Vortrag: "Grüne" Freiheit? Einige grundsätzliche Überlegungen

"Veggieday" ist zur Chiffre geworden für ein paternalistisches Politikverständnis der Grünen. Ist "grüne" Freiheit wohlmöglich gar nicht möglich? Rainer Forst über die Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit. Ein Vortrag beim Werkstattgespräch Freiheit grün denken am  17.10.2014.

1. Freiheit und Gerechtigkeit

Es ist ein (verbreiteter) Irrtum, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit als gegensätzliche "Werte" zu konstruieren. Denn wenn wir über politische Freiheit sprechen, also die Freiheit, deren Genuss und rechtliche Sicherung Bürger/innen kollektiv demokratisch rechtfertigen und voneinander entsprechend erwarten können, dann ist ersichtlich, dass dies nur eine politisch und gesellschaftlich legitimierte und kontrollierte, in diesem Sinne sozial erzeugte Freiheit sein kann. Es gibt hier keinen "natürlichen" Anspruch auf bestimmte Freiheiten vor dem Gerechtigkeitsfilter demokratischer Rechtfertigungen, wohl aber den Anspruch darauf, dass jede Freiheitsbeschränkung mit guten Gründen gerechtfertigt werden muss (und ebenso jeder Anspruch auf bestimmte Freiheiten). Dies entspricht dem Kantischen Rechtsprinzip (als Gerechtigkeitsprinzip), dem zufolge eine jede Handlung rechtens ist, "die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann". Das Finden des "allgemeinen Gesetzes" ist die Frage der Gerechtigkeit.

Anders gesagt ist die Gerechtigkeit gar kein Wert unter anderen, sondern das oberste Prinzip einer politischen Ordnung, und die Freiheit ist ein Wert, der durch die Gerechtigkeit bestimmt und einforderbar wird. BürgerI/innen haben als Freie und Gleiche ein grundlegendes Recht auf Rechtfertigung, das besagt, dass die Ordnung der Freiheit, der sie angehören, ihnen gegenüber nach wechselseitig und allgemein rechtfertigbaren Normen sich richten soll und die gesellschaftlichen Institutionen dies reflektieren. Die Freiheit der Einzelnen "gehört" weder der Gesellschaft als Großinstanz noch den Einzelnen als vorpolitischen Wesen, sondern wird im Modus der Rechtfertigung festgelegt. Das ist das Prinzip der Gerechtigkeit und der Demokratie als Medium der Gerechtigkeit. In diesem Medium muss sich erweisen, wer "Vorfahrt" hat: der Schnellfahrer oder diejenigen, die sicher eine Straße überqueren wollen; die Freiheit, Löhne und Gehälter auf dem Markt festzulegen, oder die Freiheit von dem ökonomischen Druck, einem Niedriglohn zustimmen zu müssen, um ein Einkommen zu haben; die Freiheit, eine Schule seiner Wahl besuchen zu können, wenn man es sich leisten kann, oder die Freiheit, dies auch dann tun zu können, wenn man aus ärmeren und bildungsferneren Schichten kommt. Und so weiter. Diese Konflikte sind nicht solche der Freiheit gegenüber der Gerechtigkeit, wie es oft ideologisch dargestellt wird, sondern solche unterschiedlicher Freiheitsansprüche, die die Gerechtigkeit prüfen muss. Oder besser: der Diskurs unter prinzipiell Gleichberechtigten.

Daraus ergibt sich bereits die entscheidende Freiheitsdimension: Die Möglichkeit, an diesen Diskursen als gleichberechtigte Bürger/in teilnehmen zu können. Hier entscheidet sich die Freiheit: am Beteiligtsein an der Bestimmung grundlegender gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Grünen waren stets die Partei, die diese Teilnahmefrage immer wieder stellt – in Bezug auf Minderheiten, Marginalisierte und Diskriminierte oder auch schweigende Mehrheiten, die sich mit dem Bestehenden abfinden, weil sich keine Alternative aufzutun scheint. Die wirkliche Freiheit im politischen Sinne aber ist die Freiheit des Auftuns von Alternativen, des Aufbrechens verkrusteter, nicht zu rechtfertigender und freiheitshemmender Strukturen.

2. Negative und positive Freiheit

Die politische Philosophie unterscheidet gerne zwischen der negativen Freiheit von Zwang und der positiven Freiheit, etwas tun zu können. Auch dieser Unterschied, so relevant er ist, darf nicht überstrapaziert werden: die negative Freiheit ist immer auch eine zu etwas, und die positive setzt immer auch einen Freiraum des Tunkönnens voraus. In einer freiheitlichen Gesellschaft wird dieser Freiraum nicht mit staatlichen ethischen Vorgaben, eine bestimmte Lebensform des Guten zu realisieren, gefüllt. Vielmehr muss eine pluralistische Gesellschaft viele Lebensformen in sich gerecht, also gleichberechtigt, vereinen, ohne eine "Leitkultur" zu feiern. Die rechtliche Freiheit ist eine von Freien und Gleichen, die ethische Autonomie des guten Lebens ist in ihr freigestellt, solange nicht die gleichen Rechte anderer berührt sind.

Die Grünen stehen hier an einem kniffligen Punkt: Einerseits sind sie stets die Partei der multikulturellen Vielfalt und Offenheit gewesen, andererseits neigen sie dazu, die Alternative, von der ich oben als Aufbruch bzw. Aufbrechen sprach, selbst als eine ethische zu verstehen: als die richtige Lebensform, die im Einklang mit der Natur steht, nachhaltig ist, kommunitär usw. – bis zur veganen Ernährung. Hier liegt eine programmatisch angelegte Spannung vor, die sich immer wieder bemerkbar macht, zuweilen auch schädlich, wenn es um die Versuchung zu Lebensformverordnungen geht.

