Weltordnung auf brüchigem Boden - Zerklüftete Staatenwelt und postimperiale Räume

Müllcontainer vor dem Headquarter der EU in Brüssel
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Europas weltpolitischer Bedeutungsverlust geht auch mit einem Gestaltungsverlust einher

Europas weltpolitische Bedeutung sinkt. Seit der amerikanischen Hinwendung zum pazifischen Raum wirkt die EU hilflos angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen und dem Staatszerfall in ihrer südlichen Nachbarschaft. Herfried Münkler über die europäischen und deutschen Möglichkeiten der Krisenbearbeitung.

Ostasien als neuer Zentralraum der Weltordnung

Die Normen und Prinzipien einer Weltordnung sowie die Rangfolge der führenden Mächte in ihr sind immer in bestimmten Räumen der jeweiligen „Welt“ entschieden und festgelegt worden: Im Fall des Imperium Romanum war das die hellenistische Welt des östlichen Mittelmeers und die daran angrenzenden Räume, nachdem sich die Römer im Westen gegen Karthago durchgesetzt hatten; im ersten Zyklus des Britischen Empire war es der atlantische Raum, im zweiten Zyklus war es die Seeverbindung von den südenglischen Häfen über das Mittelmeer in den Indischen Ozean; für die USA nach dem Zweiten Weltkrieg war es die Kontrolle über die Küstenlinien der eurasischen Landmasse, in Europa von Norwegen über Portugal bis in die Türkei, in Ostasien von Japan über Südkorea, Südvietnam, Taiwan und die Philippinnen bis nach Indonesien. Wer diese Räume kontrollierte, legte die Prinzipien und Normen der jeweiligen Weltordnung fest. Weltordnungskriege sind danach Auseinandersetzungen, in denen nicht nur alternative Weltordnungsprinzipien gegeneinander ausgekämpft werden, sondern in denen auch entschieden wird, welcher geographische Raum als der Zentralraum einer Weltordnung anzusehen ist. Bei der Festlegung bzw. Verschiebung solcher Räume spielen viele Faktoren zusammen: neben waffentechnischen und militärorganisatorischen Entwicklungen können auch ökonomische und demographische Dynamiken ausschlaggebend sein.[1]

Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert waren Europa bzw. der Nordatlantik der Zentralraum der Weltordnung; hier wurden die sozio-ökonomischen Strukturen und Wertordnungen entwickelt, die auf den „Rest der Welt“ ausstrahlten bzw. dort mit gewaltsamen Mitteln durchgesetzt wurden. Während dieser Zeit waren Ost- und Südasien Räume, über deren Geschick in Europa und später in den USA entschieden wurde. Das hat sich inzwischen geändert, und die Anfänge dieser Veränderung gehen auf die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zurück, wobei der Zweite Weltkrieg nicht nur als Kampf um Vormacht und Gebietskontrolle, sondern auch als Weltordnungskrieg angesehen werden kann. Der Erste Weltkrieg wurde wesentlich in Europa und im Vorderen Orient ausgetragen, während der Zweite Weltkrieg in Ostasien und im Pazifik einen zweiten Entscheidungsraum hatte. Analytisch betrachtet, begann der Zweite Weltkrieg in Ostasien sogar früher als in Europa und dauerte dort auch einige Monate länger; obendrein kam die für die politische Ordnung der zweiten Jahrhunderthälfte ausschlaggebende Waffe, die Atombombe, in Ostasien zum Einsatz. Nicht in Europa, sondern in Ost- und Zentralasien (Korea, Vietnam, Afghanistan) wurden in der Zeit der Blockkonfrontation die heißen Kriege mit offener Beteiligung einer Weltmacht und verdeckter Einflussnahme der anderen Weltmacht ausgetragen. Nur die sich regelmäßig wiederholenden krisenhaften Zuspitzungen im Verhältnis der beiden Blöcke sorgten dafür, dass Europa auch weiterhin als ein Zentralraum der Weltpolitik angesehen wurde. Seit dem Ende der Blockkonfrontation und dem Zerfall der Sowjetunion ist das nicht mehr der Fall.

Inzwischen lassen sich zwei Bearbeitungsformen dieser Verschiebung des Zentralraums der Weltordnung voneinander unterscheiden; die erste kann vereinfachend als die europäisch-kulturkritische und die zweite, ebenso vereinfachend, als die US-amerikanisch-machtpolitische bezeichnet werden. Die europäisch-kulturkritische Bearbeitungsvariante dreht sich im Wesentlichen um eine Kritik des Eurozentrismus, und diese Kritik ist zugleich als entschiedene Absage an alle Vorstellungen von Zentralräumen der Weltordnung anzusehen. Nach dem Verlust seiner einstigen Position als Zentralraum der Weltordnung läuft die Kritik des Eurozentrismus darauf hinaus, dass Europa entweder dieser Zentralraum niemals gewesen ist oder aber dass es dies niemals hätte werden bzw. sein dürfen. In der Regel werden beide Aspekte, der deskriptiv-negierende und der normativ-vorwurfsvolle, miteinander vermischt bzw. je nach Diskussionslage gegeneinander ausgetauscht. Im Hintergrund steht entweder die Vorstellung einer normativen Gleichberechtigung unterschiedlicher Wertorientierungen, die zu einem pluralen Nebeneinander ohne Hierarchie oder Hegemonie verbunden werden, oder aber das in dieser Form freilich uneingestandene Konzept von der Universalisierung europäischer Werte zu generellen Normen, die hinfort nicht nur im einstigen Zentrum der Weltordnung, sondern überall auf dem Globus zur Geltung gebracht werden sollen. Dabei bleibt die Frage des Hüters und Durchsetzers dieser Ordnung jedoch offen. Sie wird dort sichtbar, wo von Europa, etwa in Fragen der Klimapolitik, eine Vorreiterrolle eingefordert wird, die jedoch eher moralisch als machtpolitisch zur Geltung gebracht werden soll. Das wird gelegentlich auch als zeitlich nachgelagerte Wiedergutmachung von Versäumnissen begründet, die in der Zeit der europäischen Weltordnungszentralität aufgelaufen seien. Diese Argumentation setzt voraus, dass Europa einmal tatsächlich der Zentralraum der Weltordnung war, in dieser Position normativ aber versagt hat.

