Umarmungen

Häuserfassade
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Er war sauberer und ordentlicher als jeder Untermieter, der jemals die Wohnung mit ihr geteilt hatte

Sie weiß nicht viel von ihrem Untermieter. Er ist leise und ordentlich. Er spricht gut deutsch und seine Frau ist tot. Ein Beitrag aus der "Berliner Anthologie" zum Internationalen Literaturfestival.

Er war sauberer und ordentlicher als jeder Untermieter, der jemals die Wohnung mit ihr geteilt hatte, auch ruhiger. Selten hörte sie ihn in seinem Zimmer hantieren oder herumgehen. Besuch bekam er nie.

Frau Meiser hatte oft das Bedürfnis über ihn zu sprechen und ihrem Erstaunen Luft zu machen. Sie erzählte der Frau im Milchladen davon, dass er seine Schuhe mit Zeitungspapier ausstopfte und dass er, wenn er den Herd benützte, nie die kleinste Spur hinterlasse, nicht einmal einen Fettspritzer. Sie sprach auch mit Rita über ihn. Rita, die mit ihr zusammen in dem kleinen stickigen Raum neben dem Imbisslokal saß am Donnerstag und Freitag, wenn man in der Lottoannahmestelle alle Hände voll zu tun hatte. "Man riecht ihn nicht in der Wohnung, verstehen Sie", sagte sie, "man merkt gar nicht, dass er da ist." Und Rita, die gerade einmal wieder verliebt war und viel öfter lachte, als es nötig gewesen wäre, wiegte den Kopf und sagte "stille Wasser…".

Frau Meiser lachte mit ihr, aber nur aus Verlegenheit. Sie wusste nicht zu ergründen, warum sie sich insgeheim wünschte ihn singen zu hören unter der Dusche wie ihren verstorbenen Mann, Gott hab’ ihn selig, oder wie beruhigend sie es gefunden hätte, wenn er abends schlüsselklappernd und türenschlagend heimgekommen wäre, wie Männer  eben heimkommen. Sicher lag es daran, dass sie sich einsam fühlte. So schlüpfte er herein, lautlos, wie ein Schemen und nur an dem Lichtstreifen unter seiner Tür konnte sie erkennen, dass er wieder unter ihrem Dach weilte, wie sie es nannte. Er bewohnte das alte Herrenzimmer, das zur Straße ging. Man konnte bei offenem Fenster die Köpfe der Leute vorbeiziehen sehen wie im Kasperltheater, das hatte er gesagt, aber ohne zu lächeln oder sich zu beklagen – er beklagte sich nie.

Er hieß Nazim und er kam aus Istanbul. Ein kleiner, etwas gebeugter Mann, dessen Alter sie nicht genau schätzen konnte. Sein Haar war noch immer schwarz und voll, seine Augen aber, Augen dunkel und matt glänzend wie Schiefer, sahen müde aus und wie erstaunt, dass sie immer noch alles sehen könnten, aber vielleicht lag das daran, dass sie in bräunlichen Höhlen lagen, in einem Gesicht, das sonst blass war und überraschend glatt. Deutsche Männer altern eben anders, dachte Frau Meiser, und sie dachte es zärtlich, als schließe dieses Wissen ein Geheimnis ein, das zwischen ihr und Herrn Nazim eine Gemeinsamkeit bildete.

"Zuerst habe ich ihn ja gar nicht haben wollen, verstehen Sie, Rita, ich habe dieser Frau, die ihn mir brachte gesagt: Muss das sein, so einer von irgendwo anders her, wer weiß wie der leben will, wer weiß was der gewohnt ist, Sie verstehen?"

Rita verstand, sie hatte diese Geschichte schon öfter angehört. Sie prüfte den Tippschein eines jungen Mannes, den Kugelschreiber, der an einer Spirale am Pult festgemacht war, in der erhobenen Hand. Frau Meiser zählte das Geld und gab ihm heraus. Und sie hat gesagt, "der Mann hat einiges Schlimmes erlebt, geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß, Frau Meiser", das hat sie gesagt, "Ihrem Herzen einen Stoß."

