Die beste Tarnung des Feindbilds ist das Freundschaftsklischee

Lügen und Wahrheiten, Teil 5: Die beste Tarnung, die ein Spitzel überhaupt annehmen kann, besteht in seiner Gleichgesinntheit mit denen, die er abschöpfen soll - eben dies machte die Methoden der Stasi und die jeden ähnlichen Vereins fast undurchschaubar.

Zum gewichtigsten Einwand gegen jene damals die Geister und Geschmäcker scheidenden Experimente mit der Sprache, die zum Teil an in der DDR verdrängt gewesene Traditionen der Vorkriegsavantgarden anknüpfen wollten, geriet die zu Beginn der 90er Jahre aufgedeckte Tatsache der Infiltration durch die Organe der Staatssicherheit. Es hatte nun freilich nie jemand so getan, als wäre ihm die scheinbar überall und nirgends lauernde Geheimdienstgefahr nicht dunkel bewußt gewesen. Der entscheidende Punkt daran war und ist aber nun mal der, daß Geheimdienste im Geheimen operieren. Ich fresse meine Stasiakte mitsamt Deckel (oder schlucke wenigstens die mögliche Mißbilligung dieser großmäuligen Geste), wenn es damals unter meinen diesbezüglich „sauberen“ Freunden und Bekannten auch nur einen einzigen gegeben hat, der über die IM-Tätigkeit mancher seiner Bekannten und Freunde zweifelsfrei Bescheid gewußt hätte.

Die beste Tarnung, die ein Spitzel überhaupt annehmen kann, besteht in seiner Gleichgesinntheit mit denen, die er abschöpfen soll - eben dies machte die Methoden der Stasi und die jeden ähnlichen Vereins fast undurchschaubar. Es redete sich nicht gut in vermeintlicher oder tatsächlicher Anwesenheit eines unsichtbaren Gespenstes, von dem man mit Sicherheit nur wußte, daß es persönliche Worte weiterleitete, die dort, wo sie ankamen, gegen einen sprechen sollten. Und man war es müde, alles, was man zu anderen so redete, wenn der Tag lang war, einer ständigen Vorsichtszensur zu unterwerfen, die über kurz oder lang darauf hinauslaufen mußte, daß man nicht nur den Gesprächspartnern, sondern auch den eigenen Worten nicht mehr trauen konnte.

Als ich für mich zu Beginn der 80er beschloß, diesen Spuk in Zukunft ganz einfach zu ignorieren, ging es mir mental sofort besser, aber es war schon sehr naiv zu glauben, damit den allgemeinen Dunstbezirk der Verdächtigungsreflexe verlassen zu haben. Irgendjemand fand sich immer, der einem gerade die nunmehr ungezwungeneren Worte verübelte und unlauterer, verschwiegener Absichten verdächtigte, alsdann den Verdacht hinter vorgehaltener Hand weitergab, bis er die Runde gemacht und seinem ahnungslosen Verursacher die kalte Kralle hinterrücks auf die Schulter gelegt hatte. Ein wahrer Teufelskreis, dessen sinistere Logik, wie in einer Erzählung von Villier de Isle Adam oder Edgar Allen Poe, jeden gewähnten Schritt ins Freie noch tiefer in das Verhängnis lenkte. Falls über den paranoiden Wahnsinn, der da unter ostdeutschen Dächern mitwohnte, bereits zu viel Gras gewachsen sein sollte, braucht man sich nur für einen Moment in die Angst zurückversetzen, die nach der Freigabe der Stasiakten unter den Leuten ausbrach, jene berechtigte, lauernd-lähmende Angst, es könnte tatsächlich selbst noch der engste Freund ein Angehöriger der Firma „Horch und Guck“ gewesen sein. Dann weiß man wieder, warum man in den Tapeten der DDR die Flöhe husten und die Wanzen blinzeln hörte. Es gibt keinen Grund zu vergessen, daß man von seinen „klassenbewußten“ Landsleuten, die sie elektromechanisch installiert hatten, nicht wie ein Mensch sondern wie ein gefährliches Insekt angesehen wurde. Und umgekehrt muß man ehemalige Spitzel, denen ihr einstiger Führungsoffizier mehr Nestwärme versprechen konnte als ihr eigener Freundekreis, nicht als Fliegen entschuldigen, die der Spinne versehentlich ins Netz gegangen sind.

