„Das Schlimmste ist, dass dich keiner wahrnimmt“

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Obdachloser, Prenzlauer Berg 2012

„Straßenzeitungsverkäufer nerven mich beim Bahnfahren“, sagt Carsten Voss. Damit ist er wohl kaum alleine. Trotzdem ein ungewöhnliches Geständnis – denn vor zwei Jahren hat Carsten Voss selbst auf der Straße gelebt.

Bettler, Straßenmagazin-Verkäufer, Punks: Obdachlosigkeit ist in Berlin nicht zu übersehen. Man ist genervt, beschämt, verspürt Mitleid, aber weiß nicht, wie man reagieren soll. Dagegen hilft nur Konfrontation - haben sich einige junge Berliner Akademiker und Akademikerinnen gedacht. Seit Anfang dieses Jahres bieten sie unter der Marke "Querstadtein" Stadtrundgänge mit ehemaligen Obdachlosen an. Einer von drei Stadtführern ist Carsten Voss. Er zeigt Orte Berlins, an denen sich sein Straßenleben abgespielt hat und erzählt, wie Obdachlose ihren Alltag meistern.

Der Rundgang führt durch Berlin-Schöneberg. Schöneberg ist nicht hipp, nicht heruntergekommen. Schöneberg sieht bürgerlich aus. Mehrfamilienhäuser, akkurat geschnittene Hecken trennen die Vorgärten, Familienkombis parken am Straßenrand. An den Balkonen hängen Blumenkästen mit Geranien und Immergrün. „Aber die Schöneberger sind liberal“, sagt Carsten Voss. Die Bewohner/innen kommen aus ganz unterschiedlichen Milieus, sie arrangieren sich miteinander. Dazu hat die Vergangenheit beigetragen: Früher war der Kiez eine Hochburg der Hausbesetzer, das Zuhause des Popsängers David Bowie und der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin.

Schöneberg hat ein dichtes Netz an Hilfsangeboten: In der St. Matthias Kirche gibt die „Tafel“ Lebensmittel aus. Die Straßenzeitung "Motz" wird hier verteilt. Es gibt spezielle Cafés und Wohnungstagesstätten – in der Szene als Wotas bekannt. Die meisten Angebote existieren, weil sich Ehrenamtliche engagieren. Die Wotas sind das Zuhause vieler Obdachloser. „Hier kann man essen, sich unterhalten, spielen, telefonieren, im Internet surfen, waschen, lesen und duschen“, erklärt Voss. „Das ist dann das Highlight der Woche. Die halbe Stunde im Badezimmer ist nämlich auch die einzige halbe Stunde Privatsphäre.“

Carsten Voss, studierter Philosoph, 54 Jahre, klingt wie ein Experte von außen, dabei erzählt er aus eigener Erfahrung: Vor zwei Jahren war er selbst obdachlos. Erst konnte er in der Gartenlaube von Bekannten wohnen, drei weitere Monate verbrachte er auf der Straße. Emotionen lässt er sich während der Führung nicht anmerken. Voss bleibt sachlich. Er spricht nüchtern, mit vielen Fremdwörtern, ohne Witze.

In den vergangenen Monaten hat er unzählige Besucher/innen und viele Journalisten von Spiegel Online bis Al Jazeera auf diesem Weg durch Berlin geführt. Die Routine hört man ihm inzwischen an. Carsten Voss hat die Besuchergruppe auf „seinen Vicky“ geführt, den Viktoria-Luise-Platz. Während er redet schießt eine Wasserfontäne in der Mitte der Grünanlage in die Höhe. „Ach ja, zehn Uhr“, sagt Carsten Voss mit Blick auf das spritzende Wasser. Und plötzlich kann man für einen kurzen Moment erahnen, wie der Obdachlose Voss hier seine Tage verbrachte.

„Man hat es viel einfacher, wenn man sich das Straßenleben nicht ansehen lässt“, erzählt Voss. Regelmäßige Hygiene sei für Obdachlose eine wichtige Tarnung. Denn nur so sei es möglich, ohne Probleme in die Stadtbücherei zu kommen, Ämter oder die Cafeteria von Karstadt. Orte, an denen sich der Tag verbringen lässt. „Außenstehende können zwei von drei Obdachlosen nicht erkennen“, sagt er. Oft verrieten sie sich nur durch kleine Gesten: einen Blick in den Mülleimer auf der Suche nach Pfandflaschen, einen Griff in das Münzfach von Telefonzelle oder Parkscheinautomat.