Dem steht die US-amerikanisch-machtpolitische Bearbeitungsform gegenüber, die auf eine Verlagerung der eigenen Ressourcen und des an sie geknüpften Engagements aus dem atlantischen in den pazifischen Raum hinausläuft. Danach haben die US-Eliten den geopolitischen Bedeutungsverlust Europas und den entsprechenden Bedeutungsgewinn Ostasiens realisiert und reagieren darauf in der Form, dass sie freilich sich auf den neuen Zentralraum der Weltordnung konzentrieren, dem sie als pazifische Macht selbst angehören. Die von US-Präsident Barak Obama proklamierte Verlagerung des geopolitischen Engagements der USA lässt sich, folgt man dieser These, als ein zweiter Zyklus der US-amerikanischen Imperialität interpretieren: Erfolgte der erste Zyklus wesentlich im nordatlantischen Raum und begann mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg im Jahr 1917, so ziehen sich die USA mit dem Bedeutungsverlust Europas aus diesem Raum zurück bzw. überlassen ihm den Europäern zu deren eigener außen- und sicherheitspolitischen Bearbeitung. Stattdessen bündeln die USA ihre Kräfte im Pazifik in der Erwartung einer Konfrontation oder auch Kooperation mit China. Die Europäer spielen bei dieser Entscheidung über Konfrontation oder Kooperation keine größere Rolle, aber sie werden die Folgen dessen ebenso hinzunehmen haben, wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Ostasien die in Europa fallenden Entscheidungen hingenommen werden mussten. Die Europäer erfahren darin, was es heißt, nicht der Zentralraum einer Weltordnung zu sein.

Ostasien als geopolitischer Raum einer zyklischen Wiederholung der Weltgeschichte

Man kann die Neudisposition der US-amerikanischen Machtprojekte aber auch anders interpretieren und darin den Anfang vom Ausstieg der USA aus der Rolle des Weltpolizisten („globocop“) sehen: Danach waren die USA in der Zeit des Kalten Krieges und vor allem nach dessen Ende in den 1990er Jahren zu einer globalen Machtprojektion in der Lage, die den pazifischen wie den atlantischen Raum gleichermaßen erfasste und vermittelst Kontrolle der Weltmeere sowie des westlichen wie östlichen Randes der eurasischen Landmasse über die Prinzipien und Normen der Weltordnung verfügte und sie vorgab – auch wenn sie diese Prinzipien und Normen nicht immer und überall durchzusetzen bemüht bzw. in der Lage waren. Die Wende bildeten dieser alternativen Interpretation der weltpolitischen Konstellationen zufolge die Kriege im Irak und in Afghanistan, in denen es den USA (und ihren Verbündeten) trotz eines gewaltigen Ressourceneinsatzes nicht gelungen ist, ihre Ordnungsvorstellungen nachhaltig durchzusetzen. Wie auch immer man diesen Fehlschlag erklärt – von der arroganten Selbstüberschätzung über das Theorem der imperialen Überdehnung bis zu der Beobachtung, dass die Faszination des amerikanischen Lebensstils (der „soft power“ im Sinne John Nyes) hier erstmals durch die Bindekraft einer Religion, des Islams, folgenreich konterkariert worden sei[2] –; dahinter steht die Vorstellung, dass sich der Hüter der bestehenden Weltordnung, der Weltpolizist, in einem langsamen, aber stetigem Abstieg befindet und in der Folge dessen die Gefahr eines großen Krieges infolge der Nachfolge- und Teilhabestreitigkeiten im Wachsen begriffen ist.[3] In Verbindung mit der These von der Verlagerung des Zentralraums der Weltordnung von Europa nach Ostasien führt das zu der Frage, ob die Weltordnungskonflikte, wie sie in Europa während der Ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgetragen wurden, sich in Ostasien im Verlauf des 21. Jahrhunderts strukturell wiederholen werden. Das heißt nicht, dass sich der Verlauf der Geschichte wiederholt, sondern nur, dass die Konstellationen, in denen die politischen Konflikte im pazifischen Raum ausgetragen werden, denen in Europa während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts strukturell ähnlich sind. Jedenfalls fördert ein Vergleich der europäischen Verhältnisse vor 1914 mit den gegenwärtigen Konstellationen in Ostasien eine Reihe von Ähnlichkeiten zutage. Aber ein Vergleich ist keine Gleichsetzung, denn der Vergleich zeigt neben Ähnlichkeiten auch Unterschiede. Sehen wir uns die Ähnlichkeiten etwas genauer an.

Die lange führende Weltordnungsmacht ist in einem langsamen Abstieg begriffen, und das lässt sich bei dem gegenwärtigen Weltpolizisten USA in ähnlicher Weise beobachten, wie das vor 1914 bei der damaligen Weltordnungsmacht Großbritannien bzw. dem Britischen Empire der Fall war.[4] Die Ursache des relativen Abstiegs des Weltpolizisten ist in beiden Fällen weniger in der eigenen Schwäche als in einer wachsenden Stärke der potentiellen Konkurrenten zu suchen. Ein Indikator dafür ist der jeweilige Anteil der Weltordnungsmacht am globalen Bruttosozialprodukt, und der ist, so eine weitere Ähnlichkeit in beiden Fällen, deutlich gesunken: bei Großbritannien infolge des rasanten wirtschaftlichen Aufstiegs der USA und des Deutschen Reichs, im Fall der USA durch die wirtschaftliche Dynamik Chinas seit den 1980er Jahren und die wachsenden Weltmarktanteile einiger Schwellenländer, wie Indien und Brasilien.

Im Fall Großbritanniens resultierte daraus der politisch-militärische Rückzug aus der Karibik, die man den USA überließ, aus Teilen des Pazifiks, wo Japan das britische Erbe antrat, und zum Teil sogar aus dem Mittelmeer, wo die französische Flotte im Rahmen der Entente cordiale den Schutz der britischen Seeverbindungen übernahm – und das alles, um in der Nordsee gegenüber dem maritim schnell aufrüstenden Deutschen Reich das Übergewicht zu behalten.[5] Dem korrespondiert in der gegenwärtigen Situation die US-amerikanische Entscheidung, die politischen und militärischen Ressourcen auf den pazifischen Raum zu konzentrieren, weil hier nach Auffassung der Washingtoner Strategen die entscheidende Auseinandersetzung um die zukünftige Weltordnung stattfinden werde. In beiden Fällen ist also eine Konzentration der imperialen Ressourcen auf den Zentralraum der Weltordnung zu konstatieren, und das hat zur Folge, dass die Krisen- und Konfliktanfälligkeit dieses Raumes wächst. Prestigegewinne wie Prestigeverluste schlagen hier unmittelbar als Machtgewinne und Machtverluste zu Buche, und deswegen besteht das Risiko, dass Konflikte, in denen es auch um Prestige geht, einer sehr viel größeren Eskalationsdynamik gehorchen, als das sonst der Fall ist.

