Das Gesicht der Obdachlosen

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Viktoria-Luise-Platz in Schöneberg

Seine Zigarette drückt Carsten Voss schnell am Mülleimer aus und stellt sich unter den Lindenbaum mit Blick zu den Tourteilnehmern/innen. Hinter ihm erstreckt sich der Viktoria-Luise-Platz in Schöneberg, in dessen Mitte ein runder Springbrunnen steht, der außer Betrieb ist. „Der Vicki, mein Revier, ein komisches Gefühl“, sagt Voss. In der Nähe hat er gewohnt, als er Manager war. Und hier, auf der Wiese, auf den Bänken lungerte er auch als Obdachloser herum.

„Obdachlos. Wie wird man es? Wie schafft man es?“, fragt er rhetorisch in die Runde und zuckt dabei leicht mit den Schultern. Ganz ruhig und flüssig spricht er.

Seine Geschichte, wie er obdachlos wurde, hat er bei der Talksendung „Menschen bei Maischberger“ im Februar 2012 erzählt. Und er erzählt sie auf jeder „Querstadtein-Tour“, einer Stadtführung aus der Sicht von Obdachlosen, die er als einer von bisher insgesamt drei Tourleitern seit Juni diesen Jahres anbietet. Sie ist in seriösen und boulevardesken Zeitungen nachzulesen. Eine Berliner Tour aus der Sicht von Gestrauchelten. Wandeln auf den Schattenseiten Berlins. Davon handelten die Schlagzeilen. Und das zieht. Die Touren sind bis ins nächste Jahr hinein ausgebucht.

Auch heute erzählt er von seiner Zeit als Manager der Berliner Modemesse „Bread & Butter“, von 90-Stunden-Arbeitswochen, vom Schlaganfall, vom Burnout, der ihm medizinisch als psychovegetativer Erschöpfungszustand diagnostiziert wurde. Von der Zeit, als er gut vom Arbeitslosengeld I (ALG I) leben konnte, von der Räumungsklage. Und dann von seiner Vogel-Strauß-Politik, von seiner Self-Made-Attitüde und wie er zu sich sagte: „Carsten, du hast davor alles alleine geschafft. Das schaffst du jetzt auch.“ Er beult seine Wange von innen mit der Zunge aus; ganz kurz und berichtet vom Trotz, der manchen in einer ähnlichen Krise befällt und zum Entschluss führt zu sagen: „Scheiß der Hund drauf! Ich geh auf die Straße. Dann werde ich die Scheiße los.“ Schnell kühlt sich Carsten Voss wieder ab. Er sagt: „Wenn man den Willen hat, kommt man zurück.“

In diesem Moment an diesem Samstagmorgen wird der Springbrunnen in der Mitte des Platzes aktiviert und eine Fontäne schießt in die Höhe, viel höher als die umstehenden Laternen und ganz weiß schäumend. Hinter dem Brunnen wird plötzlich ein Sportler sichtbar, der Armstreckübungen absolviert und dabei in die Höhe hüpft.

Wie jedes Mal beginnt auch heute die Tour am Nollendorfplatz, führt über den Winterfeldmarkt zum Viktoria-Luise-Park und endet nach einer kurzen U-Bahn-Fahrt in der Nähe des Bahnhofs Zoologischer Garten. Carsten Voss kennt sich gut aus. In diesem Radius hat er sich auch bewegt, als er obdachlos war.

Seine in den Medien oft beschriebene Zahnlücke blitzt manchmal auf, wenn er lacht. Doch er lacht selten, meist lächelt er nur. Er trägt immer noch die in den Zeitungen oft erwähnte Ray-Ban-Brille, schlüpft selbst Anfang Oktober noch barfuß in seine Wildledermokassins und es würde ihm auch heute nichts ausmachen Bermuda-Shorts zu tragen, wie auf jenen Pressefotos, als die Sommersonne noch helles und warmes Licht spendete. Kälteunempfindlich hat ihn nicht die Straße gemacht, das war er seit jeher.