Voss hat früher als Geschäftsführer der Berliner Modemesse Bread & Butter gearbeitet – gerne mal 90 Stunden die Woche. Das hinterließ Spuren: zwei Hörsturze, ein Schlaganfall, Depressionen. Voss verlor den Halt, kam den Forderungen der Ämter nicht nach. Nach einer Räumungsklage stand er auf der Straße. „Manchmal ist Scheitern eine Chance“, sagt der 54-Jährige heute. Es klingt ein bisschen, als erzähle er von einem geglückten Selbstfindungstrip.

Carsten Voss hat sich gefangen, er will ein Hilfsprojekt für Obdachlose gründen und nie wieder profitorientiert arbeiten. Geblieben ist sein Modebewusstsein: Er trägt Ray-Ban-Brille, Armbanduhr und Steppweste leuchten farblich aufeinander abgestimmt in orange. Auch der Manager Voss schimmert manchmal noch durch: lockeren Smalltalk führen, Infos ansprechend vermitteln – das alles hat er drauf.

Von den harten Momenten auf der Straße, die auch er durchgemacht haben muss, spricht er kaum. Wer die Vergangenheit dieses Stadtführers nicht kennt, sieht sie ihm nicht an. Tiefe Gesichtsfalten, eine Zahnlücke – entdeckt man solche Zeichen des Alterns nicht auch bei anderen Mittfünfzigern?

Die Obdachlosen-Einrichtungen, von denen er berichtet, sieht man bei der Tour höchstens aus der Ferne. Erst mal merkwürdig, will man ja eigentlich dem echten Straßenleben begegnen. „Wir machen keinen Sensationstourismus. Ich zeige euch nicht: Da schlafen die, da betteln die“, stellt Voss klar. Aber er möchte seine Besucher anregen, ihr Verhalten zu reflektieren und zu verändern. Und ihre Vorstellung von Wohnungslosen.

„Obdachlose gehören in den Augen vieler zur Straßeneinrichtung wie Mülleimer, Bank und Laterne“, sagt Voss. Ungefähr 10.000 Berliner haben keine Wohnung, 4000 schlafen auf der Straße. Die Mieten steigen, es gibt nur wenige Sozialwohnungen. Die Auflagen für Hartz IV sind streng: Jungen Arbeitslosen wird das Wohngeld gestrichen, wenn sie zum zweiten Behördentermin nicht erscheinen. Manche brechen unter privatem oder beruflichem Druck zusammen, haben psychische Probleme oder sind süchtig. So landen auch Menschen wie Carsten Voss auf der Straße, dem Klischee des müffelnden Flaschensammlers mit Einkaufswagen widersprechend.

Voss hatte Glück. Nach sieben Monaten auf der Straße suchte er sich Hilfe und fand einen Ausweg. Vielen ergeht es anders. „Wer für euch aussieht wie 60, ist oft erst 40 Jahre alt“, sagt Voss. Mehr als 15 Jahre überlebe auf der Straße kaum einer. Auf dem Friedhof Tempelhof werden Obdachlose anonym bestattet.

Die letzte Station seines Rundgangs: der „Verbrauchermarkt Ullrich“ am Bahnhof Zoo. Eigentlich ein ganz normaler Supermarkt. Doch für Obdachlose hat er viele Vorteile: Der Laden ist jeden Tag geöffnet. In einem Regal, „Pennerglück“ genannt, finden sich günstiges Bier, Wermutschnaps und warme Socken. Über dem Pfandautomat hängt ein Fernseher, damit sich kein Wartender langweilt. Denn zum Pfandautomaten kommt fast jeder Obdachlose: „Das ist die beste Einkommensquelle“, erzählt Carsten Voss. Auch er habe regelmäßig Flaschen gesammelt. Deshalb appelliert er: Pfandflaschen nie in den Mülleimer schmeißen, sondern immer daneben stellen. Alte Kleidung nicht in Containern entsorgen, sondern an „Tafeln“, Sozialkaufhäuser oder Wotas weitergeben. Obdachlose in Fluren und Durchgängen im Haus schlafen lassen.

Wer Bettlern kein Geld geben möchte, könne ein Sandwich verschenken. „Respekt zeigen und die Menschen wie normale Menschen behandeln hilft schon viel“, sagt Carsten Voss, „für mich war es besonders schlimm, dass mich keiner wahrgenommen hat.“

Obdachlose ansprechen, ihnen in die Augen schauen - bei der Tour macht das keiner. Ausprobieren müssen das die Besucher danach schon selbst. Wenn sie die Betroffenen denn erkennen.