Viktor Orbáns neuer Staat

Esztergom
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Die einstige ungarische Hauptsatdt Esztergom

Esztergom ist ein trostloser Ort. Die Kleinstadt liegt an Ungarns Donaugrenze zur Slowakei, war einst ungarische Hauptstadt und ist immer noch Sitz des katholischen Primas des Landes. Aber die öffentlichen Belange liegen darnieder, ob Straßenbeleuchtung oder Krankenhaus, Schulen oder Eisenbahn – alles befindet sich einem mehr oder weniger erbärmlichen Zustand, und der Bauernmarkt am Samstag schaut so aus wie die Bauernmärkte überall von hier bis hinab nach Südbulgarien: als wäre jener sehr beschränkte Handlungsspielraum, den der aktuelle Bestand des Geldbeutels in der Tasche erlaubt, unmittelbar in die Gesichter aller Käufer auf dem Markt, in ihre Körperhaltung, in ihre Gangart eingeschrieben.

Alles verlangt nach einer Erklärung, woran es denn liegt – diese nicht aufhören wollende Stagnation seit 20 Jahren, dieses ewige um alles Kämpfen-Müssen, das nie erlaubte Frei-Durchatmen. Und dass jedes kurze Zurücklehnen nur dadurch legitimiert ist, dass ja sowieso nichts Besseres zu tun sei. So wie es zur Stagnation gehört, dass auch die Frage, woran es denn liegt, inzwischen keinen mehr hinter dem Ofen hervorlockt.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán aber hat die Antworten auf diese Fragen gefunden. Er ist ein Volksversteher und die Sorgen der kleinen Leute treiben ihn um. Dies umso mehr, als die Folgen der Finanzkrise von 2008 aus vielen ungarischen Mittelständlern wieder kleine Leute gemacht haben.

Die Vergangenheit soll aus dem Hinterkopf

Băile Tuşnad /Tusnádfürdő ist Rumäniens kleinste Ansiedlung mit Stadtrechten. Seine Bewohner sind zum allergrößten Teil ungarisch sprechende Székler. „Băile“ ist das rumänische Wort für „Bad“. Irgendwie erinnert es an den seit der Krise 2008 bekannten Begriff des „Bail-out“. Und irgendwie ist der „Bail-out“ ja immer die letzte Antwort auf die Frage, wer es am Ende auszubaden hat.

Vielleicht deshalb hat Viktor Orbán einen Auftritt vor 8000 Studierenden in diesem siebenbürgischen Badeort genutzt, um einen grundsätzlichen Einblick in seine Zukunftsvisionen für Ungarn, besser: „für die Gemeinschaft der Ungarn“ zu gewähren (wir beziehen uns im Folgenden ausschließlich auf die amtliche, auf der Internet-Seite des Ministerpräsidenten verfügbare englische Version seiner Rede). Es stellt sich aber im Verlauf der Rede heraus, dass der Einblick sich eher auf seine Interpretationen des Vergangenen bezieht. Was und wie die Zukunft sein soll, bleibt hinter dem unerklärten Begriff einer „auf Arbeit begründeten Gesellschaft“ (work-based society) kryptisch verborgen.

8000 Studierende im Jahr 2014; die meisten von ihnen haben den Regimewechsel von 1990 nicht politisch bewusst miterlebt. Das bietet dem Redner die willkommene Gelegenheit jenes Ereignis, das für seine Zuhörerschaft längst zu einem unter vielen historischen Ereignissen geworden ist, nun tatsächlich für historisch zu erklären. Damit soll ihm zugleich auch seine zentrale Funktion als Referenzpunkt der politischen Diskurse aberkannt werden. Das Jahr 1990 soll als eine Erfahrung (experience) in der Erinnerung abgespeichert, aber nicht mehr ständig im Hinterkopf wach gehalten bleiben ("no longer … a point of reference in our debates on understanding the future and designating our path towards the future").

