Srebrenica und die Geister unserer Zukunft

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Hotel in Srebrencia

Im Juli 1995 ermordete die Armee der Republika Srpska in nur wenigen Tagen bis zu 9.000 bosnische Jungen und Männer. Bis heute ist der Genozid von Srebrenica das größte Hindernis für einen funktionierenden Staat Bosnien-Herzegowina. Doch Srebrenica könnte auch eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft sein.

Dies sind einige Fakten über 'eure' und 'unsere jüngste europäische' Vergangenheit: in Srebrenica, der Enklave im äußersten Osten Bosniens nahe der Grenze zu Serbien, hat die Armee der Republika Srpska (VRS) auf Befehl der politischen Führung der so genannten „serbischen Republik“ in BiH im Juli 1995 in nur wenigen Tagen bis zu 9.000 Jungen und Männer ermordet, was einige Jahre später am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag als Genozid qualifiziert wurde. Rechtskräftig verurteilt für dieses Verbrechen wurden unter anderem Radislav Krstić, Vidoje Blagojević, Ljubiša Beara, Vujadin Popović. Alles hochrangierte Militär- und Staatsbeamte des damaligen serbischen Parallelstaates in Bosnien-Herzegowina, einem durch Krieg, ethnische Säuberung und Verbrechen an der nicht-serbischen Bevölkerung entstandenen Projekt.

Im Prozess Bosnien-Herzegowina gegen Serbien und Montenegro vor dem Internationalen Gerichtshof erging am 26. Februar 2007 ein Urteil über die Mitverantwortung Serbiens wegen des verübten Genozids in Srebrenica, da Serbien es unterlassen hatte, alles in seiner Macht Stehende zu versuchen, diesen zu verhindern, aber auch, weil es nach dem Verbrechen die Täter weder bestraft noch dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert hatte. (Der Internationale Gerichtshof hatte allerdings auch geurteilt, Serbien könne nicht für Srebrenica direkt verantwortlich gemacht werden, da „der Genozid weder von seinen staatlichen Organen noch seinen Beamten verübt wurde“.) Aktuell nähern sich die Strafprozesse gegen General Ratko Mladić, den Oberbefehlshaber der Armee der Republika Srpska (VRS), und Radovan Karadžić, den Präsidenten zu Kriegszeiten der so genannten Republika Srpska Bosnien Herzegowinas, dem Ende, unter anderem auch wegen ihrer Verantwortung für Srebrenica. Diese Urteile werden in jedem Fall die Beziehungen der Staaten und der Völker des ehemaligen Jugoslawien zueinander, sowie die Möglichkeiten einer gemeinsamen Zukunft definieren, insbesondere im Kontext eines Vergebungs- und Versöhnungsprozesses.

Aufarbeitung eines Genozids

In den letzten 20 Jahren wurden Tausende von Seiten über die Tragödie von Srebrenica geschrieben. Im internationalen Strafrecht ist das Blutbad in und um Srebrenica ein Paradebeispiel des so genannten „genocide-in-part“, d.h. einer räumlich begrenzten Massenvertreibung einer bestimmten nationalen, ethnischen, Rassen- oder Religionsgruppe, mit der Absicht, eine solche Gruppe in Gänze zu vernichten. Die Verarbeitung dieses Verbrechens in Den Haag hat auf dramatische Weise die Grenzen des Fachbereichs, die Interpretationsmethoden und die Anwendung der internationalen Konventionen verschoben, aber auch die Gerichtspraxis weltweit.