Auch wenn Europa vorerst nicht mehr zu den Zentralräumen der Weltordnung gehört, so hat die Verlagerung des US-amerikanischen Ressourcenschwerpunkts für den alten Kontinent doch weitreichende außen- und sicherheitspolitische Konsequenzen, von denen die erste und wichtigste ist, dass sich die Europäer in wachsendem Maße (wieder) selbst und auf eigenes Risiko um die Ordnung ihres Raumes sowie die politische Stabilität an dessen Rändern und Peripherien kümmern müssen. Damit ist die nach wie vor in der Nato institutionalisierte sicherheitspolitische Ordnung des nordatlantischen Raumes nicht aufgelöst, und auch der „Westen“ als eine gegenüber dem „Rest der Welt“ politisch identifizierbare Wertegemeinschaft bestehen weiterhin fort,[6] jedoch als ein „gespaltener Westen“, und das keineswegs im Sinne der Habermas‘schen Begriffsprägung, mit der eine unterschiedliche Intensität der normativen Bindungen zum Ausdruck gebracht werden sollte,[7] sondern in einem sehr viel stärker geopolitischen Sinn, wonach in der Europäischen Union und in den USA voneinander aparte Wahrnehmungsfelder mit spezifischen Problemzonen entstanden sind und dementsprechend eigene Strategien zu deren Bearbeitung entwickelt werden.

China befindet sich heute in mancher Hinsicht in einer Position, in der sich das Deutsche Reich vor 1914 befunden hat: Es hat einen rasanten ökonomischen Aufstieg hinter sich, durch den weltwirtschaftliche Abhängigkeiten entstanden sind, die man zuvor nicht gekannt hat; man ist auf die Zugänglichkeit der Weltmeere angewiesen, um Rohstoffe zu beziehen und eigene Fertigprodukte zu exportieren, aber die Ozeane befinden sich mitsamt den großen Seefahrtslinien unter der Kontrolle des wichtigsten ökonomischen Konkurrenten: Im Fall des Deutschen Reichs war das Großbritannien, im Fall Chinas sind dies die USA. Im Gefolge dieser geopolitischen – oder präzisier: geoökonomischen – Abhängigkeit hat sich eine starke Furcht vor wirtschaftlicher Strangulation breitgemacht, die nach politisch-militärischen Strategien zur Verhinderung dessen bzw. zur Minimierung der Strangulierbarkeit ruft. In beiden Fällen ist diese strategische Reaktion um den Aufbau einer Seemacht konzentriert: Im deutschen Fall den Bau einer „Risikoflotte“, die für die Briten einen militärisch ausgetragenen Wirtschaftskrieg gegen Deutschland mit unkalkulierbaren Risiken verbinden sollte; im Fall Chinas ebenfalls im Aufbau einer Kriegsflotte sowie in militärischem Ausbau von Inselgruppen an der Küste zu den dieser vorgelagerten Nachbarstaaten. Der diesem maritimen Aufrüstungsprojekt zugrundeliegende Strategieimperativ besagt, dass die „Kosten“ einer ökonomischen Strangulation Chinas für die USA so hoch sein sollen, dass ein solches Projekt aus amerikanischer Sicht unattraktiv ist.

Aber die neue Abhängigkeit Chinas von offenen Seewegen ist nicht das Einzige, was im Reich der Mitte zu einem Gefühl des Eingekreist-Werdens geführt hat. Es kommt die notorische Neigung der Nachbarstaaten zur Bildung einer gegen China gerichteten und an die USA angelehnten antihegemonialen Koalition hinzu, wobei diese Koalition in Reaktion auf die jeweilige chinesische Politik mitunter klarere und dann wieder undeutlichere Konturen annimmt. Auch darin ähnelt die geopolitische Position Chinas der des Deutschen Reichs vor 1914, als sich Frankreich und Russland zu einem gegen Deutschland gerichteten Bündnis zusammengefunden hatten, das nicht durch gemeinsame Werte, sondern durch geteilte geopolitische Interessen zusammengehalten wurde. Damit hatte man in Berlin nicht gerechnet; man hatte vielmehr darauf vertraut, dass der politische Gegensatz zwischen der sich in einer revolutionären Tradition verortenden französischen Republik und der autokratischen Herrschaft der russischen Zaren unüberbrückbar sei. Doch darin hatte man sich getäuscht; die Koalitionsbildung vor dem Ersten Weltkrieg ist ein Lehrbeispiel dafür, dass ein uneingeschränktes Vertrauen in die Bindekraft politischer Werte bündnispolitisch verhängnisvolle Konsequenzen haben kann.

Man kann davon ausgehen, dass die politische Führung in Peking solchen Vorstellungen von der ideologischen bzw. wertepolitischen Kohäsionskraft nicht folgt, und hätte sie das getan, hätte sie die geopolitisch motivierte Annäherung Vietnams an die USA eines besseren belehrt. Freilich hatte sie diese Annäherung durch den Bestrafungskrieg gegen Vietnam nach dessen Beitrag zum Ende der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha (1979) auch selbst beschleunigt. Während im heutigen Europa diese „Physik der Macht“ durch eine Reihe von Institutionen, von der Nato über die EU bis zur OSZE, gebändigt wird, ist sie in Ostasien nach wie vor ungebremst wirksam. Das ist eine weitere Ähnlichkeit zwischen den europäischen Konstellationen vor 1914 und der gegenwärtigen Lage in Ostasien. Man kann diese Beobachtung auch zu der verallgemeinernden These zuspitzen, dass Zentralräume der Weltordnung selten zu einer institutionellen Bändigung der „Physik der Macht“ kommen, wiewohl dies aus friedenspolitischer Sicht gerade in ihnen am meisten vonnöten wäre. In Zentralräumen der Weltpolitik haben geopolitische Konstellationen ein notorisch größeres Gewicht als wertpolitische Bindungen und ideologische Nähen. Man kann das auch als die Grundparadoxie der weltpolitischen Ordnung bezeichnen: dass die „Anarchie der Staatenwelt“, wie das ungebändigte Spiel einer Physik der Macht in der realistischen Schule der Internationalen Politik bezeichnet wird, in den ehemaligen Zentralräumen der Weltordnung relativ leicht überwunden werden kann, während sie im aktuellen Zentralraum der Weltpolitik nur schwer zu überwinden ist.[8]

Dennoch lässt sich aus den Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen den europäischen Konstellationen vor 1914 und den jüngeren Entwicklungen in Ostasien nicht schlussfolgern, dass es in absehbarer Zeit zu einem großen Krieg, einem Weltordnungskrieg in Ostasien kommen wird. Auch in Europa war vor 1914 der Weg in den Krieg nicht determiniert. Eine Verständigung zwischen Briten und Deutschen war keineswegs ausgeschlossen, und noch im Frühjahr 1914 ist Karl Kautsky, der führende Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, von einer solchen Verständigung ausgegangen: die führenden imperialistischen Mächte, so seine Annahme, würden sich zu Lasten der Beherrschten und Kolonisierten auf Kompromisse verständigen und nicht in einen wechselseitigen Vernichtungskrieg eintreten.[9] Dass Lenin anderer Auffassung war und damit Recht behalten hat, heißt nicht, dass es zwingend so kommen musste, wie es 1914 tatsächlich gekommen ist. Ausschlaggebend ist das Verhältnis von Vertrauen und Misstrauen, wobei es freilich keine institutionellen Strukturen zur Begrenzung eskalierenden Misstrauens gibt.

