine unzufriedene und desillusionierte Wählerschaft, die nicht mehr daran glaubt, dass Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien das Land transparent führen können. Im Kontext des zunehmenden Misstrauens gegenüber der Politik als solche scheint die Risikobereitschaft der tschechischen Wählerschaft extrem hoch zu sein, sich auf Alternativen mit unsicherem Verlauf und Ziel einzulassen.
 

Ein Milliardär füttert das Land

Die amerikanische PR-Agentur PSB stand Babiš in seiner Kampagne beratend zur Seite. Andrej Babiš ließ das ganze Land mit seinen Wahlplakaten tapezieren und versüßte den Wahlberechtigten mit Berlinern und Eis die Qual der Wahl. Inmitten des Wahlkampfs war in den meisten Fernsehsendern ein Werbespot zu sehen, der die Fleischprodukte des ANO-Spitzenkandidaten preist. Er zeigt Babiš mit Schürze hinter einem Tresen, wie er dem nationalen Eishockeyheld Jaromír Jagr einen gegrillten Hühnerschenkel reicht. Der erfolgreiche Unternehmer Babiš, so die Nachricht, füttert väterlich und anspruchslos die ganze Nation mit glücklichen, saftigen und heimischen Produkten. Hinter seiner Bewegung stehen, das betonte er im Wahlkampf vor laufenden Kameras gerne und oft, viele einflussreiche tschechische Unternehmen, die seine Kampagne mitfinanzierten. In den Medien verkündeten einige Geschäftsmänner ihre Hoffnung, dass Babiš die Bedingungen für einen schlanken Staat schaffen werde. Aus Unternehmerkreisen waren auch Stimmen zu hören, die ihm helfen möchten, sein politisches Auftreten zu professionalisieren. Es ist erstaunlich, dass die tschechische Wählerschaft gerade auch im Kontext der politischen Krise, die durch eine Reihe von Korruptionsskandalen verursacht wurde, nicht skeptischer gegenüber der Person Babiš ist, der den Staat nach eigenen Aussagen wie ein Unternehmen führen will. Vor 1989 war er Mitglied der Kommunistischen Partei. Ausgeschlossen ist bisher außerdem nicht, dass er der tschechoslowakischen Staatssicherheit zuarbeitete, auch wenn Babiš dies heute bestreitet und in diesem Zusammenhang Klage gegen das slowakische „Institut des nationalen Gedächtnisses“ erhoben hat. Vielmehr argumentieren viele Bürgerinnen und Bürger, dass sein Vermögen ihn unangreifbarer machen werde als andere Politikerinnen und Politiker, da er nicht auf Geld angewiesen sei. Von Bedenken bezüglich möglicher Interessenkonflikte keine Spur.   
 

Rechtsradikale Rhetorik der Partei „Morgendämmerung“ 

Besonders alarmierend ist der Erfolg des Senators Tomio Okamura, dessen rechtsradikale Rhetorik der letzten Monate vielen Wählerinnen und Wählern zu imponieren scheint. Im Juni 2013 sorgte Senator Okamura mit dem Text „Die Zigeuner sollten sich um einen eigenen Staat bemühen. Helfen wir ihnen dabei.“ für Schlagzeilen. In der Einleitung zu diesem Text schreibt er, dass es „nicht die Schuld der Neonazis, Tschechen oder Türken“ sei, dass „Zigeuner“ heute „abwertend wahrgenommen“ würden. Dies sei, so Okamura, „die Schmach der Zigeuner“. Okamura argumentiert in diesem Text, dass „Zigeuner“ das Recht auf einen eigenen Staat hätten und die Tschechische Republik „die Auswanderung der Zigeuner demokratisch unterstützen“ solle. Okamura schlägt als Zielort Indien vor, da aus dieser Region die „Vorfahren der Zigeuner“ stammen würden. Die Tatsache, dass Roma tschechische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind, die seit Jahrhunderten in Tschechien zu Hause sind, interessiert Okamura nicht. Bewusst nutzt er die eskalierende Romafeindlichkeit der letzten Monate für seine politischen Ambitionen und schürt mit seinen rassistischen Äußerungen, die von tschechischen Medien veröffentlicht werden, Hass. Mit Sorge kommentieren Menschenrechtsorganisationen den Einzug seiner Partei „Morgendämmerung der direkten Demokratie“ ins Parlament. Sein Mandat im Senat muss Okamura niederlegen.    
 