Natürlich machte sie manchmal sauber in seinem Zimmer, obgleich er das nicht wollte, unterm Bett und hinter dem Spiegel, das gehörte sich einfach so. Über seinem Bett hing ein besticktes buntes Tuch, und ein Stück dieses Tuchs war auch über seinen Nachttisch gebreitet. Dort stand das Foto einer Frau, ein helles Profil mit schön gestreckter Nase und einer feinen langen Augenbraue darüber. Man konnte sehen, dass sie hatte lächeln wollen, den Blick gesenkt und dass sie dieses Lächeln unterdrückt hatte, nur in der Braue konnte man es ahnen! Auch die Fotos der Kinder besah Frau Meiser jedes Mal genau. Sie trug sie ans Fenster und nahm die Brille aus der Jackentasche. Sie wischte die Rahmen ab, obgleich das nicht nötig war. Irgendetwas war geschehen mit dieser Frau und mit diesen Kindern.

Er war nicht der Mann, der seine Frau im Stich ließ, das wusste sie. Gerne hätte sie mit ihm darüber gesprochen, ja, sie hätte gerne eine Blume vor die Fotos gestellt, aber das ging natürlich nicht. Ihr Kurt, der sie aus ihrem Silberrahmen vom Nachttisch aus betrachtete, hatte immer Blumen um sich, Primeln und Alpenveilchen und manchmal Maiglöckchen, das waren seine Lieblingsblumen gewesen. Auf dem Tischchen am Fenster lagen Bücher und Papiere. Er schrieb viel und schnitt Artikel aus Zeitungen aus, um sie zu bündeln und aufzuheben; das beschäftigte ihn am Vormittag. Nachmittags ging er weg und kam erst abends zurück, seine Bücher unter dem Arm, seine Einkäufe in einer Stofftasche auf  der "Rettet die Wale" stand.

"Vielleicht gibt er Sprachstunden", sagte Rita und feilte sich die Nägel. Sie wollte sich am Abend mit ihrem neuen Geliebten treffen und hatte Frau Meiser das Kleid gezeigt, das sie unter der Wolljacke verborgen hatte. "Vielleicht macht er Übersetzungen, er spricht doch so gut deutsch." Frau Meiser nickte vor sich hin. Ja, er sprach deutsch, womöglich schöneres Deutsch als sie selbst. Er suchte nach Worten, wenn er etwas ausdrücken wollte, auch das Unwichtigste, und fand ausgefallene Sätze, die Frau Meiser nicht geläufig waren. Als sie ihn aus seinem Zimmer gerufen hatte und er mit ihr vor dem Gasherd stand, der sich immer wieder ausschaltete und bedrohlich zischte, hatte er mit einem Zahnstocher die kleinen Öffnungen gereinigt, aus denen sonst die blauen Flämmchen züngelten, hatte sich niedergebeugt und geblasen. "Ich habe ihm neuen Odem eingehaucht", hatte er gesagt und gelächelt.

Sein Lächeln, es kam so selten, traf Frau Meiser mitten ins Herz und sie dachte an den Stoß, den sie ihrem Herzen gegeben hatte, vor einem Jahr, als er einzog, und sie sagte sich, was für eine kindische alte Frau sie doch sei, solche Gedanken zu haben, und sie wagte nicht, Rita davon zu erzählen, die sicher gelacht hätte, denn einmal hatte Rita schon gesagt: "Sie sind verliebt in Ihren Untermieter", und danach war Frau Meiser tagelang verlegen gewesen, wenn sie Herrn Nazim auf dem Flur begegnete oder als sich ihre Hände berührten, morgens, als er ihr die Zeitung hereingeholt hatte.