Es könnte freilich auch eine Situation entstehen, in der die USA die Rolle des Weltpolizisten aufgeben und es keinen Nachfolgekandidaten für die Übernahme der damit verbundenen Aufgaben gibt. Das war auch 1914 das Problem, als die USA sich der von Präsident Wilson avisierten Rolle in einer neuen Weltordnung verweigerten und stattdessen eine isolationistische Politik betrieben. Man kann die voneinander unabhängigen Wege, die in Europa und Ostasien während der 30er Jahre in den Zweiten Weltkrieg führten, durchaus auf das Fehlen eines Weltpolizisten zurückführen, der bereit und in der Lage gewesen wäre, die Respektierung der in den Pariser Vorortverträgen ausgehandelten Friedensordnung gegen widerstrebende Kräfte durchzusetzen und ihr Geltung zu verschaffen.[10] Konstellationen ohne einen (starken) Hüter der Ordnung haben eine Tendenz zum Eindringen der Gewalt in die politische Ordnung bzw. der Drohung mit Gewalt bei der Geltendmachung von Interessen und Ansprüchen, denn es gibt ja keinen Akteur, der die Aufgabe zur Verhinderung der Gewalt bei Nichtbetroffenheit seiner eigenen Interessen wahrnimmt. Der Weltpolizist, von dem schon mehrfach die Rede war, ist also der Hüter und Wahrer der öffentlichen Güter, an denen alle partizipieren, ohne dass der Beitrag zu deren Verfügbarkeit unmittelbar und ausschließlich dem eigenen Nutzen zugutekommt. Ohne Weltpolizist, so könnte man sagen, sind die öffentlichen Güter, wie der Frieden oder die Respektierung völkerrechtlicher Regeln, verweist und jeder kann sich an ihnen vergehen, ohne mit effektiven Sanktionen rechnen zu müssen. Das war die Situation, die das Italien Mussolinis, das Deutschland Hitlers und das kaiserliche Japan (sowie eine Reihe weiterer Mächte) im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs für sich ausgenutzt haben. Der relative Niedergang der USA und deren seit dem Scheitern im Irak und in Afghanistan deutlich geschwundene Bereitschaft zu Intervention ist also beides zugleich: eine Reduktion der Probleme, die aus dem Fehlschlag oder der konzeptionellen Unbesonnenheit amerikanischer Interventionen erwachsen können, und zugleich ein Anwachsen der Probleme, die aus dem Fortschwelen von Gewaltkonflikten an der Peripherie der Wohlstandszonen infolge der Nichtintervention resultieren.

Die postimperialen Räume an der Peripherie Europas

Sicherheitspolitisch steht Europa vor drei großen Herausforderungen, die mehr oder weniger mit dem Ordnungszerfall in den postimperialen Räumen zu tun haben, welche aus dem Zerfall der großen multinationalen, multireligiösen und multilingualen Großreiche in Mittel- und Osteuropa sowie dem Vorderen Orient infolge des Ersten Weltkriegs entstanden sind. Der Ordnungszerfall in diesen Räumen wird in zwei Fällen durch das Aufkommen neoimperialer Träume in den einstigen Zentren dieser Großreiche verstärkt. Es handelt sich dabei um den Raum zwischen dem westlichen Balkan und dem Kaukasus bzw. dem Kaspischen Meer sowie um den Raum zwischen der Levante und dem Jemen, zwischen Mesopotamien und Mittelmeer und schließlich noch um die Europa gegenüberliegende Mittelmeerküste, von Ägypten bis Marokko. Durch den weitgehenden Rückzug der USA aus der sicherheitspolitischen Verantwortung für die europäische Peripherie ist die Stabilität dieser Räume zu einer Herausforderung der Europäer geworden, der sich zu stellen sie zurzeit lernen. Eines der Risiken dieses Lernprozesses besteht darin, dass dabei die alten Konfliktlinien wieder entstehen, die zu den Kriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beigetragen haben. Ein weiteres Risiko besteht darin, dass die Europäische Union unter dem Druck dieser Herausforderungen zerfällt.

Seit den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er Jahre steht die Balkanfrage wieder auf der politischen Agenda Europas, die darin besteht, dass es hier, im einstigen Schnittfeld der Herrschaft des Habsburgischen, des Osmanischen und des Russischen Reichs, zu keiner stabilen Nationalstaatsbildung gekommen ist, sondern ethnische und religiös-konfessionelle Gruppen zusammenleben und die zwischen ihnen bestehenden Trennlinien jederzeit politisierbar sind. Die politische Rolle der Großreiche lief in der systemischen Retrospektive darauf hinaus, diese Politisierung der „cleavages“ zu verhindern. Wie schnell diese ethnischen, religiösen und sprachlichen Unterschiede zu einer Eskalation der Gewalt führen können, haben die Kriege der 1990er Jahre in dramatischer Weise gezeigt.