Grüne nicht im Parlament vertreten

Nach ihrer Regierungsbeteiligung von 2007 bis 2009 schafften 2010 zwei Parteien nicht mehr den Einzug in Parlament: die Christdemokraten (KDU-ČSL) und Grünen (SZ). Der KDU-ČSL, die zu den mitgliedsstärksten Parteien Tschechiens gehört, ist es gelungen, die Fünfprozenthürde wieder zu überspringen. Die tschechischen Grünen haben dies leider nicht geschafft. Kleiner Trost: Die Grünen haben im Vergleich zu 2010 leicht dazugewonnen, im Wahlkreis Prag erzielten sie 6,5 Prozent (2010: 4,8 Prozent). Vom Staat bekommen sie nach dieser Wahl „Mittel für die Tätigkeiten der Partei“ (um diese zu erhalten, muss eine Partei mindestens drei Prozent erreichen).  Die SZ ist die einzige außerparlamentarische Kraft, der dies gelungen ist. Umfragen der letzten Wochen zeigten, dass das Potenzial der Grünen über fünf Prozent liegt. Warum es nicht geglückt ist, trotz klarer programmatischer Prioritäten und einer Wahlkampagne, die von vielen Medienexperten als die beste Kampagne bezeichnet wurde, mehr Wahlberechtigte davon zu überzeugen grün zu wählen, müssen und werden die tschechischen Grünen nun analysieren. Ausschlaggebend für die Entscheidung der Wählerschaft dürfte vor allem die Tatsache gewesen sein, dass sich eine beachtliche Anzahl von Parteien um die Fünfprozenthürde sammelte und die Angst vor der verlorenen Stimme gerade auch im Kontext der vor den Wahlen sehr unübersichtlichen Parteienlandschaft besonders hoch war. Wahrscheinlich haben die Grünen auch potenzielle Stimmen an die Piratenpartei verloren. Die renommierte Politologin Vladimíra Dvořáková meinte nach der Wahl, das Ergebnis der Grünen sei keine Katastrophe, da durch die staatliche Parteifinanzierung die zukünftige Arbeit der Grünen abgesichert sei. Das Ergebnis zeige, dass die Grünen in Tschechien keine absolut marginalisierte Kraft seien.
 

Präsident Zemans Misserfolg

Die Partei SPOZ (Partei der Bürgerrechte-Zemanovci), die den Namen des Staatspräsidenten trägt und deren Ehrenvorsitzender Zeman ist, erreichte in den letzten Umfragen Werte, die einen Einzug ins Parlament als möglich erscheinen ließen. Das extrem schlechte Abschneiden der Partei, die offiziell von Präsident Zeman unterstützt wurde, ist eine weitere Überraschung dieser Wahl. Fünf Minister der Übergangsregierung, die Zeman – erst seit März 2013 im Amt – im Alleingang ernannte, kandidierten für diese Partei. Die Tatsache, dass sie nur 1,5 Prozent erzielte, macht deutlich, dass die Bürgerinnen und Bürger keine Partei im Abgeordnetenhaus möchten, die direkte Verbindungen zur Prager Burg hat. 2010 erhielt die SPOZ immerhin über 4 Prozent. Auch die 2013 gegründete Partei, die der ehemalige Präsident Václav Klaus unterstütze (Hlavu vzhůru! – Kopf hoch!), schloss mit ihren euroskeptischen Slogans extrem schlecht ab (0,4 Prozent).  
 