Seine Frau hieß Anna oder hatte Anna geheißen, das wusste Frau Meiser, denn manchmal sprach er von Anna, wenn er in der Küche saß, an der Ecke der Bank, um sich Nachrichten anzuschauen oder wenn ihn Frau Meiser nachts neben dem Eisschrank überraschte, wo er im Stehen ein Butterbrot aß, den Teller auf den Eisschrank gestellt und in eine Zeitung vertieft. Einmal, als er sich die Hand aufgeschürft hatte und Frau Meiser ihm mit einer Pinzette die Holzsplitter aus dem Daumenballen zog und dabei beruhigende Worte vor sich hinmurmelte, hatte er gesagt:

"Die Liebe eines Menschen ist unvergänglich. Annas Liebe begegnet mir in anderen Menschen, sie schickt sie mir, glauben Sie nicht auch, Frau Meiser? Sie schickt sie mir in andere Menschen verkleidet." Und als Frau Meiser verlegen und verwirrt schwieg und nicht mehr wagte, ihre Augen zu heben, weil er sonst hätte sehen können wie stark es sie rührte, wenn jemand etwas Schönes sagte, hatte er ihre Hände gedrückt. Sie war anfällig für "das Schöne". Das war, wie sie wusste, eine Schwäche von ihr. Kurt hatte sie ausgelacht, wenn sie ihm morgens Sprüche aus dem Kalender vorlesen wollte, er hatte sie eine Gefühlsduslerin genannt oder eine sentimentale Romantikerin. Er schämte sich, wenn sie im Kino weinte und murrte, wenn sie abends im Bett Romane las.

An diesem Abend ging Frau Meiser mit einem Band deutscher Balladen zu Bett, den hatte sie noch aus ihrer Schulzeit und sie las die Zeilen
"… und mein Stamm sind jene Asra, Welche sterben, wenn sie lieben …"

ein paar Mal und mit feuchten Augen. Vielleicht hatte Rita recht mit dem was sie gesagt hatte, aber in der Liebe kannte Frau Meiser sich nicht gut aus, jedenfalls nicht im wirklichen Leben.

Ritas junger Mann kam sie abholen. Er blieb etwas linkisch neben der Tür stehen und wechselte seinen Motorradhelm von einer Hand in die andere. Rita glitt hinter dem Pult hervor und drängte den Mann mit dem Ansturm ihrer Wiedersehensfreude gegen die Regale mit den Tippscheinen. Sie legte ihre Arme um ihn, und für Frau Meiser sah es so aus, als werde sie gleich auch noch ihre Beine um ihn winden und an ihm hinaufklettern wie ein Äffchen an einem Baumstamm. Er grinste, setzte ihr den Helm auf und schleppte sie aus dem Laden. Frau Meiser blieb zurück mit klopfendem Herzen. "Hör auf, verrücktes Ding", murmelte sie und legte die Hand auf die Brust.

Am Abend roch es in der Wohnung nach Maiglöckchen. Frau Meiser hängte gedankenvoll ihren Mantel auf – Maiglöckchen – aber schon sah sie den vertrauten Regenumhang sorgsam auf seinen Bügel gezogen, neben ihm machte sich eine lindgrüne unförmige Nylonjacke breit, und schon hörte sie ein helles, hohes Frauenlachen, das wie es schien, zu Farbe und Material dieses fremden Kleidungsstückes passte. Das Lachen kam aus seinem Zimmer.

Die Frau, die später im blauen Dämmerlicht des Fernsehers in der Küchentür stand und an der Herrn Nazims Hände zerrten, musterte Frau Meiser mit kaltem Blick. Die saß auf der Bank, die Füße auf den Küchenhocker gelegt und verschränkte unter diesem Blick die Arme über der Brust. Herr Nazim, der noch immer versuchte die Frau weiterzudrängen, trat einen Schritt in die Küche und sagte: "Meine … Bekannte wollte sich verabschieden, Frau Meiser. Das ist Frau Köberlein."