Dieser postimperiale Raum endet jedoch nicht an Ägäis und Schwarzem Meer, sondern setzt sich im Kaukasus fort, wo ähnliche Bedingungen herrschen wie auf dem Balkan. Spiegelbildlich zu den jugoslawischen Zerfallskriegen haben dort in den letzten zwei Jahrzehnten zwei Tschetschenienkriege stattgefunden, dazu der Krieg zwischen Russland und Georgien im Jahre 2006 sowie die Kriege zwischen Armenien und Aserbeidschan um die Enklave Bergkarabach. Wie auf dem Balkan herrscht auch im Kaukasus ein brüchiger Frieden, der durch die notorische Bürgerkriegsneigung einiger Länder in Frage gestellt wird. Der Blick auf die Karte zeigt, dass die Ukraine, der Raum, in dem seit einem Jahr immer wieder aufflackernde Kämpfe stattfinden, das geographische Verbindungsstück zwischen Kaukasus und Balkan darstellt und dass auch hier das Grundproblem des Balkans und des Kaukasus – die fehlende, gescheiterte oder defizitäre Bildung eines stabilen Nationalstaats – die wesentliche Ursache der bewaffnet ausgetragenen Konflikte darstellt. Dieser postimperiale Raum zwischen Balkan und Kaspischem Meer ragt wie ein Pfahl in die Flanke der EU herein und stellt in sicherheitspolitischer Hinsicht deren größte und wichtigste Herausforderung dar. Diese Herausforderung wird noch dadurch verschärft, dass aus diesem Raum ein erheblicher Teil der in die Europäische Union hineinströmenden Flüchtlinge kommt.

Ein weiterer postimperialer Raum ist der zwischen Levante und Jemen, Mittelmeer und Mesopotamien. Als postimperialer Raum ist er dadurch gekennzeichnet, dass es auch hier nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs am Ende des Ersten Weltkriegs nicht zur Entstehung einer stabilen und zugleich entwicklungsfähigen politischen Ordnung gekommen ist. Über mehrere Jahrzehnte war das Problem die Hyperstabilität der autoritären Regime bzw. Militärdiktaturen des Raumes, und seit einigen Jahren sind es deren sich schnell vollziehender Zerfall der Staaten und die sich ausbreitenden Bürgerkriege.[11] Dabei tragen die Europäer eine erhebliche Mitverantwortung: 1916 verständigten sich der britische Offizier Mark Sykes, der französische Diplomat Georges Picot und der russische Außenminister Sassonow über die Aufteilung dieses Raumes in „Interessengebiete“ ihrer Mächte, die nach dem Sieg über das mit den Mittelmächten verbündete Osmanische Reich durchgesetzt werden sollte. Dabei ging es zunächst nicht um den Aufbau einer neuen Ordnung, sondern um die Aufteilung der Kriegsbeute und die Vermeidung eines Konflikts zwischen den prospektiven Siegermächten über die jeweilige Vorherrschaft im Vorderen Orient.[12] Das Aufteilungsprojekt hatte zunächst die Aufgabe, eine Wiederauflage des Konflikts zwischen der russischen Landmacht und der britischen Weltmacht um die Vorherrschaft in Zentralasien, besser bekannt als „Great Game“, zu verhindern. Der militärische Zusammenbruch des Zarenreichs im Sommer/Herbst 1917 und das Ausscheiden Russlands aus dem Kreis der Aufteilungsmächte hat diese Verabredung dann zum Sykes-Picot-Abkommen werden lassen, das den Franzosen Interessengebiete in Syrien und im Libanon und den Briten die Kontrolle des ans Meer angrenzenden Süden von Basra bis Aden sowie in Palästina und Jordanien einräumte. Im Zwischenraum wurde mit Hilfe regionaler Herrscherfamilien eine Ordnung errichtet, die Staatlichkeit mehr prätendierte als tatsächlich entwickelte. Die im Vorderen Orient entstandene politische Ordnung ist zu einem wesentlichen Bestandteil bei der Selbstblockade der arabisch-islamischen Welt geworden. Das US-amerikanische Projekt zum Sturz Saddam Husseins und der Errichtung eines Prosperitätsregimes im Irak lässt sich ebenso als ein Versuch zur Auflösung dieser Selbstblockade verstehen wie der von innen kommende „Arabische Frühling“ vor wenigen Jahren. Auf unterschiedliche Weise sind beide Projekte gescheitert und haben so zur weiteren Destabilisierung dieses Raumes beigetragen.

Die Milizen des wie aus dem Nichts entstandenen „Islamischen Staats“ in Syrien und im Nordirak legitimieren ihr Agieren nicht zuletzt damit, dass sie die von Sykes und Picot gezogenen kolonialen Grenzziehungen beseitigen und einen Kalifatstaat errichten wollen, durch den die arabisch-islamische Welt wieder zu einem relevanten Akteur der Weltpolitik und einem Faktor der zukünftigen Weltordnung werden soll.[13] Insofern der angestrebte Kalifatstaat freilich von der Türkei über die arabische Halbinsel und große Teile Nordafrikas bis nach Südspanien reichen soll, läuft das IS-Projekt auf eine grundlegende politische Neuordnung dieses Raumes hinaus, die, wenn sie gelänge, zu einer existenziellen Bedrohung Europas werden dürfte. Mehr noch als in den Gräueltaten des IS mitsamt den Terrorvideos der Organisation sowie den traumatisiert in die Staaten Europas zurückkehrenden IS-Kämpfer besteht darin eine Herausforderung, der sich die EU stellen muss und, auch wenn sie das zur Zeit noch eher zögerlich tut, stellen wird.

Der IS ist freilich nicht das einzige Problem der Region: Es kommen die Kurdenfrage und das zwischen dem Iran, Saudi-Arabien und Ägypten ausgetragene Ringen um die Hegemonie im Nahen Osten dazu, wodurch sich die Konfliktlinien vervielfachen, Freund und Feind oft nicht mehr unterscheidbar und zuverlässige Bündnispartner für die USA bzw. die EU kaum noch zu finden sind. Das macht es schwer bis unmöglich, einen Ansatzpunkt für die Entwicklung von Stabilität und Prosperität in der Region zu finden. Schließlich wird die Gewaltbereitschaft noch durch den Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten als zwei unterschiedlichen Ausdeutungen des Islam verstärkt. Der zweite postimperiale Raum an der europäischen Peripherie erfüllt also alle Bedingungen für einen Krieg vom Typ „Dreißigjähriger Krieg“, in dem politische und religiöse Konflikte, machtpolitische und verfassungspolitische Fragen zusammengeflossen sind, sich die Kriegsgewalt schließlich verselbständigt hat und ein Frieden erst möglich wird, nachdem der umkämpfte Raum völlig verwüstet ist. Eine solche Entwicklung zu verhindern muss der oberste Imperativ der europäischen Politik sein. Dabei geht es freilich um mehr als nur humanitäre Hilfe, sondern um den Aufbau einer politischen Ordnung, die von den dort lebenden Menschen als „ihre Ordnung“ akzeptiert wird.

