"Živjeti Srebrenicu" (Srebrenica leben)

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Adnan Rondić bei seiner Buchvorstellung in der Heinrich-Böll-Stiftung

Adnan Rondić hat seit 1995 als Journalist über die Ereignisse in und um Srebrenica berichtet. Seine Erfahrungen hat er nun in dem Buch "Živjeti Srebrenicu" verarbeitet, aus dem wir hier erste Auszüge veröffentlichen.


Die Gedenk- und Begräbnisstätte Potočari

Die Gedenkstätte Potočari ist wichtig für die Überlebenden des Genozids von Srebrenica. Aus vielerlei Gründen. Der Kampf dafür, dass die ermordeten bosniakischen Jungen und Männer gerade dort bestattet werden, war lang, schwer und mit unsicherem Ausgang. Er wurde angeführt von den Frauen aus Srebrenica, die sich um den Verein „Bewegung der Mütter der Enklaven Srebrenica und Žepa“ und deren Vorsitzende Munira Subašić scharten.

Die ursprüngliche Idee der bosnischen Behörden war, dass die Gedenk- und Begräbnisstätte auf dem Gebiet der Föderation Bosnien und Herzegowina in Ravni Stanovi in der Nähe von Kladanj entstehen sollte. Aber die von dem genannten Verein organisierten Frauen aus Srebrenica waren der Auffassung, dass die Entscheidung über den Ort der Beisetzung diejenigen treffen sollen, deren Angehörige im Juli 1995 ermordet wurden.

Sie entschieden sich dafür, eine große Umfrage unter den Vertriebenen durchzuführen, die in dieser Zeit vorwiegend in und um Sarajevo und Tuzla konzentriert waren. Es war ein schweres Unterfangen, vor allem wegen der begrenzten finanziellen Mittel. Aber das Ergebnis war wie erwartet: Der größte Teil der Befragen – über 83 Prozent – wollte, dass ihre Toten an dem Ort beigesetzt werden sollten, an dem sie sie zum letzten Mal gesehen haben. An dem Ort, wo die Jungen und Männer von den Frauen und Kindern getrennt wurden. In Potočari.

Zumra Šehomerović erinnert sich an diese große Aufgabe voller Herausforderungen, die von allen Seiten auf sie hereinstürmten. Sie erinnert sich an mehrere Umfrageformulare, die durchgestrichen waren und auf denen handschriftlich geschrieben stand: „Mein Sohn lebt“ oder „Mein Bruder lebt“. Und damals im Jahre … gab es noch immer welche die glaubten und hofften, dass ihre Liebsten noch leben und nach Jahren ihres Verschwindens von irgendwoher kommen werden.

Alle Geschehnisse, die sich in jenem Juli in Srebrenica ereignet haben, sind untrennbar mit Potočari verbunden. Sowohl das letzte Treffen mit den Liebsten als auch der Genozid und die ethnische Säuberung. Und auch die Konfrontation mit den sterblichen Überresten. Deswegen wurde die Entscheidung des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina, Wolfgang Petritsch, vom 25. Oktober 2000 mit großer Erleichterung aufgenommen. An diesem Tag wurde der Ort für die Gedenk- und Begräbnisstätte für die im Genozid Ermordeten festgelegt.

Einige Monate später, im Mai 2001, wurde ebenfalls mittels Entscheidung des Hohen Repräsentanten die Stiftung „Gedenk- und Begräbnisstätte Srebrenica-Potočari“ gegründet, die das Ziel hat, den Gedenkkomplex für die ermordeten Bosniaken zu erbauen und zu erhalten.

Neben dem Ort für Beisetzungen gehört zum dem Gedenkkomplex auch eine ehemalige Akkumulatorenfabrik. Dies geht auf die Entscheidung eines weiteren Hohen Repräsentanten, Paddy Ashdown, zurück. Diese Fabrik nutzte vor der Einnahme von Srebrenica das niederländische Bataillon der Vereinten Nationen. In ihm suchten zehntausende Flüchtlinge im Juli 1995 Zuflucht.

Der Hohe Repräsentant Christian Schwarz-Schilling fasste letztendlich am 25. Juni 2007 den Beschluss, dass die Gedenk- und Begräbnisstätte für die Opfer des Genozids Srebrenica-Potočari, wie sie offiziell heißt, unter die Zuständigkeit des bosnisch-herzegowinischen Staates fällt und von der SIPA, der Agentur für Untersuchung und Schutz bewacht wird.