Das Ende des Post-Kommunismus

In den heftigen, auch internationalen Debatten um die von Viktor Orbán 2011 durchgesetzte neue ungarische Verfassung hatte sich der Ministerpräsident darauf berufen, dass jener Regime Change von 1990 eben deswegen unvollendet geblieben sei, weil er keine grundlegend neue Verfassung hervorgebracht habe. Diesen Mangel zu beheben, sah er als seine erste und dringlichste Aufgabe, nachdem ihm die Vorsehung, die Wählerschaft und der ungarische Gesetzgeber (erg. der neuen Wahlgesetze) zur Zweidrittelmehrheit im Parlament verholfen hatten ("Thank you to everyone whom it concerns: to Providence, to the voters, to Hungary’s legislators…"). Der Gesetzgeber, also Viktor Orbán, hatte den ungarisch-stämmigen Bürgern der Nachbarstaaten das Wahlrecht eingeräumt, welches diese zu einer „edlen Rache“ ("such a noble form of revenge") an denen nutzten, die 2004 die Zulassung der außerhalb des Staates lebenden Ungarn abgelehnt hatten.

Nun, mit der neuen vaterländischen Verfassung in der Hand und angesichts eines Publikums von 8000 rumänischen Ungarn, die sich alle der Gnade einer für 1990 zu späten Geburt erfreuen, wird der Regime Change für vollendet und damit zugleich die Periode des Post-Kommunismus für abgeschlossen erklärt. Was aber war dies eigentlich für eine Periode? Und ist nicht dies die Frage, die wir klären müssen, um auch auf die Frage aus Esztergom, woran es denn liegt mit dieser Stagnation, eine endgültige Antwort geben zu können?

Eine liberale Abwärtsspirale

Es war, sagt Viktor Orbán, die Periode des westlichen Liberalismus. Dessen kollabierendes Scheitern in der Krise von 2008 müsse nun als neuer Referenzpunkt an die Stelle treten, die bislang die Ereignisse von 1990 eingenommen haben:

"What we should instead view as our starting point is the great redistribution of global financial, economic, commercial, political and military power that became obvious in 2008."

Das Scheitern des Liberalismus in der Krise markiert das Ende einer langen Periode seiner Auszehrung. Blind seien die post-kommunistischen Staaten auf diesen längst abwärts fahrenden westlichen Zug aufgesprungen, untätig hätten sie zugesehen, wie ihre Bürger ausgebeutet und zu den letzten Opfern dieser great redistribution gemacht wurden.

Nahezu 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus kann demnach der aktuelle Zustand des ungarischen (wahllos zu ergänzen: des serbischen, des bulgarischen, des bosnischen, des mazedonischen…) Staates nicht länger als Spätfolge der vor 1990 liegenden Jahrzehnte der Diktatur erklärt werden. Es war vielmehr ein zynischer Kapitalismus, der nach 1990 alle diese Länder in seine Spirale des Niedergangs hineinsog.

Nicht nur hat sich in dieser Weltsicht der Liberalismus endgültig diskreditiert. Auch die vorangegangene Diktatur ist damit quasi implizit von jeder Schuld an den derzeitigen Zuständen freigesprochen. Mit ihr erfreuen sich nun auch all jene übrigen Formen nicht-liberaler Staatlichkeit, die die Welt derzeit zu bieten hat (die Putin’sche und die chinesische, die türkische und die Singapur’sche vor allem) einer ganz neuen Legitimität. Ungarns Zukunft jedenfalls (besser: „die Zukunft der Gemeinschaft der Ungarn“) kann nur in einem post-liberalen, in einem nicht-liberalen Staat errungen werden:

"…while breaking with the dogmas and ideologies that have been adopted by the West and keeping ourselves independent from them, we are trying to find the form of community organisation, the new Hungarian state, which is capable of making our community competitive in the great global race for decades to come."

Nur Polittalk á la Merkel?

Wenn wir schon einmal quasi bei solchen „Letzten Fragen“ angekommen sind: was ist denn die Welt? Sie ist ein Käfig von communities, allesamt verstrickt in ein great global race, in dem allein competitiveness über Erfolg und Misserfolg entscheidet. Das klingt wie einer jener Sätze von Angela Merkel oder Wolfgang Schäuble, mit denen sie von Griechenland Strukturreformen zum Zwecke wachsender Konkurrenzfähigkeit verlangen.

Oder: Was ist denn der Staat? Er ist eine Form der community organisation. Und in welcher Form sich eine community organisiert, bzw. warum sie es in dieser und keiner anderen Form tut, das sind Viktor Orbáns angeblich entscheidenden Fragen. Große Fragen, fürwahr! Hat er Niklas Luhmann konsultiert? Ganz so, wie sich sein serbischer Kollege Vučić seit einiger Zeit von Max Weber inspirieren lässt? Ist das alles wirklich so Merkel- oder Schäuble-kompatibel wie es erscheinen mag?