Frau Köberlein machte keine Anstalten, die Hand auszustrecken, und Frau Meiser war froh, dass sie die Arme weiter verschränkt hielt und sich nicht gerührt hatte. Die Frau hatte viele und krause Haare, ob weiß oder blond konnte man in diesem Licht nicht genau sehen. Darunter wirkte ihr Gesicht klein und dreieckig wie das eines ausgestopften Frettchens. Tückisch fand Frau Meiser, hart und gewöhnlich. Sie selbst tat sich viel auf ihre Gesichtsform zugute: "Menschen mit runden Gesichtern sind gutmütig und fröhlich" hatte Kurt immer gesagt. Sie hatte es auch nicht nötig sich mit ihrem Haar zu brüsten. Zwei Kämme rechts und links über den Ohren, das genügte Frau Meiser, das hatte immer genügt. Herr Nazim, der die Lage mit einem raschen Blick eingeschätzt hatte, verschwand mit der Frau aus der Türöffnung.

Er ging mit ihr fort und Frau Meiser hörte ihn nicht zurückkommen. Sie ging zu Bett und nahm ihr Abendessen mit. Eine Kanne Kakao und drei Buttersemmeln, solch ein Imbiss hatte sie sonst immer glücklich gemacht wie als Kind.

"Sie ist ein einsamer Mensch", erklärte ihr Herr Nazim am nächsten Morgen, ohne dass sie ihn gefragt hätte. "Ein, wie sagt man, ein unbeweglicher, unzugänglicher Mensch, verstehen Sie, nicht wie die Halme, die sich im Wind biegen, so wie ich, wie Sie, nein, wie soll ich sagen – spröde. Solche Menschen haben es schwer mit sich." Nur kurz fühlte Frau Meiser in sich den Wunsch, ihre Machtstellung in der Wohnung auszunutzen und ihm den Umgang mit "dieser Frau" zu verbieten, jedenfalls unter ihrem Dach. Aber sie kam davon ab und schämte sich. Sicher tat ihm ein wenig Abwechslung gut, und hatte er nicht einmal gesagt, sie sei ein guter Mensch?

Er stand am Herd und toastete sein Schwarzbrot, wie er es liebte, über der Gasflamme. Sie sah seinen Nacken, kein breiter Nacken, zwei symmetrische Wirbel sträubten das kurze Haar, winzige Sonnenräder. Sie hatte sie noch nie gesehen und wandte die Augen ab, weil sie Lust hatte, sie zu berühren. Sollte sie aufstehen und ihn von hinten umarmen? Sollte sie sagen: "Auch ich habe es schwer mit mir"? Der Wunsch, den Geruch seines Morgenmantels einzuatmen überkam sie wie eine kleine Übelkeit, seine nackten Füße auf dem Plattenboden – Bubenfüße.

Sie ging aus der Küche. Als er fort war, setzte sie sich auf sein Bett und betrachtete die Fotos der Kinder und der Frau. Sie nahm einen seiner Schuhe vom Boden auf und polierte mit dem Ärmel an ihm herum. So alt musste ich werden, um so zu sein, dachte sie. Wie soll es nur weitergehen mit mir, und sie lächelte. Rita erzählte ihr von dem Abend in einem Lokal in dem eine Bauchtänzerin auftrat: "Alt", sagte Rita, "so um die vierzig, aber Hüften hatte die und zittern konnte die mit denen."

Alles was sie in letzter Zeit hörte, tat Frau Meiser weh und stand in irgendwelchen dunklen Zusammenhängen mit dem, was in ihrer Wohnung geschah, denn es geschah dort etwas, und sie hatte keinen Anteil daran und keine Macht es zu verhindern. Schlimmer noch war, dass Herr Nazim alles tat, um sie nicht zum Zeugen seines Glückes zu machen, denn er war glücklich, so schien es, sein Schritt klang anders, wenn er durch den Gang ging, das Geschirr klapperte anders, wenn er es abspülte und er hatte sich ein neues Hemd gekauft, ein kobaltblaues Hemd mit weißen Knöpfen, das ihm gut stand.