Bis jetzt, also bis kurz vor dem zwanzigsten Jahrestag des Genozids, wurden 6.241 Personen beigesetzt. Davon 1.042 Minderjährige bis 18 Jahre und 56 Frauen.

Das jüngste Opfer wurde am 11. Juli 2013 bestattet. Es war die neugeborene Tochter von Hajrudin und Hava Muhić. Wenige Tage vor der Beisetzung wurde ihre Geburtsurkunde ausgestellt. Geburts- und Todestag waren gleich: 11. Juli 1995.

Auf ihrem Grabstein und auf ihrer Geburtsurkunde wurde auf Wunsch der Mutter als Vorname Fatima eingetragen. Unter den Begrabenen ist auch ein Katholik: Rudolf Hren, dessen Eltern aus der Vojvodina nach Srebrenica zogen als er drei Monate alt war.

Rudolf ist einer von vier Katholiken, die ihr Leben beim Genozid in Srebrenica verloren. Er ist jedoch der einzige, der in Potočari begraben wurde. Die Bestattung wurde nach christlichem Ritus auf Wunsch seiner Mutter Barbara vorgenommen, die in Srebrenica 1992 auch ihren Sohn Ivan verlor. Diesem Wunsch schlossen sich auch seine Ehefrau Hatidža und seine Tochter Dijana an.

Jedes Jahr hört man diese Aussagen:

„Vier meiner Brüder kamen nicht wieder … Der Vater ist der Fünfte … Ich habe nur die Mutter, keinen anderen mehr …“
„Ich habe den sechzehnjährigen Sohn verloren … und den Mann.“
„Sie haben meinen Sohn abgeführt, hier aus Potočari … Er war sechzehn Jahre und zwei Monate alt …“
„Alle meine Kinder sind umgekommen … Sechs Söhne … zwei Brüder … acht Cousins … und am Ende haben sie meine Schwester aufgehängt … Ich habe keinen mehr.“
„Was habe ich nicht alles durchgemacht, was nicht alles verloren … Ich habe den Bruder, zwei Cousins sowie deren zwei Söhne verloren. Ich habe meine fünf Enkel und meine beiden Söhne verloren … Mir geht es wieder – Gott sei Dank – einigermaßen … Wenn ich es mir überlege, so hat mir dieses Srebrenica 24 genommen.“
„Ich begrabe heute drei Söhne … und einen Bruder. Die Tochter habe ich zu Hause zu Beginn des Krieges verloren.“

 


    „Die Schlüsselfrage war, ob die Medienberichterstattung über den Genozid in Srebrenica und die Folgen desselben im Zeitraum Juli-Oktober 1995 in der Bandbreite von reiner Ereignisübertragung (Medien als Berichterstatter) bis zur Einflussnahme auf diplomatische Aktivitäten und Verhandlungen hinsichtlich Srebrenica (Medien als Akteure oder Mediendiplomatie?) erfolgte. Es war außerdem wichtig herauszufinden, ob sich diplomatische Aktivitäten geschlossenen Typs mit Aktivitäten offenen Typs abwechselten und wie groß der Einfluss der Medien auf den Ausgang der diplomatischen Aktivitäten war.
    Bei der Untersuchung kam es zu folgenden Schlussfolgerungen:

  • Diplomatische Aktivitäten hinsichtlich des Genozids in Srebrenica im Juli 1995 fanden ausschließlich als Diplomatie des geschlossenen Typs statt, die keinerlei Einfluss auf die militärische Verhinderung des Genozids gehabt hat.
  • In Krisensituationen, wie in Srebrenica im Juli 1995, wirkten die Medien als Transporteure der Ereignisse. Eine Teilnahme der Medien an jeglichen militärischen oder politischen Verhandlungen hinsichtlich der Ereignisse vor Ort war unmöglich.
  • Erst mit der Thematisierung der Folgen des Genozids in Srebrenica erlangen die Medien größeren Einfluss auf diplomatische Verhandlungen. Es kommt zu einer Mediendiplomatie.
  • Auch nach 1995 setzen einige Medien, vor allem aus Serbien und solche unter staatlicher Kontrolle, die Relativierung des Verbrechens fort.

Diese Relativierung zeigt sich besonders bei der Präsentation „der anderen Seite“ bzw. „der anderen Auffassung“, mit denen der durchgeführte Genozid negiert wird. Dabei werden die Massenexekutionen nicht abgestritten aber die Zahl der Ermordeten in Frage gestellt und Gründe angeführt, die die Verbrechen rechtfertigen sollen.

