Flüchtlingsabkommen zwischen Türkei und EU: Welche Rolle spielt die türkische Öffentlichkeit?

Hintergrund

Die Türkei hat allein aus Syrien 2,7 Millionen Menschen aufgenommen, wenn auch nicht offiziell als Flüchtlinge, sondern als „Gäste“. Nur etwa ein Zehntel der Flüchtlinge lebt in Flüchtlingslagern, die anderen verteilen sich auf städtische Gebiete. Trotzdem gibt es in der Türkei keine größeren sozialen Spannungen. Weshalb?

Geflüchtete im Boot auf dem Weg von der türkischen Küste zur nordöstlichen Insel Lesbos in Griechenland, 29. Januar 2016

Am 18. März 2016 unterzeichneten die Europäische Union und die Türkei ein Abkommen, das den heutigen und zukünftigen Umgang mit den Geflüchteten insbesondere aus Syrien regelt. Über dieses Abkommen und seine rechtlichen sowie moralischen Gesichtspunkte wurde in Europa ausgiebig diskutiert. Besonders in der Türkei, wo die meisten der Flüchtlinge derzeit leben, sind einige Fragen jedoch offen. Wie sehen die Bürgerinnen und Bürger in der Türkei die derzeitige Lage?

Einige europäische Staaten weigern sich, auch nur eine geringe Anzahl Flüchtlinge aufzunehmen. Wie kommt es dann, dass die türkische Öffentlichkeit nicht über die Millionen von Flüchtlingen im eigenen Land empört ist? Wie kann es sein, dass in einem Land mit wenig Bezug zu Multikulturalismus Flüchtlinge aus Syrien akzeptiert werden? Solche Fragen zeigen auf, wie wichtig es ist, zwischen den Perspektiven der Regierung und der Öffentlichkeit zu unterscheiden.

Die aktuelle innenpolitische Lage spielt natürlich auch eine Rolle. Die Türkei durchlebt derzeit eine der schwierigsten Perioden seiner Geschichte. Die Regierung schränkt Grundrechte ein und die Sicherheitslage hat sich verschlechtert, besonders im Südosten des Landes. Zudem ist es möglich, dass in Kürze die parlamentarische Demokratie durch ein Präsidialsystem abgelöst wird. Wichtig ist auch die Frage, wie säkular die neue Verfassung sein wird. Mittlerweile ist der türkische Premierminister, der für die Türkei die Verhandlungen zum Flüchtlingsabkommen mit der EU führte, aus dem Amt gedrängt worden.

Eine schwierige Periode für die Türkei

Die türkische Regierung hat die Flüchtlingskrise in den Verhandlungen mit der Europäischen Union als Druckmittel eingesetzt. Dadurch sind die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU seit Oktober 2015 unerwartet wieder aufgelebt. Die Türkei hat dies dazu genutzt, um die EU zu drängen, im Rahmen der Beitrittsverhandlungen neue Kapitel zu öffnen, um die visafreie Einreise türkischer Bürgerinnen und Bürger in die EU (ein seit langem strittiger Punkt) zuzulassen.

Die türkische Regierung unterzeichnete das Flüchtlingsabkommen mit der EU und begann umgehend damit, die 72 von der EU geforderten Vorbedingungen für eine visafreie Einreise umzusetzen. Am 4. Mai 2016 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren dritten Bericht über den Fortschritt der Türkei bei der Erfüllung des vereinbarten Fahrplans und empfahl, die Visabeschränkungen aufzuheben, vorausgesetzt, die Türkei löse die offenen Fragen, einschließlich der Reform der türkischen Antiterrorgesetze. Obwohl hiermit eine Entscheidungsgrundlage existiert, mit der das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten die Visabestimmungen aufheben könnten, hat sich das Europäische Parlament bislang geweigert, sich mit der Frage zu befassen, solange nicht alle Voraussetzungen seitens der Türkei erfüllt seien. An der Visafrage könnte das gesamte Abkommen letztlich scheitern.

Während die türkische Öffentlichkeit vorwiegend mit innenpolitischen Fragen beschäftigt ist, hat das Land bereits 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien sowie 300.000 Geflüchtete aus anderen Ländern aufgenommen (Angaben des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen vom April 2016). Syrische Flüchtlinge werden von der Türkei nicht offiziell als solche anerkannt, denn die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit einer geographischen Einschränkung auf Flüchtlinge aus Europa angenommen.

Die Flüchtlinge aus Syrien werden als „Gäste“ bezeichnet, und als solche genießen sie keinen vollständigen Schutz, und auch nur für einen bestimmten Zeitraum. Die Flüchtlinge gehen unterschiedlichen Tätigkeiten nach – legalen wie illegalen – und werden dabei häufig ausgebeutet. Es kommt zu Menschenhandel und zahlreichen anderen illegalen Aktivitäten.

Vieles wird ohne die Zustimmung der Bevölkerung durchgesetzt

Hinzu kommt, dass nur etwa ein Zehntel der Flüchtlinge in Flüchtlingslagern lebt, die anderen verteilen sich auf städtische Gebiete. Trotz der hohen Zahl der syrischen Flüchtlinge in der Türkei ist es zu keinen größeren Protesten gekommen. Warum nicht?

Es gibt dafür eine Reihe möglicher Gründe: Erstens nimmt der türkische Staat wenig Rücksicht auf die Öffentlichkeit. Vieles wird durchgesetzt, ohne dass sie auf die Zustimmung der Bevölkerung achtet. Zweitens profitieren nicht wenige Menschen von der Schattenwirtschaft, denn Illegale aus Syrien arbeiten für wenig Geld. Auch sind durch die höhere Nachfrage die Immobilienpreise und Mieten angestiegen. Wohlhabendere Syrerinnen und Syrer kaufen sich Häuser, die Ärmeren teilen sich Wohnungen. Schließlich gibt es eine kulturelle und religiöse Nähe zu den Menschen aus Syrien, weswegen eine humanitäre Einstellung Vorrang vor strategischem Denken hat.

Der einzige Aspekt, auf den die türkische Öffentlichkeit überwiegend ablehnend reagierte, war die Umsiedlung von sunnitischen Flüchtlingen aus Syrien. Es wurde versucht, sie in alawitischen (kurdischen) Dörfern im Osten der Türkei anzusiedeln, und auch in Flüchtlingslagern im Westen, beispielsweise in Dikili (Provinz Izmir), wo auch jene landen, die aus Griechenland zurückgeschickt werden. In Maras, im Osten der Türkei, kam es zu massiven Protesten gegen die Umsiedlung, und im Westen der Türkei kam es zu Unmut, da man befürchtete, die Flüchtlinge stellten eine Gefahr für die dortige Lebensweise, den Tourismus und die Sicherheit dar. In den ganz überwiegend von regierungstreuen Kräften kontrollierten türkischen Medien war von diesen Protesten wenig zu hören.

Viele wichtige Fragen sind immer noch nicht angegangen worden und die Regierung hat sich über die türkische öffentliche Meinung ebenso hinweggesetzt wie über zivilgesellschaftliche Initiativen, die versuchen, den Flüchtlingen zu helfen. Eine Debatte, die sich mit diesen Fragen ernsthaft und im Detail auseinandersetzt, ist erforderlich.


Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Grenzerfahrung - Flüchtlingspolitik in Europa".