Das geringste Problem stellt unter diesen Umständen der letzte der drei postimperialen Räume dar, nämlich die Stabilisierung der politischen und sozialen Ordnung und die Förderung wirtschaftlicher Prosperität in den Staaten der Europa gegenüberliegenden Mittelmeerküste, von Ägyptern über Libyen, Tunesien und Algerien bis nach Marokko. Zeitweilig ist der Zerfall der politischen Ordnung in Libyen und das infolgedessen ungehinderte Agieren von Schleuserbanden für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und dem subsaharischen Afrika freilich das größte Problem der EU, weil sie keine Antwort auf diese Herausforderung und die sich in regelmäßigen Abständen wiederholenden humanitären Katastrophen im Mittelmeer findet. Andererseits bestehen hier – mit Ausnahme Libyens – funktionierende Regierungen mit einem entsprechenden administrativen Unterbau, mit denen man Verträge schließen und Verabredungen treffen kann. Das wichtigste Ziel der Europäer muss dabei darin bestehen, in diesen Ländern eine ökonomische Prosperität zu generieren, die die soziale Perspektivlosigkeit breiter Schichten zu überwinden hilft. An diesem Punkt setzen freilich auch die dschihadistischen Gegenspieler einer sozio-politischen Stabilisierung Nordafrikas an, indem sie periodisch Tourismuseinrichtungen angreifen, um so einen wichtigen Wirtschaftsbereich dieser Länder zu zerstören. Würde dies gelingen, wäre der soziale Zerfall dieser Länder wahrscheinlich. Insofern kommt hier dem Urlaubsverhalten europäischer Touristen strategische Bedeutung zu.

Der Ordnungszerfall in postimperialen Räumen ist geeignet, neoimperiale Träume bei den politischen Eliten der diese Gebiete einstmals beherrschenden Mächte (oder auch bei sich um solche Träume formierenden Akteuren) hervorzurufen. In welchem Maße solche Vorstellungen in der Politik von Regierungen tatsächlich eine Rolle spielen, ist jedoch unklar und bei den politischen Beobachtern fast immer umstritten. Am ehesten noch herrscht Einigkeit darüber, dass die Ziele des IS durch die Machtentfaltung des Islam in der Zeit der Abassiden-Herrschaft geprägt sind, während mit Blick auf das russische Agieren in der Ostukraine und auf der Krim darüber gestritten wird, ob es sich hier um den Anfang eines neuerlichen „Sammelns russischer Erde“ in geopolitischer Ausrichtung am einstigen Zarenreich oder aber um ein wesentlich defensives Agieren gegenüber einem ständigen Näherrücken der Nato handelt.[14] Und auch das Agieren des türkischen Präsidenten Erdogan gegenüber dem IS in Syrien sowie den kurdischen Gruppierungen im Nordirak wirft die Frage auf, ob es sich hier eher um das defensive Handeln einer Regionalmacht oder um die Wiederherstellung einer osmanischen Oberhoheit in diesem Raum geht. Es steht aber außer Frage, dass die europäische Politik gegenüber Russland und der Türkei wesentlich dadurch bestimmt ist und sein wird, wie sie das Agieren Putins und Erdogans interpretiert: Die Möglichkeit, dass es durch neoimperiale Träume angeleitet wird, die von einigen politischen Intellektuellen ausformuliert worden sind, ist dabei nicht auszuschließen, aber das darf nicht zu dem Fehlschluss verführen, weil es diese Option gibt, sei sie auch die tatsächliche Handlungsanleitung des politischen Handelns. Das ist mitnichten der Fall. Richtig ist hingegen, dass der Ordnungszerfall in postimperialen Räumen neoimperiale Träume provoziert und dass diese wiederum eher ein Bestandteil des Problems als seiner Lösung darstellen.

Krisenbearbeitung an der europäischen Peripherie

Die in den postimperialen Räumen offen geführten oder bloß dahinschwelenden Kriege, die als transnational und innergesellschaftlich zugleich zu bezeichnen sind, bei denen es sich also nicht um klassische zwischenstaatliche Kriege handelt,[15] müssen zunächst lokalisiert und, wenn ihre politische Beendigung nicht möglich ist, so gut es geht „eingefroren“ werden. Unter allen Umständen ist ihre Ausweitung zu „Flächenbränden“ zu verhindern. Dem Imperativ der Verhinderung von Flächenbränden, sei es durch das Umsichgreifen eines Konfliktherdes, sei es durch die räumliche Verbindung von zweien solcher Kriege, sind alle anderen politischen Vorstellungen und Projekte unterzuordnen. Dabei ist eine inkrementalistische Politik mit partiellen Lösungen gegenüber einer Grand-Strategy-Politik vorzuziehen, da letztere angesichts der unübersichtlichen Lage mit einer Reihe von Annahmen arbeiten muss, die sich als falsch erweisen können, was dann zur Folge hat, dass diese Art von Intervention die Lage eher verschlechtert als verbessert. Im Unterschied dazu eröffnet eine inkrementalistische Politik die permanente Möglichkeit des Beobachtens, Beurteilens und Korrigierens. Sie hat freilich das Manko, keinen großen Entwurf, keine langfristige Perspektive, keine Vision der zukünftigen Ordnung bieten zu können. Ist eine Grand-Strategy-Politik in diesen postimperialen Räumen riskant, so ist deren Gegenteil, eine fatalistische Hinnahme auf der Grundlage uneingestanden deterministischer Annahmen über die Unvermeidlichkeit der beobachteten Entwicklungen, geradezu gefährlich, weil sie im Sinne einer „selfull-filling prophecy“ zu kataklysmischen Ereignisketten führt, in deren Folge die politischen Entwicklungen tatsächlich unbeherrschbar werden und eine verhängnisvolle Eigendynamik erlangen, der die Politik nicht mehr Herr zu werden vermag.

Ähnlich wie bei dem Blick auf die Entstehungsgeschichte der postimperialen Räume an der Südostflanke Europas ist hier ein Blick auf die Geschichte des Ersten Weltkriegs hilfreich – in diesem Fall freilich nicht auf dessen Nach-, sondern auf seine Vorgeschichte: Niedergangsängste (freilich unterschiedlichen Ausmaßes) in Wien, Sankt Petersburg und London, dazu Einkreisungsängste vor allem in Berlin haben im Juli 1914 zu einer Lagebeurteilung geführt, in der man den mit der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo entstandenen Konflikt zwischen Wien und Belgrad nicht lokalisierte, wie dies bei den Balkankriegen von 1912 und 1913 der Fall gewesen war, sondern diesen Konflikt als Ansatzpunkt für die Lösung sämtlicher politischer Probleme in Europa nutzten wollte. Die Folge dessen war, dass der Konflikt unbeherrschbar wurde und es nach dem Scheitern sämtlicher Offensivpläne, die auf eine schnelle Kriegsentscheidung und die Vermeidung eines lange währenden Krieges in Europa ausgerichtet waren, im Herbst 1914 nicht gelang, den Krieg zu beenden und zum Status quo ante zurückzukehren – was im Sinne aller kriegsbeteiligten Mächte rational gewesen wäre.[16] In der Folge dessen griffen imperiale Pläne um sich, die zunehmend zu Kriegszielen erklärt wurden –, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland und selbst in Großbritannien und Frankreich.[17] Jenseits einer zumeist hohlen und wenig kenntnisreichen politischen Rhetorik des Lernens aus der Geschichte lässt sich hier tatsächlich aus der europäischen Geschichte vom Anfang des 20. Jahrhunderts etwas für die Bearbeitung gegenwärtiger Herausforderungen lernen.