Der Genozid in Srebrenica ist rechtlich gesehen einwandfrei analysiert worden, die vorhandenen Daten wurden mit faktischen Beweisen und Spuren der Vorbereitung, Ausführung und Verschleierung des Genozids nach der Tat untermauert. Jene, die dieses Verbrechen und seine strafrechtliche Qualifikation noch immer verleugnen, gehören entweder zu einer obskuren kleinen Gruppe von Pseudo-Wissenschaftler/innen, oder sie verkörpern jene politischen Kräfte, meist ansässig in der Republika Srpska (aber auch in Serbien), die Srebrenica als Munition für einen tagespolitischen Schlagabtausch missbrauchen. Hunderte akademische Abhandlungen widmeten sich der Frage der (individuellen und kollektiven) Verantwortung und ihrer rechtlich-dogmatischen Relevanz. Über Srebrenica wird diskutiert, an Srebrenica wird erinnert, Deklarationen werden verabschiedet und offene Briefe und Mahnungen unterzeichnet. Angesichts des weltweiten Blutvergießens in erschütternden Ausmaßen (Syrien, Irak, Nigeria, Somalia, Darfur, Tschad) produziert die akademische Gemeinde bändeweise Studien, in deren Rahmen Srebrenica einen besonderen Stellenwert einnimmt als Instrument einer ethnischen Säuberungskampagne innerhalb des so genannten asymmetrischen Militärkonfliktes und sich so als nützliche Basis für eine komparative, interdisziplinäre Untersuchung fast jeder Form der organisierten Massengewalt anbietet. Srebrenica ist allgegenwärtig. Es ist in gewisser Weise zur Währung für das Leid der Menschen in Bosnien-Herzegowina geworden. Es ist der Raum, in dem wir leben, und alles, was unsere Identitäten ausmacht – nicht nur die bosniakische, sondern auch die serbische und die kroatische, die bosnisch-herzegowinische, die Serbiens und Europa Niemand kann vor den Geistern der Vergangenheit davonlaufen, vor jedem gefangen genommenen, abtransportierten, gefesselten, erschossenen, vergrabenen, ausgegrabenen und erneut vergrabenen Bosniaken Srebrenicas, denn jeder von uns hätte eben dieser sein können. Diese Erkenntnis ist eine Herausforderung, besonders im Kontext des politischen Wirkens auf dem europäischen Weg des heutigen Bosnien-Herzegowinas. Denn die Geister unserer Vergangenheit sind immer auch die Geister unserer Zukunft.

Aus diesem Grund ist es fast unmöglich, über Srebrenica zu schreiben und diese Tatsache zu ignorieren. Wie auch beim Holocaust und der Gründung des Staates Israel, ist der Genozid in Srebrenica zugleich Mahnung, Erbe und politisches Programm, ein einzigartiger Zwischenraum in dem jeder von uns, der in BiH (aber auch außerhalb, als Teil der Diaspora) lebt, seine Wahl trifft zwischen Tätern, Zeugen und Opfern, zwischen denen, die sich erinnern und denen, die verdrängen wollen.

Alles, was Srebrenica heute darstellt, insbesondere im Kontext eines Dialogs und eines Versöhnungsprozesses, aber auch im Bezug auf den Missbrauch dieser Tragödie und ihrer Lizitation durch tagespolitische Streitereien, ist daher erfüllt mit Emotionen, ob wir wollen oder nicht. Daher gelingt es auch mir, einem akademischen und politischen Aktivisten, nicht, meine Gedanken über Srebrenica ohne Emotionen mitzuteilen. Deshalb schreibe ich dies als jemand, der Srebrenica durchlebt, Tag für Tag, auch wenn ich weder altersmäßig noch geografisch das Schicksal Hunderter überlebender Familien teile, die den Genozid bis zu ihrem Tod leben, bis zu ihrem Verschwinden, zu dem sie als eine Gemeinde von Bosniaken aus der Region Drina-Tal und Ost-Bosnien verurteilt waren.

Dies erklärt vielleicht auch die Schwierigkeiten, mit denen sich die post-genozidale bosnisch-herzegowinische Gesellschaft in diesem Augenblick auseinandersetzen muss. Die Erinnerung an Srebrenica und der Umgang mit dieser Erinnerung in der ethnisch, politisch und wirtschaftlich aufgeteilten Realität des Daytoner Bosnien-Herzegowina sind zu genauso starken Generatoren einer politisch-nationalen Emanzipation der Bosniaken geworden, wie sie ein schweres, vielleicht nicht auszuhaltendes Erbe für die neuen Generationen der bosnisch-herzegowinischen Bürgerinnen und Bürger serbischer Nationalität darstellen, die nicht wissen, was für ein Verhältnis sie zu etwas entwickeln sollen, was das Nachkriegs-Deutschland als Kollektivschuldthese kennt und pflegt. In diesem Sinne ist es so gut wie unmöglich, einen gemeinsamen Nenner zu finden und sich über einen Diskurs zu einigen, in dem die Srebrenica-Frage einerseits entpolitisiert wird, andererseits ihre emotionale Ladung und die alles definierende gesellschaftliche Relevanz beibehält, umso mehr da die überlebenden Familienmitglieder der ermordeten Menschen aus Srebrenica – aber auch der anderen 90.000 Kriegsopfer in BiH – immer noch am Leben sind und ihr Überleben und Dasein verstreut in der ganzen Welt führen.

