Starkes Deutschland mit schwacher Verantwortung

Flaggen Deutschland und EU
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Deutschland profitiert stark von der EU und hat sich dennoch in der Bekämpfung der Eurokrise als handlungsfähig erwiesen

Europa ist für Deutschland unverzichtbar – und umgekehrt. Kaum ein anderes Land hat im 20. Jahrhundert einen vergleichbaren Wandel durchlebt. In zwei Weltkriegen brachte  Deutschland die meisten Staaten des Kontinents zu geeinter Stärke gegen sich auf. Danach begann der Kalte Krieg und zugleich die längste Friedensphase, die Europa im Zeitalter der Nationalstaaten bisher erlebt hat.


Die europäische Integration überwand das deutsche Großmachtdenken, die Europäische Union wurde zur Bedingung für die deutsche Einheit. Sie wiederum war eine so große Aufgabe, dass das vereinte Deutschland nach 1989 die zuvor gewohnte Spitzenstellung im europäischen Wirtschaftsvergleich für zwei Jahrzehnte nicht mehr halten konnte; es galt als „kranker Mann“ Europas. Doch heute dominiert Deutschland, das Land mit der größten Bevölkerung und damit auch den meisten Stimmen, als Taktgeber der Sparpolitik der EU: mit einem Bundeshaushalt, der für 2015 keine Neuverschuldung vorsieht, mit sinkender Arbeitslosigkeit und Überschüssen im Export, die weiter ansteigen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1989 galt Deutschland als das integrationsfreudigste Land Europas; Europa war gleichsam (west-)deutsche Staatsräson. Im vereinten Deutschland endete die Ära von Helmut Kohl mit einem Stilwechsel in der Europa- und Außenpolitik. Seither werden deutsche Interessen offen und selbstbewusst formuliert. Gleichzeitig mehren sich jetzt europakritische Stimmen im Land – Populisten wettern, sie wollten nicht die Zahlmeister der EU sein, Griechenland retten oder von Armutszuwanderung aus Südosteuropa überrannt werden. Dabei liegt der Pro-Kopf-Beitrag in Deutschland pro Monat bei etwa 12 Euro und damit unter dem in Schweden oder Dänemark. Und die Bundesrepublik hat enorm von der gemeinsamen Währung profitiert: Zwischen 2002 und 2012 floss fast die Hälfte des Euro-bedingten Zuwachses der Wirtschaftsleistung in der Eurozone nach Deutschland – rund 160 Milliarden Euro.


Nicht nur wirtschaftlich, auch politisch gehen Selbst- und Außenwahrnehmung weit auseinander. Das europäische Ausland verlangt von Deutschland mehr Führung und Initiativen. Die USA sehen in Berlin einen neu erstarkten Partner, der sich aber wie im Fall Libyen den Selbstverpflichtungen des Westens entziehe. Die deutsche Gesellschaft und Politik hingegen hat ihren historischen Schuldkomplex noch immer nicht überwunden und schwankt zwischen Selbstüberschätzung und Wegducken. Deutschland muss sich vorwerfen lassen, dass es am liebsten in eine Art großer Schweiz mutieren möchte – mit möglichst hohem wirtschaftlichem Gewinn, aber ohne internationales Engagement.

Die deutsche Öffentlichkeit akzeptiert, dass sie auf die Befindlichkeiten anderer EU-Länder gegenüber der eigenen Dominanz in Wirtschaftskultur, Staatsverständnis und Krisenverhalten Rücksicht nehmen muss. Darum nimmt sie auch höhere Kostenbelastungen in Kauf. Doch die Rolle eines "wohlwollenden Hegemons", der das augenblickliche wirtschaftliche und politische Machtvakuum in Europa füllt, soll Deutschland nicht einnehmen.


Immerhin: Die Zustimmung Deutschlands zum Eurorettungsschirm und zur Schuldenfinanzierung durch die Europäische Zentralbank im Krisenfall stellt einen Schritt zur Übernahme von Verantwortung dar, der vor wenigen Jahren noch undenkbar erschien. Der Rettungsschirm ist inzwischen höchstrichterlich bestätigt: Im März 2014 wies das Bundesverfassungsgericht 37.000 Beschwerden zurück, die das Projekt aus nationaler Sicht kippen wollten, weil sie die Rechte des Bundestages verletzt sahen. Die Beschwerden über die in Deutschland verpönte direkte Staatsfinanzierung hat das Bundesverfassungsgericht an den Europäischen Gerichtshof weitergeleitet. Auf der politischen Seite sekundierte Bundespräsident Joachim Gauck, der 2014 die 50. Münchner Sicherheitskonferenz mit der Aufforderung eröffnete, Deutschland solle mehr Verantwortung in der Welt übernehmen.

Die Umsetzung der Energiewende, der Streit über die EU-Verträglichkeit der Mautgebühren und die Zukunft der Arbeitsmigration zeigen, wie sehr Deutschland mit Europa verflochten ist. Heute kann sich kein Mitgliedstaat der EU mehr zu seinem Vorteil abschotten oder gegen die Gemeinschaft handeln. Nur gegenseitige Unterstützung und Ausgleichsmechanismen können die Ungleichzeitigkeiten der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen kompensieren. Neuerungen wie eine europäische Arbeitslosenversicherung insbesondere für die Jugend, die stark unter dem Jobmangel leidet, bergen neues Identifikationspotenzial und sollten aufgegriffen und vorangetrieben werden – besonders von Deutschland.  

 

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