Krise der Sozialdemokratie: Handlungsspielraum für Zeman

Klar ist: Ohne den politischen Newcomer ANO ist eine Regierungsbildung eigentlich unmöglich. Die Sondierungsgespräche werden für die Sozialdemokraten kompliziert werden. Die Hoffnung der ČSSD, nach den Wahlen eine Minderheitsregierung unter Duldung der Kommunisten zu bilden, hat sich nach diesem Ergebnis in Luft aufgelöst. Der Parteivorsitzende der Sozialdemokraten Bohuslav Sobotka muss nicht nur das schlechte Ergebnis erklären und verteidigen, er muss sich nun auch dagegen wehren, dass ihm die Mehrheit des Parteivorstands nahe gelegt hat zurückzutreten. Nach Medienberichten fuhr noch am Samstagabend eine Gruppe von ČSSD-Politikern rund um den statutarischen Vertreter Michal Hašek zum Präsidenten und bereitete den Sturz von Sobotka vor. Michal Hašek, der Zeman nahe steht, betonte, dass er bei einem derartigen Ergebnis sofort seinen Rücktritt angeboten hätte.  Am Sonntag wurde Sobotka von der Mehrheit des Vorstands das Mandat entzogen, die Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen zu führen, er wurde aus dem Verhandlungsteam ausgeschlossen. Präsident Zeman forderte Sobotka ebenfalls auf, den Vorsitz niederzulegen. Schon seit Monaten mischt sich Zeman in parteiinterne Konflikte der Sozialdemokraten ein. Ein Wunsch des Präsidenten ging somit in Erfüllung: Er hat die ČSSD und insbesondere ihren Parteivorsitzenden extrem geschwächt. Am Montag riefen sozialdemokratische Wählerinnen und Wähler über Facebook zu einer Protestveranstaltung gegen die jüngsten Entwicklungen in der ČSSD bei dem T. G. Masaryk-Standbild vor der Prager Burg auf. Am 28. Oktober feiert die Tschechische Republik die Gründung der Tschechoslowakei.
 

Sagt ANO „Ja“ zur Regierungsbildung?

Vor der Wahl betonte Andrej Babiš, er könne sich eigentlich nicht vorstellen, mit den Sozialdemokraten in einer Regierung zusammenzuarbeiten, da die ČSSD Steuererhöhungen fordere. Unmittelbar nach der Wahl signalisierte er, dass er Koalitionsverhandlungen mit der ČSSD  und KDU-ČSL nicht ausschließen werde. Er unterstrich dabei, dass sich ANO anders als die „klassischen Parteien“ verhalten werde und es seiner Bewegung nicht um Posten gehe. Am Tag nach der Wahl sagte er selbstbewusst, dass er mit Sorge beobachte, wie sich die Sozialdemokraten verhalten, dass sie die politische Situation im Land destabilisierten und es der ČSSD als eine der „Post-1989-Parteien“ nur um Geld und Macht gehe. Am liebsten, so Babiš in einem Interview für Aktuálně.cz, würde er ein Referendum zur Frage abhalten, ob sich ANO an der Regierung beteiligen oder in die Opposition gehen sollte – aber er wisse natürlich, dass dies nicht möglich sei. Auch zu Europa bezog er Stellung: Er sei gegen eine Euro-Einführung, ANO wolle auch keine tiefere Integration, keine weitere Bürokratie aus Brüssel, wohl aber dafür sorgen, dass die „unterstützenden Fonds aus Brüssel“ effektiv genutzt werden – vor allem für die Verkehrsinfrastruktur im Land. Im letzten Fernsehduell vor der Wahl sprach er schon davon, dass er sich im Falle einer Regierungsbeteiligung für den Posten des Finanzministers „opfern“ würde. Ob es Babiš allerdings gelingen wird, seine 47 Abgeordneten im Parlament als eine politische Kraft mit einer klaren politischen Stimme zu etablieren und als Fraktion zusammenzuhalten, steht in den Sternen.