Aber auch hier hilft eine Reflexion auf die Gerechtigkeit: Die Kritik an bestimmten Lebensformen als verschwenderisch, als Menschen und Natur ausbeutend usw. darf nicht ethisch im Sinne einer richtigen oder "guten" Lebensform paternalistisch daherkommen, sondern als Sprache der Gerechtigkeit. Wer andere ausbeutet, sei es in Bezug auf natürliche oder soziale Ressourcen, handelt ungerecht, und dies zu unterbinden heißt nicht, ihm eine "bessere" Lebensform aufzuzwingen, sondern die Grenzen der Gerechtigkeit zu markieren. Wer wie lebt und welchen Müll produziert, gehen Staat und Nachbarn erst dann etwas an, wenn andere darunter leiden und ihre Grundrechte verletzt werden.

3. Soziale Freiheit

Neben der eben kurz erwähnten rechtlich gesicherten Freiheit und der ethischen Freiheit der Selbstverwirklichung, auf die jeder nach allgemeinen Gesetzen einen gleichen Anspruch hat, ist bei unserem Thema der gleichen Freiheit für alle – und es soll ja heißen: der gerechterweise gleichen und größtmöglichen Freiheit für alle, um ein "levelling down" auszuschließen – die soziale Freiheit zu bedenken. Damit meinen wir die Freiheit, nicht in einer Lebensform eingeschlossen und von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden, was die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen wie Bildungsmöglichkeiten, Erwerbsmöglichkeiten, gesellschaftliche Tätigkeiten aller Art und politische Teilnahme angeht. Denn die rechtlich garantierten Freiheits- und Betätigungsrechte, negativ oder positiv, müssen einen "Wert" haben (J. Rawls), das heißt, man muss in der Lage sein, sie auch zu nutzen. Sonst sind sie nur formal gegeben, aber nicht als echte Möglichkeit. Nicht nur materielle Ressourcen, so wichtig sie sind, gehören somit zu den "Freiheitsmitteln", sondern auch Fähigkeiten und Kenntnisse, das Sichauskennen und das Machenkönnen. Die Freiheit, an der Klassenfahrt zum Meer teilnehmen zu können, kann durch Geldmangel eingeschränkt sein, aber auch dadurch, dass das Kind nicht schwimmen kann oder fürchtet, auf kulturelle Unterschiede und religiöse Überzeugungen werde dort keine Rücksicht genommen. All das verweigert Freiheitsmöglichkeiten, und so ist soziale Politik in all ihren Dimensionen eine Freiheitspolitik – eine, die kulturelle Differenzen respektiert.

Soziale Politik kann freilich auch gängeln und Freiheit beschneiden, etwa wenn man, um einen Zuschuss für die Fahrt zu bekommen, aufwändige, schwer verständliche und stigmatisierende Anträge stellen muss – aber man muss dann schon genau sehen, um welche und wessen Freiheit es hier geht. Der Rückzug des Staates ist da keine Hilfe. Eine Gesellschaft der Freien und Gleichen ist eine Gesellschaft derer, die solche Zwangslagen nicht produziert. Und sage niemand, die Pflicht, solche Zwangslagen durch die Verbesserung öffentlicher Institutionen zu vermeiden, sei keine Politik der Freiheit, sondern der Unfreiheit und der Zwangsbesteuerung. Gesellschaften produzieren immer Zwänge – aber es kommt darauf an, ihnen mit Hilfe der Gerechtigkeit entgegenzuwirken. Die Mittel, die dazu nötig sind, muss eine demokratische Gemeinschaft aufbringen. Darin liegt kein illegitimer Zwang. Das muss eine "Freiheitspartei" zu sagen wagen.

4. Demokratische Freiheit

Es wäre allerdings insgesamt ein Fehler, in diesem Zusammenhang das Bild vom (all)mächtigen Staat gegenüber den individuellen Freiheitsmonaden zu reproduzieren. Denn die wichtigste politische Freiheit ist, wie ich eingangs sagte, die demokratische Freiheit, sich an den Prozessen der Rechtfertigung beteiligen zu können, in denen bestimmt wird, wer welche Freiheitsmittel beanspruchen kann und welche nicht. Die Freiheit einiger Marktteilnehmer kann mit der Unfreiheit vieler einhergehen, die mit Niedriglohn, wirtschaftlicher Verdrängung, Verkehr oder Schmutz leben müssen. Und freiheitlich ist nicht der Staat, der sich aus diesen Konflikten zurückzieht oder Kompensationspakete schnürt, sondern der, in dem die Verfahren der Entscheidung über solche Freiheiten so gestaltet sind, dass die Betroffenen über ausreichende demokratische Rechtfertigungsmacht verfügen. Dazu bedarf es einer Reihe von Mitteln wie Rechten und sozialen Möglichkeiten (Informationen, Kommunikation, Teilnahmeperspektiven etc.) – und dies sind die entscheidenden Freiheitsmittel. Sie ermöglichen politische Autonomie. Und ohne diese gibt es keine wirkliche politische Freiheit. Auf diese Dimension der Teilnahme immer wieder hinzuweisen, war und muss auch fortan eine Stärke der Grünen sein.