Als ein Beispiel für Ausnahmen von der Regel sei kurz erzählt, daß ich einmal in den frühen Achtzigern von Detlef Opitz zu einem Besuch seines ehemaligen Literaturzirkels in Halle mitgenommen wurde und mir dort im Kreis von einem Dutzend junger Autoren ein Typ auffiel, dessen Verhalten eine seltsame Mischung aus Naturwüchsigkeit und Verkommenheit verriet. Detlef Opitz erklärte mir hinterher, daß dieser Typ in dem Kreis aus Mitleid toleriert würde, obwohl alle wüßten, daß ihn die Stasi geschickt habe. Es handele sich bei ihm jedoch eigentlich nur um einen armen Hund ohne Freunde und Familie, der dem Zirkel gewissermaßen zugelaufen wäre. Und so, wie er war und sich benahm, wäre er ohnehin das Musterexemplar einer unfreiwilligen Selbstenttarnung, warum sollte man ihn rausschmeißen, zumal doch alle sich darüber einig wären, daß er dann vollends in der Gosse versackte.

Transparente Ausnahmefälle wie diesen hat es also auch gegeben, womöglich umso häufiger, je tiefer die damals von Ostberlin aus gesehenen DDR-Provinzen gelegen haben. Aus meinen Jahren in Ostberlin kenne ich allerdings keinen einzigen diesem ähnlichen Fall. Dafür traf ich mich jahrelang beinahe wöchentlich zu redaktionellen Zwecken mit einem Stasispitzel namens Rainer Schedlinski, ohne auch nur im mindesten zu ahnen, daß er einer war. Und auch in jenem Autorenzirkel in Halle kam erst durch die Offenlegung der Stasiakten heraus, daß sich unter den dortigen Lehrlingen und Gesellen des literarischen Fachs noch weitere IM befunden hatten, nur eben entschieden besser (weil durch vertrauenerweckendes Niveau) getarnte, als der erwähnte „arme Hund“.

Der Untergrund ging eher in die Leute als umgekehrt

Ich selber erinnere mich auch lieber an anderes als an die manisch-depressive Atmosphäre in den halblegalen Veranstaltungs- und Selbstdarstellungsräumen des alten Prenzlauer Bergs. Die widersprüchlichsten Eindrücke zerrten nicht nur mir und nicht nur in den Flucht- und Zufluchtsräumen vor und hinter den düsteren Mietskasernenfassaden des Stadtviertels andauernd am Gemüt. Zwischen Aufbruchs- und Zusammenbruchsstimmung lagen manchmal nur wenige Augenblicke. Dennoch aber habe ich dieses im Halbdunkeln blühende Schachtelrhizom namens „Prenzlauer Berg Connection“ (wie A. Endler den losen Verbund einiger „Andersschreiber“ nannte) letztlich doch eine Spur zu intim kennengelernt, um die kreative Wirklichkeit darin nachträglich entweder als eine „Stasiplantage“ denunzieren oder als einen von den restriktiven DDR-Verhältnissen betreuten Kinderspielplatz für Möchtegernkünstler und sonstige Narzißtypen karikieren wollen zu können.

Sie brachte eine Handvoll guter Dichter hervor, darunter zwei bis drei außerordentlich gute, wobei sich noch über die Kausalität streiten ließe - ob nun der Ruf des konkreten Milieus die Dichter oder vielmehr die Dichter den Ruf des Milieus hervorgebracht oder zumindest auf ihre eigene Tonlage eingestimmt haben. Mitunter neigte ich aber auch schon unter dem Eindruck diverser Überinterpretationen zu der entnervten Meinung, daß ein dichterischer Untergrund des Prenzlauer Bergs außerhalb der einfallsreichen dichterischen Projektionen von Bert Papenfuß überhaupt nie existiert hat und alles übrige sich nur zum Bild eines Versuchsfelds für „unangepaßte Künstler“ fügte, weil es den vormaligen Westmedien so paßte. Man konnte seinerzeit auch noch einigen anderen, zuweilen fast autistisch verfaßten Musensöhnen aus dem Ostberliner Stadtgebiet über den Weg laufen, die einem im Brustton der Überzeugtheit verkündeten, „der Untergrund“ – das sei doch niemand anders als sie selbst allein. Man versuche einmal sich vorzustellen, daß eine starre Perspektive von unten mit einem vielsagenden Gerücht von oben zu einem surrealen Hohlraum fusioniert, oder man denke an ein Echo, das sich von dem Ruf, der es auslöste, nicht unterscheiden läßt, dann hätte man so in etwa das, was sich Untergrund nannte.

Als Wort hat es immerhin existiert.

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