Er kam und ging immer noch so leise und rücksichtsvoll wie immer, auch wenn er in Begleitung war. Aus seinem Zimmer drang kein Geräusch, nur manchmal das Lachen, das Frau Meiser schon kannte. Und nach einem Zusammentreffen im Bad – die Frau hatte sich, das Gesicht kurzsichtig nah am Spiegel, die Augenbrauen nachgezogen, als Frau Meiser die Wäsche aus dem Korb holen wollte – nach diesem Zusammentreffen also, das von seinem Gast ebenso wortlos und unhöflich hingenommen wurde wie das erste, war es Herrn Nazim gelungen, die Frau aus Bad und Küche fernzuhalten.

Frau Meiser fühlte sich nicht mehr zufrieden in ihrer Wohnung, aber auch in der Lottoannahmestelle oder im Café saß sie  unbehaust wie jemand auf der Durchreise. Rita, der sie erzählt hatte, sie sei in einen Nachbarn verliebt, versuchte sie aufzumuntern, aber sie dachte bei allem was sie tat immer an Herrn Nazim. Es war schon fast lächerlich, das konnte sie selber sehen. Vor dem Metzgerladen mit seinen schön aufgefächerten Koteletts dachte sie daran, für ihn zu kochen. Die dunkelhaarigen Müllmänner mit ihren braunen Händen versetzten ihr einen Stich, sie blieb bei ihnen stehen, um ihrer Sprache zuzuhören. War das seine Sprache? Sie wusste es nicht. Sie erkundigte sich nach Türkischkursen bei der Volkshochschule und kaufte türkischen Pfefferminztee. Sie weinte nicht, aber wenn sie manchmal abends im Bett lag, rann Wasser aus ihren Augenwinkeln und tropfte aufs Kissen. Kurt lächelte ihr zu, und sie bat ihn, Geduld mit ihr zu haben. Er hatte Ausländer nie gemocht.

"Sie müssen ihm sagen, wie es um Sie steht", sagte Rita. Sie dachte an den untersetzten freundlichen Mann mit der breiten Stirn und der trägen Stimme, der über Frau Meiser wohnte und dessen Tippschein sie manchmal für ihn ausfüllte. "Er passt zu Ihnen, ich sehe so was!"

Frau Meiser sah sie mit ihrem jungen Mann vor dem Fenster stehen, er knöpfte sie mit in seine Lederjacke hinein und sie wickelte ihre langen Haare um seinen Hals, mit geschlossenen Augen und lächelndem Mund. Frau Meiser geschah etwas seltsames, dort wo sie saß, auf dem hohen Hocker hinter dem Pult, im Licht der Bürolampe, in der Hand den Zettel, den ihr eine ungeduldige alte Frau gerade herübergereicht hatte, fühlte sie, wie sich Arme um sie legten.

Sie war ein junges Mädchen, noch ein Kind, aufmerksam und furchtlos, sie fror, sie roch den Regen, roch den Grasduft im Park, sie fühlte den Körper an den sie sich drückte durch ihr dünnes Kleid, die Knie, die harten Schenkel, die Wärme die von seinem Schoß ausging und die Atemzüge der Brust, gegen die sich ihre Brust drückte, ja selbst die Knöpfe seiner Jacke, die kalt und rund gegen ihr Schlüsselbein gepresst wurden. Sie sah nichts, hörte nichts, aber schmeckte den fremden Mund beglückt wie eine nie gekannte süße, warme Speise.