Der Verzicht auf eine Grand-Strategy-Politik hat freilich Folgen für den Umgang mit autoritären, womöglich sogar diktatorischen Regimen in den postimperialen Räumen. Ein Beispiel dafür ist Ägypten, das zurzeit wie ein Puffer den Krieg in Libyen und das Konfliktfeld Palästina voneinander trennt. Ein Zerfall Ägyptens hätte für das östliche Mittelmeer katastrophale Folgen und würde das Kriegsgeschehen an der Gelenkstelle zwischen Vorderem Orient und Nordafrika unkontrollierbar machen. Natürlich wäre den Europäern eine parlamentarische Regierung, eine rechtsstaatliche Ordnung, eine politisch partizipierende Zivilgesellschaft und eine prosperierende Wirtschaft in Ägypten sehr viel sympathischer und würde die Kooperation mit dem Land auch deutlich erleichtern. Doch all das ist auf unabsehbare Zeit nicht zu haben, nachdem sich die in den „arabischen Frühling“ gesetzten Hoffnungen und Erwartungen[18] weithin als illusionär erwiesen haben. Die Folge ist, dass die Europäer mit dem al-Sisi-Regime kooperieren müssen, auch wenn sie mit guten Gründen bezweifeln, dass dieses zu einer nachhaltigen Lösung der Probleme des Landes in der Lage ist, und beobachten, dass es einen immer repressiveren Kurs gegenüber seinen Bürgern verfolgt. Aber in postimperialen Räumen ist die Vermeidung bzw. aktive Verhinderung des möglichen Schlimmeren fast immer das Bessere als die hochriskante Verfolgung politisch ambitionierter Ziele. Gerade das Scheitern der amerikanischen Irakpolitik kann dafür als Beispiel gelten. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass es Fälle gibt, in denen mehr als die Verhinderung des Schlimmeren möglich ist und die Verwirklichung des Besseren eine reale politische Option darstellt. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass das nicht nur viel Geld und eine hohe Einsatzbereitschaft sowie lange Durchhaltefähigkeit der intervenierenden Mächte zur Voraussetzung hat, sondern dass sich der Erfolg dessen erst nach einer Zeitspanne von Jahrzehnten zeigen wird und dass dieser Erfolg alles andere als sicher ist. Der Rückzug von Amerikanern und Europäern aus dem Afghanistanprojekt lässt Zweifel aufkommen, ob die auf sehr viel kürzere Zeitrhythmen gestimmte Politik der westlichen Gesellschaften zu solchen Projekten überhaupt in der Lage ist. Unter diesen Umständen ist es klüger, sich auf die Verhinderung des Schlimmeren zu beschränken als die Verwirklichung eines Besseren anzustreben. Die konditionierende Formel „unter diesen Umständen“ bezieht sich auf beides: auf die Besonderheiten postimperialer Räume und die Leistungsfähigkeit postheroischer Gesellschaften.[19]

Die Europäische Union ist ein politischer Raum, der in seinem Innern auf die Einhaltung demokratischer Regeln und rechtsstaatlicher Verfahren zu achten hat, aber die EU ist nicht in der Lage, diese Politik an ihrer Peripherie durchzuhalten bzw. durchzusetzen. Tatsächlich hat sie mit der Gewährleistung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schon im Innern ihre Probleme, wie das Beispiel Ungarn zeigt.[20] Eine offensive Politik des Exports von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in die postimperialen Räume an den Rändern Europas würden mit Sicherheit zu einer imperialen Überdehnung der EU und infolgedessen mit großer Wahrscheinlichkeit zu deren Zerfall führen. Der innereuropäische Streit um die Quoten bei der Aufnahme von Flüchtlingen ist ein Warnhinweis hinsichtlich der Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme langfristiger und kostenintensiver Projekte. Es ist deswegen ratsam, sich auf eine eher an kurzfristigen pragmatischen Zielen orientierte Politik zu beschränken, so sehr dies auch unserem Wertverständnis entgegenstehen mag. Eine solche Politik muss freilich jederzeit gegen die Forderungen der verschiedenen NGOs und deren mediale Präsenz immer wieder neu begründet werden. NGOs und die ihnen verbundenen Intellektuellen sind die politischen Gegenspieler einer pragmatischen (oder wie diese sagen: zynischen) Politik. Es ist klar, dass es hier immer wieder zu Konflikten kommen wird.

Die Bundesrepublik Deutschland als „Macht in der Mitte“

Der Prozess einer gleichzeitigen Vertiefung wie Erweiterung der EU ist an seine vorläufigen Grenzen gestoßen. Symptomatisch dafür ist die Griechenlandkrise, die Probleme der EU bei deren Bearbeitung und die nationalen Ressentiments, die im Verlauf dieser Krise aufgetaucht sind. Das aber hat Folgen für die von der EU betriebene Balkanpolitik. Zu der gehört nämlich als unabdingbares strategisches Element die den Balkanländern eröffnete Aussicht auf Vollmitgliedschaft in der EU. Nach der Beendigung der jugoslawischen Zerfallskriege – bei der im Übrigen die USA eine zentrale Rolle spielten, indem sie dafür sorgten, dass die unterschiedlichen Sympathien und Präferenzen der europäischen Länder (Deutschland und Österreich für Kroatien, Frankreich für Serbien bzw. Restjugoslawien) zu einer politischen Konfrontation führten – wurden Bosnien-Herzegowina und das Kosovo durch die Präsenz von europäischem Militär und Polizeikräften sowie eine erhebliche finanzielle Unterstützung „befriedet“ und Serbien, Montenegro, Mazedonien und Albanien mit Hilfe eines in Aussicht gestellten EU-Beitritts auf Brüsseler Linie gebracht. Mit der Griechenlandkrise aber ist die Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Balkanländer in vielen Hauptstädten der EU geschwunden; weitere Mitgliedsstaaten vom „Typ Griechenland“ glaubt man dort nicht verkraften zu können – nicht in finanzieller Hinsicht, aber schon gar nicht im Hinblick auf die politische Folgebereitschaft der eigenen Bevölkerung. Damit aber steht die gesamte Balkanpolitik der EU während des letzten Jahrzehnts auf der Kippe. „Keine der jungen, kleinen und armen Nationen hat die Kraft, ohne europäischen Kompass aus sich heraus einen eigenen steten Kurs zu finden. Ohne EU-Perspektive drohen Diktatur, Kleptokratie, organisiertes Verbrechen und ethnische Konflikte.“[21] Insofern hat die Griechenlandkrise nicht nur eine fiskalpolitische, sondern auch eine geopolitische Dimension, bei der es gar nicht erforderlich ist, Russland als strategischen Störer der EU-Ordnung im Balkanraum herauszustellen. Damit aber steht die einzige Erfolgsgeschichte der EU im Einwirken auf postimperiale Räume zur Disposition. Absorbiert durch die finanziellen Hilfspakete für Griechenland ist dieses Problem der europäischen Öffentlichkeit bisher weitgehend entgangen.