Es ist verheerend, wenn man im Verbund der „Europäischen Volksparteien“ dies glaubt – und viele dort scheinen es glauben zu wollen! Denn es bedeutet schlicht wegzuhören, wenn Orbán offen davon spricht

„…to construct a new state built on illiberal and national foundations within the European Union. I think this is possible.”

Das völkische Kollektiv

Die Inkompatibilität wir deutlich, weil in Orbáns Konzept des neuen Staates der Begriff der „Gesellschaft“ nicht vorkommt. Allein dieses Fehlen  widerlegt jede Vermutung einer Luhmann-Rezeption. Society taucht in seiner Rede nur im Kontext des Mangels auf: die ungarische Gesellschaft der post-1990er Jahre war eine society. Die westlich-liberalen Staaten sind societies. So wie der Begriff der community auf einen Mangel der Staatlichkeit hinweist, denn die ungarische Community ist weit größer als das in der Republik Ungarn verfasste Staatsvolk, so dient auch der Begriff der society zur Beschreibung eines Mangels: dem eines völkischen Kollektivs, das noch nicht zu der ihm adäquaten Staatsform (community organisation) gefunden hat. Diese Vollendung für spätestens die nächste Legislaturperiode anzukündigen, dazu nutzt Orbán das kleine transsilvanische Badestädtchen im Zentrum Rumäniens.

Wo es aber keine Gesellschaft gibt, gibt es auch keine Differenz mehr zwischen Gesellschaft und Staat. Im neuen Staat Viktor Orbáns wird nicht mehr der liberale Grundsatz gelten, dass die Freiheitsrechte des Einzelnen nur in der Freiheit des anderen ihre Begrenzung finden. Wie jede religiös verbrämte Politik braucht auch sein Konzept eine Moral aus positiv gesetzten Normen, eine zumindest kleine Sharja mit Verbotslisten und Strafbelegungen. Seit 1990 habe jene falsche, liberale Regel in Ungarn gegolten und niemand habe je verbindlich definiert, wo die Freiheit des anderen denn beginnt. Das Resultat sei ein Zustand gewesen, in dem die Starken diese Grenze nach eigenem Gutdünken definierten und die Schwachen der Ausbeutung anheimfielen.

Das klingt schön, solidarisch und besorgt um das allgemeine Wohl, das es gegen jene wild und zynisch Gewordenen zu verteidigen gilt. Aber ist nicht gerade diese schamlose Aneignung, mit der die Tycoons der post-kommunistischen Gesellschaften ihre Milliarden akquirierten, das Erbe der vorangegangenen kommunistischen Jahrzehnte? Haben sie nicht ein im Kommunismus verbreitetes Zerrbild der Marktwirtschaft für bare Münze genommen und in die Tat umgesetzt?

Orbans kategorischer Imperativ

Der kategorische Imperativ in Orbáns neuem Staat soll lauten, dass man nichts tun darf, wovon man nicht will, dass andere es einem selbst gegenüber tun ("that one should not do unto others what one does not want others to do unto you"). Nur: wer wird verbindlich definieren, worin jenes Ding besteht, von dem ich nicht will, dass andere es mit mir tun? Das wird der Staat tun, weil es eine darüber disputierende Gesellschaft nicht mehr gibt. Und so wie die Macht im Staate konstituiert ist ("the governing civil, Christian and national powers in Hungary"), so wird er es entscheiden: christlich und national!

Viktor Orbáns Rede in Băile Tuşnad wurde von den deutschen Medien geflissentlich übergangen (soweit der Autor das überblicken kann). Sie ist ein Skandal im klassischen Sinn des Wortes, ein Ärgernis für jeden Demokraten. Natürlich weiß der Redner das und kündigt selbst an, dass auch diese Rede von der liberalen Welt wieder als eine „Blasphemie“ verurteilt werden wird. Aber:

"Just because a state is not liberal, it can still be a democracy."

Nur handelt es sich hier nicht mehr um eine Demokratie der Debatte, vielmehr um eine des Plebiszits und der Akklamation, es geht um den völkischen Konsens innerhalb der community. Es geht um die Durchsetzung einer von Ressentiments gespeisten Moral.