Sie riss die Kopie aus dem Tippschein und reichte ihn über das Pult. Nahm das Geld, bündelte die Zettel, die neben ihr lagen, schnappte ein Gummiband darum und verstaute sie in die Schachtel am Boden.

Das Mädchen aus dem Park, ein schmächtiges Mädchen mit einem grünen Kleid, hatte auf sie gewartet in all den Jahren, geduldig und zäh, um sich ihr zu zeigen, um in ihr aufzutauchen, rücksichtslos, um zu leben, noch einmal. In diesem Augenblick, einem Freitag Nachmittag, mit Lastwagen, die draußen vorbeifuhren und Menschen, die ihr zunickten und ihr Geld auf dem Tisch zählten, sie beim Namen nannten. Ein paar Atemzüge lang wusste Frau Meiser nicht genau, wer sie war und sah verwirrt auf ihre Hände. "Ich muss mit ihm reden", dachte sie. Was sie gefürchtet hatte war eingetreten, auch das grüne Mädchen im Park war zu seiner Verbündeten geworden. Alles um sie herum schlug sich, so schien ihr, auf seine Seite.

Er war zu Hause – sie waren schon zu Hause, das sah Frau Meiser als sie ihren Mantel aufhängte. Sie ging in der Küche herum, riss Blätter vom Kalender und wischte den Tisch ab. Sie schlich zur Tür unter der Licht hervorsickerte und auf ihre Schuhspitzen fiel. Sie lauschte. Das hatte sie sich noch nie erlaubt, und natürlich hörte sie nicht viel, ein Geraschel, einen hellen Ton als schlüge jemand mit einem Messer gegen ein Glas, Gemurmel, ein leises Knarzen. Das Bett, dachte Frau Meiser, sie kannte das Geräusch.

Sie konnte nicht bleiben. Sie holte ihre Tasche aus der Küche und schlüpfte in ihren Mantel, das alles langsam und ohne genau zu wissen, wohin sie gehen sollte. Die Frau sprang aus der Tür des Zimmers mit einem Schwung, der sie stolpern und gegen die Wand im Gang prallen ließ. Ihre Haare standen um den Kopf, sie hielt ein Kleiderbündel an die Brust gedrückt, aus dem ein Schuh zu Boden polterte. Ihre nackten Schultern glitzerten im trüben Licht der Deckenlampe, Frau Meiser wich zurück, als drohe ihr ein Angriff.

"Er ist krank, sehr krank." Frau Meiser konnte sie riechen, es war wie eine Botschaft von Schrecklichem. Sie stieß die Frau beiseite und ließ ihre Tasche fallen. Die Tür war offen, und Herr Nazim lag im Bett. Frau Meiser sah seine nackten Arme, die Haare auf der Brust, er lehnte mit dem Oberkörper an dem bunten Tuch über dem Bett. An seinem Gesicht sah Frau Meiser, dass er in Todesangst sein musste. Er leuchtete in dem dämmrigen Licht wie aus gelbem Wachs.

Sie hockte sich neben das Bett und umarmte ihn. "Schnell einen Arzt!", rief sie hinaus auf den Gang, aber niemand antwortete. Sie hatte es nicht anders erwartet. Sie umarmte Herrn Nazim und bettete sein Gesicht in ihre Halsgrube, sie streichelte seinen Nacken, sie wiegte ihn, sprach zu ihm. Er wurde ruhiger. "Anna", sagte Herr Nazim undeutlich, und er sprach zu Frau Meiser leise und hastig, den Mund an ihrem Mantelkragen, aber sie verstand ihn nicht.

Dieser Text ist erstmals 2007 im Erzählband "Umarmungen" im Berlin Verlag erschienen. Zusammen mit dem "Internationalen Literaturfestival Berlin" haben wir Autor/innen dazu aufgerufen, sich mit dem Thema Flucht und Asyl literarisch auseinanderzusetzen. Dieser Beitrag ist Teil der "Berliner Anthologie", die auch zum Download bereit steht.