Heute beziehen sich die diplomatischen und medialen Aktivitäten vorwiegend auf die Wichtigkeit der Erinnerungskultur.
Es muss jedoch hervorgehoben werden, dass für die serbische Öffentlichkeit, deren Meinung sich zweifelsohne weiterhin unter dem Einfluss der wichtigsten Medien bildet, die Relativierung dieses Verbrechens charakteristisch ist und versucht wird, eine „Balance“ hinsichtlich der Zahl und Qualität der Morde herzustellen.

Dazu bemerkt Zlatko Paković, Kolumnist der Belgrader Tageszeitung „Danas“: „Die Frage der anderen Seite heute ist manipulierend, da von der anderen Seite falsche Subjekte angeführt werden (…)“ Die andere Seite ist selbst in dem Thema, über das sie debattiert, involviert, so dass, wenn wir über den Genozid in Srebrenica sprechen, uns klar sein muss, dass die andere Seite nicht von Verbrechern und ihren Vertretern repräsentiert wird, sondern von denjenigen unter den überlebenden Opfern und ihren Vertretern, die z.B. die Taten verzeihen im Unterschied zu jenen, die sie nicht verzeihen wollen. Juristische Sanktionen gegen die Täter stehen natürlich nicht zur Debatte.

 


„Schnee“

Spätherbst. Mein Kollege Jasmin Omerspahić, Kameramann, und ich fahren nach Srebrenica. Die ganze Zeit regnet es. Bald wird es schneien. Wir kommen zu unserer Gastgeberin Šahida Abdurahmanović nach Dugo Polje. Sie lebt allein im Haus ihres verstorbenen Bruders, der beim Genozid in Srebrenica verschwand. Sohn und Tochter leben in Frankreich. Sie hat noch drei Schwestern: Ramiza, die mit ihrer Familie nach Bratunac zurückkehrte, Bida, die in Potočari lebt und ihren Mann im Juli 1995 verloren hat, und Tahira, die ihren Mann und ihren minderjährigen Sohn verlor, und mit der Tochter Šahza, einer erfolgreichen Studentin, in Amerika lebt.

Bei Šahida sind auch Munira und Zumra zu Gast. Es kommen noch Efendi Damir mit seiner Frau Adisa und den Töchtern Amina und Merjem. Wir sitzen bis spät in der Nacht. Es ist kalt. Aber das Zimmer, in dem ich schlafe, ist geheizt. Das Feuer bullert im Herd. Ich habe große Fenster vor mir. Es beginnt zu schneien. Ich kann nicht einschlafen. Ich denke über die Güte der Menschen nach, mit denen ich die Nacht verbracht habe. Und über das Böse derjenigen, die ihr Leben für immer verändert haben.

Immer die gleiche Frage ... Ich quäle mich jetzt während ich schreibe genau wie damals sie zu stellen. Klar und ohne Umschweife ... Meine Finger versagen beim Schreiben und Löschen so wie mein Gehirn in jener Nacht „stotterte“ beim Versuch, das eine Wort in den Vordergrund zu stellen: WARUM?

Es gibt viele Antworten. Oder vielleicht wenige? Oder vielleicht gibt es überhaupt keine ...

Ich bin eingeschlafen. Am Morgen sehe ich durch das Fenster. Schnee. Tief und massenhaft.

Und ein unwirkliches Bild. Das Auto, mit dem wir aus Sarajevo gekommen sind, ist zugeschneit. Und diese wunderbaren Frauen befreien mit Schaufeln in den Händen das Fahrzeug. Sie räumen die enge Gasse, die wir benutzen müssen ... Und ich stehe einfach da und sehe zu.
Ich erblicke eine alte Frau aus Šahidas Nachbarschaft. Sie ist fast achtzig Jahre alt und räumt mit hochgezogenen Pluderhosen den Schnee weg.

Damit ich durchkomme. Ihr Anblick verstört mich. Ich gehe hinunter zu dieser Alten, um ihr die Schaufel aus der Hand zu nehmen und ihre Arbeit fortzusetzen. Sie lächelt etwas und sagt: „Lass mich ruhig noch ein bisschen  … Dies ist der Weg, den meine Söhne damals entlang gingen …“

Mir kommen die Tränen. Damals und heute. Mich packt die gleiche Wut. Und dieses gleiche WARUM? auf das es keine Antwort gibt. Oder vielleicht doch gibt? Und zu viele.“

 


Auszüge aus dem Buch "Živjeti Srebrenicu" (Srebrenica leben) von Adnan Rondić
Hrsg. Heinrich Böll Stiftung Sarajevo
ISBN: 978-9958-577-16-1

Übersetzung aus dem Bosnischen ins Deutsche: Christoph Rolle