Die Schätzzahlen über die Wohnungslosen und Obdachlosen kann er auswendig, ebenso auch die trennscharfe Definition. Unter dem Ahornbaum vor einem Spielcasino am Nollendorfplatz verrät er, dass 10.000 bis 11.000 Menschen in Berlin wohnungslos sind, obdachlos sind 2000 bis 4000. Davon sind 75 Prozent Männer und 25 Prozent Frauen. Diese Zahlen hat er aus Workshops mitgenommen und memoriert, als Vorbereitung für die Führungen. Selbst erfahren hingegen hat er die Vorzüge seines Schöneberger Kiezes, dem größten Schwulenkiez Berlins, wo Renate Künast bei der letzten Wahl mit 8,1% mit Carsten Voss' Worten gnadenlos „verkackt“ hatte.

Es ist ein guter Kiez für Obdachlose. Ein bürgerlicher Bezirk doch mit hohem Studentenanteil. Die Menschen gehen hier respektvoll mit Randgruppen um und rings um den Nollendorfplatz gibt es zahlreiche Sitzbänke, eine gute Verkehrsanbindung und einen 24-Stunden-Supermarkt mit Flaschenautomaten. Das sind gute Infrastrukturen für Obdachlose.

Seine persönlichen Erfahrungen der Obdachlosigkeit reichert Voss, der selbst früher Philosophie studierte, mit wissenschaftlichen Studien und Berichten an. So habe er in einem Bericht gelesen: Wer es nach vier Jahren nicht aus der Obdachlosigkeit rausschafft, schafft es später auch nicht mehr.

Wenn er spricht, setzt er sehr reduziert seine Gestik ein, seine Arme ruhen die meiste Zeit. Erzählt er auf Nachfrage einmal von seiner eigenen Zeit als Obdachloser, bleibt der Gesichtsausdruck freundlich und konzentriert. Er hält Distanz zu seinen Abgründen. Dann geht er wieder über ins Allgemeine. Sein Gang ist schnell und leicht federnd. Beklagt er die fehlende Lobby der Obdachlosen, sagt er, dass es jetzt sogar Wohnprojekte gebe für „schwangere Frauen, die trommeln“. Einmal im Einsatz für die Obdachlosen entgleitet ihm die Empörung, dass diese „natürlich nicht zu bedauern sind wie Lampedusa-Flüchtlinge“.

Und dann erzählt er noch diese Anekdote, eine kleine, aber Wichtige. Ein anderer Obdachloser sagte ihm einmal, dass er am Tag 15 Euro erbetteln kann, wenn er einen Becher hinstellt. Jedoch nur 5 Euro, wenn er seine Hand hinhält. Der Becher, das ist das zwischengeschaltete, neutrale Medium. Es stellt sicher, dass sich die Menschen nicht vor den Obdachlosen ekeln müssen.

Und eine ähnliche Aufgabe übernimmt auch Carsten Voss. Auch er ist ein zwischengeschaltetes Medium, das den Menschen die Obdachlosigkeit im Jahre 2013 näher bringt. Er gibt den Obdachlosen in Berlin ein Gesicht - ein freundliches, aufgeräumtes und zugleich von der Straße gezeichnetes. Um seine Verantwortung weiß er. Deswegen sucht die Tour nicht die Hot-Spots der Obdachlosenszene auf, sondern bleibt auf Distanz zu den Lebensschicksalen.

Rückblickend sagt er über seinen Auftritt vor einem Millionenpublikum in der Sendung „Menschen bei Maischberger“, dass es die maximale Form des Outings war. Mit Sandra Maischberger treffe er sich noch manchmal, und sie frage nach, wie es ihm gehe.
Mit ihm geht es wieder aufwärts. Er hat wieder eine Wohnung, bekommt Hartz IV, macht regelmäßig die Touren und verdient sich damit sein Geld dazu. Nebenher schreibt er ein Buch. Sein Buch. Das Buch handelt von seiner Zeit auf der Straße und schaut auf sein früheres Manager-Leben zurück. Auf jene Zeit, bevor er „Platte machte“. Große Kontraste, zwei Leben. Es gebe bereits jetzt interessierte Verlage. Ein Teaser wird kommende Woche auf der Frankfurter Buchmesse gezeigt.