Die Überlebensstrategie des Kreml: Vorwärts in die Vergangenheit

Wachen vor der Mauer des Kreml
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Geflickte Absperrkette vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten am Kreml

Das politische System Russlands erweist sich als erstaunlich überlebenfähig. Seit Beginn der 90er Jahren hat es sich mehrmals angepasst. Doch die Tatsache, dass sein Führer nun auf Krieg setzt, zeigt, dass es ihm an anderen Mitteln zur Selbsterhaltung fehlt.

Das personenbezogene Machtsystem Russlands (in der Folge auch „das Russische System“ genannt), welches im Widerspruch zum Rechtsstaat steht, erweist sich als erstaunlich überlebensfähig – selbst bei weit fortgeschrittenem Verfall. Der Kreml versucht sich am Leben zu erhalten, indem er auf eine Politik der Eindämmung setzt, bestehend aus, erstens, einer „konservativen Revolution“ im Inneren, zweitens, der revanchistischen Infragestellung der internationalen Ordnung, und, drittens, indem man versucht, eine anti-westliche Internationale ins Leben zu rufen, die sich bewusst gegen liberale Werte stellt. Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass diese Überlebensstrategie langfristig zum Scheitern verurteilt ist. Nicht abzusehen aber ist, welchen Preis Russland (und der Rest der Welt) für dieses unvermeidliche Scheitern und seine Folgen zahlen wird.

Russland und der Westen – von der Nachahmung zur Eindämmung

Der Überlebenskampf des Russischen Systems hat sich so manchem Erklärungsversuch entzogen und gezeigt, dass das System in der Lage ist, auf neue Herausforderungen zu reagieren, ohne dabei sein Wesen zu ändern. Anfang der 1990er Jahre überlebte dieses System, indem es den alten sowjetischen Staat aufgab, sich vorgeblich zu liberalen Werten bekannte und bereit war, mit dem Westen zusammenzuarbeiten. Heute ist solche Maskerade ein Ding der Vergangenheit, und Russlands staatliche Organe setzen einmal mehr auf eine strikt autoritäre Politik und versuchen, sich so als Widerpart des Westens zu präsentieren.

In den Jahren 2012/13 änderte der Kreml, um zu überleben, seine Taktik und bekannte sich zur „Putin-Doktrin“, durch die eine autoritärere Form der Herrschaft im Inneren und ein festeres Auftreten nach außen legitimiert werden sollte.

Der Kreml sah sich aus mehreren Gründen zu diesem Kurswechsel gezwungen (und die Tatsache, dass Putin einst KGB-Offizier war, machte ihn kaum zur Idealbesetzung für politische Reformen). Hinzu kam eine Reihe weiterer Faktoren, darunter die Tatsache, dass der Kreml zum ersten Mal in seiner Geschichte von Vertretern jener Dienste geleitet wurde, deren Spezialität es ist, Zwang auszuüben.

Hinzu kam die unter Boris Jelzin 1993 verabschiedete Verfassung, die einem Typus von politischem Führer den Boden bereitete, der über der Politik steht und dem Volk gegenüber nicht rechenschaftspflichtig ist. Schließlich nahmen in den Jahren 2011/12 die politischen Proteste zu, und die Angst davor, dass selbst kleinere politische Auseinandersetzungen die Allmacht des Kreml gefährden könnten, ließen die Mächtigen verstärkt auf Zwang und Eindämmung setzen.

Für den Kreml boten der Euromaidan in Kiew und der Sturz von Wiktor Janukowytsch im Jahr 2014 die Chance, diese neue Doktrin zu erproben. Die Einverleibung der Krim und die Unterstützung der prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine lieferten dem Kreml die Rechtfertigung, im Namen des Vaterlands militärisch mobilzumachen, und bestätigte zugleich die Selbstwahrnehmung, man sei umzingelt von äußeren Feinden – und habe zudem mit einer Fünften Kolonne im eigenen Land zu kämpfen.

Russland – der Widerpart des Westens?

Warum fiel Russland so leicht in die Rolle als Widerpart des Westens zurück? Lag es an der Missachtung, ja Demütigung, die Russland angeblich von Seiten des Westens widerfuhr? War es die Einmischung des Westens in Russlands Einflussbereich? Oder war es gar der Niedergang der westlichen liberalen Demokratie?