Schuld und Vergebung

Die Aufgaben sind klar, und sie gehen uns alle individuell und kollektiv an: auf der einen Seite müssen die Serben anfangen, innerhalb ihres ethno-nationalen Korpus über die kollektive Verantwortung für den an Bosniaken verübten Genozid im vergangenen Krieg zu reden und zumindest deklarativ eine historische Verantwortung für dieses Verbrechen übernehmen. Denn, so wie es keine kollektive strafrechtliche Schuld gibt, so gibt es auch keine kollektive Unschuld. Das Verbrechen in Srebrenica wurde im Namen des Serbentums verübt. Militär- und Polizeieinheiten, die sich organisiert hatten und die Verbrechen begingen, waren nicht das Produkt einer Diktatur, sondern der Ausdruck „des Willens des serbischen Volkes“, der sowohl bei den Wahlen vor dem Krieg, als auch nach dem Krieg in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien bestätigt wurde. Die größte Herausforderung für die neuen Generationen in Serbien und Montenegro wird das Akzeptieren eben dieser Tatsache sein.

Die Bosniaken auf der anderen Seite müssen endlich ihre Position als Opfer überwinden, wenn sie wollen, dass sich die politischen Prozesse in Bosnien-Herzegowina vom toten Punkt fortbewegen. Der Krieg ist längst vorüber, der Staat Bosnien-Herzegowina in seinem aktuellen Verfassungsrahmen diskriminierend und als Verwaltungsapparat finanziell nicht haltbar, umso mehr da das Politisieren Srebrenicas nach dem Muster des „Fingerzeigs“ auf den Feind nur zu zusätzlicher Spaltung des Staates beiträgt, der zusammengeflickt ist durch das Daytoner Friedensabkommen 1995.

Das bosniakische Interesse muss in diesem Kontext endgültig kompatibel werden mit den Interessen von Kroaten, Serben und allen anderen Ethnien und Völkern, die dieses Land bewohnen. Solange Srebrenica eines der fundamentalen Programme der religiös-nationalen Emanzipation der Bosniaken in Bosnien-Herzegowina bleibt, ist eine Gegensätzlichkeit der bosnisch-herzegowinischen Nachkriegsgesellschaft unumgänglich. Und Gegensätzlichkeit bedeutet die Teilung des Landes. Die Bosniaken müssen also lernen zu verzeihen, wenn sie mit Serben in einem gemeinsamen Staat leben wollen, und wenn sie wollen, dass auch die Serben in einem gemeinsamen Staat mit Bosniaken leben wollen.

Hindernis oder Brücke in die Zukunft?

So wird das vermutlich größte Hindernis, das Srebrenica für Bosnien-Herzegowina darstellt, gleichzeitig auch ihr größtes Potential. Es ist notwendig, einen Dialog über Srebrenica von den o.g. Positionen aus zu eröffnen. Diese Dialoge sollten sowohl innerhalb der bosniakischen und der serbischen/Serbiens Gemeinde geführt werden, als auch miteinander. Allerdings wäre es illusorisch, eine Katharsis zu erwarten. Mein größtes Bedürfnis und meine stille Hoffnung ist es, jedes Mal wenn ich nach Belgrad oder in eine andere serbische Stadt reise, so viele Menschen wie möglich kennen zu lernen, die sich verantwortlich für das fühlen, was den Bosniaken (und Kroaten) im Krieg widerfahren ist. Und das war es, als Bosniake und Bosnier verlange ich nicht mehr. Während meiner häufigen Reisen nach Serbien geschieht dies jedoch sehr selten. Zu selten.

Trotz allem bin ich der Meinung, dass die Erinnerung an Srebrenica eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft bilden sollte, und nicht einen Wall. Dies ist nur dann möglich, wenn wir anfangen, anders über Srebrenica zu sprechen; so, dass wir unsere eigenen Erwartungen im Kontext der Möglichkeiten einer gemeinsamen Zukunft hinterfragen. Es ist gut, sich auch dies zu vergegenwärtigen, während wir Srebrenicas gedenken und über den Genozid nachdenken. Vielleicht beschließen dann die Geister der Vergangenheit endlich eine Waffenruhe mit den Geistern unserer Zukunft.