Ich denke, es kam zu dieser Verschiebung, da Russland es versäumte, seine Niederlage im Kalten Krieg dafür zu nutzen, eine rechtstaatliche Ordnung aufzubauen. Die politische Elite Russlands und speziell jene, die sich liberal gaben, versagten als Reformer. Dass sich der Kreml heute in Richtung Militarismus und Patriotismus bewegt, zeigt, dass das Regime ums Überleben kämpft – es verweist aber auch auf einen Widerspruch: Russland kann kein militaristischer Staat werden, da ein Grundgedanke fehlt, der Staatsführung und Volk verbindet. Zudem fehlt dem Kreml ein zuverlässig funktionierender Unterdrückungsapparat, denn ein erheblicher Teil der Eliten und auch des Volks hat kein Interesse daran, in einem international isolierten, autoritären Staat zu leben.

Vom Militarismus verabschieden kann sich Russland aber auch nicht, denn die Eliten und Teile der Bevölkerung haben kein Interesse daran, in einem Rechtsstaat zu leben. Der Todeskampf des gegenwärtigen Regimes könnte in einem Regierungswechsel münden – durch welchen sich das Russische System reproduzieren und so seinen Verfall hinauszögern könnte.

Nachdem die liberale Reformpolitik sich selbst diskreditiert hat, wäre es heute sehr schwierig, in Russland von Neuem einen Übergang zur Demokratie zu versuchen. Es ist gut möglich, dass Russland erst eine Phase noch autoritärer Machtausübung durchmachen muss, bevor die Menschen gewillt sein werden, es noch einmal mit der Demokratie zu versuchen. Bedenken muss man zudem, dass es in der Geschichte kein Beispiel dafür gibt, wie ein Imperium von bedeutender Größe, das außerdem Atommacht und Ölstaat ist, den Übergang zur Demokratie bewältigen kann.

Auch äußere Einflüsse haben dazu beigetragen, dass Russland in seine autoritäre Vergangenheit zurückfällt, beispielsweise die Blauäugigkeit des Westens, der dachte, Jelzin zu stützen helfe der Demokratie auf die Beine, und der eine pragmatische Zusammenarbeit mit Russland höher schätzte als menschenrechtliche und demokratische Normen. Dass Russland die liberalen Demokratien des Westens nicht mehr als Vorbild sieht, ist eine der traurigsten Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre.

Entmutigte Gesellschaft, schwache Opposition

Viel wird von der gesellschaftlichen Unruhe abhängen, die eine ernste Krise auslösen kann. Viele Wendepunkte sind denkbar, ungewiss aber ist, ob Russland sich auf eine systemweite Krise zubewegt oder nur weiter gelähmt vor sich hinvegetiert.

In näherer Zukunft werden Russlands Eliten, sollten sie es mit einer Welle der Unzufriedenheit zu tun bekommen, wahrscheinlich versuchen, das Problem zu lösen, indem sie einen neuen autoritären Führer küren. Die Gesellschaft ist zu entmutigt und entkräftet, die Opposition zu schwach, um das Russische System in Frage zu stellen. Gegenwärtig sieht es so aus, als würde die trügerische Hoffnung vieler Russen, Personenkult könne für „Normalität“ sorgen, noch für einige Zeit Bestand haben.

Das Russische System wird zweifellos weiter verfallen. Die Tatsache, dass sein Führer nun auf Krieg setzt, um es am Leben zu erhalten, zeigt, dass es ihm an anderen Mitteln der Selbsterhaltung fehlt. Zu beobachten sind zwei Formen des Verfalls, die Francis Fukuyama einmal „institutionelle Erstarrung“ und einmal „Patrimonialismus“ nennt, das heißt, „Funktionäre, deren Existenz eng mit dem bestehenden System verbunden ist, versuchen, es gegen Reformen zu verteidigen“.

Gewiss ist nur, zu einem von oben gesteuerten Prozess des demokratischen Übergangs auf Grundlage eines Bündnisses zwischen Reformern und Opposition wird es unmöglich kommen. Der einzige Weg, auf dem Russland der Krise entkommen kann, ist eine Krise, die sich derart verschärft, dass es zu einer Revolution kommt, welche das System zerschlägt – und so die Möglichkeit eröffnet, einen Rechtsstaat auszubauen. Unruhen sind jedoch stets mit Gefahr verbunden – und das ganz besonders in Gesellschaften, die gezielt in eine hobbesianische Weltordnung geführt wurden, in der sich Staaten in permanentem Kriegszustand befinden.

Das Russland von heute steht vor Fragen, auf die bislang weder es selbst noch der Westen eine Antwort hat. Dass sich solche Fragen aber überhaupt stellen, ist allemal ein Fortschritt.