Parallel dazu haben einige Schritte zur Vertiefung der Europäischen Union, namentlich die Einführung des Euro, infolge der sozio-ökonomischen Heterogenität der zur Eurozone gehörenden Länder sowie der unterschiedlichen politischen Kulturen in ihnen zuletzt zur Drohung einer Spaltung des EU-Raums und dem immer wieder zu hörenden Vorwurf einer deutschen Hegemonie in Europa geführt. Unter anderem war von einer politisch-ökonomischen Aufspaltung der EU in einen Nord- und einen Südraum die Rede, was de facto auf das Ende des in den späten 1950er Jahren begonnenen Europaprojektes hinauslaufen würde. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat im Rückgriff auf Überlegungen Alexandre Kojèves die Idee eines „lateinischen Europa“ ins Spiel gebracht, was sich wesentlich gegen Deutschland richtete. Diesem Europa sollten weder Deutschland und Großbritannien noch die skandinavischen und die mittel- und osteuropäischen Länder angehören.[22] Nach einer kurzen Debatte, die jedoch eher im Feuilleton als im politischen Teil der Zeitungen stattfand, ist diese Idee wieder in der Versenkung verschwunden. Es steht aber außer Frage, dass sie bei einer neuerlichen Zuspitzung der Fiskalkrise jederzeit wieder auftauchen kann. Unter diesen Umständen ist eine weitere Vertiefung der Union, wie sie als Reaktion auf die Eurokrise immer wieder gefordert wird, weder wahrscheinlich noch politisch opportun; sie würde nur die Streitpunkte unter den Mitgliedsstaaten vermehren und mit großer Wahrscheinlichkeit zum Austritt der Briten aus der Union führen.

Das Anwachsen der zentrifugalen Kräfte innerhalb der EU hat zu einem Bedeutungsverlust der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission und des Parlaments, nicht jedoch der EZB, und zu einem Bedeutungsgewinn der intergouvernementalen Ebene geführt. Das hat sich vor allem im Verlauf der Griechenlandkrise mit großer Deutlichkeit gezeigt. In dieser Situation bedarf es einer Macht in der Mitte bzw. einer Macht der Mitte, die den zentrifugalen Kräften entsprechende zentripetale Kräfte entgegenzusetzen vermag und dazu auch bereit und willens ist. Nach Lage der Dinge kann das nur die Bundesrepublik Deutschland sein. Ihr fallen auf längere Zeit Hauptlast und Hauptverantwortung beim Zusammenhalt der EU zu.[23] Dabei geht es nicht nur darum, einen fairen Ausgleich der Interessen und Belastungen sicherzustellen, sondern auch dafür zu sorgen, dass innerhalb der EU die Verträge, auf denen die gesamte Konstruktion beruht, auch respektiert und eingehalten werden. Mehr als die in der Regel schwache Kommission wird die deutsche Regierung der „Hüter der Verträge“ sein, und wenn sie daran scheitert, dann scheitert Europa.

Dieser Beitrag erschien in unserer Publikation "Europa und die neue Weltunordnung: Analysen und Positionen zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik".


[1] Dazu ausführlich Herfried Münkler: Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015. Auf die Geschichte der großen Weltreiche bezogen: ders., Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005.

[2] Der Begriff der imperialen Überdehnung geht auf Paul Kennedys Buch Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt am Main 1989, zurück. Der Begriff „soft power“ ist von John Nye in seinem Buch Soft Power. The Means to Success in World Politics, New York 2004, ausgearbeitet worden.

[3] Diese These findet sich bei Ian Morris: Krieg. Wozu er gut ist, Frankfurt/New  York 2013, S. 402ff.

[4] Dazu ausführlich Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918, Berlin 2013, S. 773ff.

[5] Vgl. Paul Kennedy: Aufstieg und Verfall der britischen Seemacht, hrsg. vom Deutschen Marineinstitut, Bonn 1978, S. 227ff.

[6] Vgl. dazu den vierten und letzten Band von Heinrich-August Winklers monumentaler Geschichtsdarstellung Der Westen, München 2015.

[7] Jürgen Habermas: Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X, Frankfurt am Main 2004.

[8] Das läuft, zu Ende gedacht und systematisiert, auf eine raumbezogene Kombination von realistischen und normativistischen Theorien der internationalen Politik hinaus.

[9] Karl Kautsky: „Der Imperialismus“, in gekürzter Fassung in: Stefan Bollinger (Hrsg.): Imperialismustheorien, Wien 2004, S. 108-120.

[10] Zuletzt hat Adam Tooze in seinem Buch Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916-1931, München 2015, sich mit den Folgen der amerikanischen Verweigerung gegenüber der Weltpolizistenrolle auseinandergesetzt (vgl. insbesondere das Kapitel „Das Fiasko des Wilsonianismus“, S. 413ff.).

[11] Vgl. Volker Perthes: Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen, Berlin 2015.

[12] Die zumeist übersehene russische Beteiligung an diesem Projekt ist jetzt beschrieben bei Sean McMeekin: Russlands Weg in den Krieg. Der Erste Weltkrieg – Ursprung der Jahrhundertkatastrophe, Berlin 2014, S. 127ff.

[13] Dazu vor allem Guido Steinberg: Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror, München 2015.

[14] Exemplarisch dafür ist die Debatte zwischen Vittorio Hösle und Erhard Eppler: Während Hösle („Macht und Expansion. Warum das heutige Russland gefährlicher ist als die Sowjetunion der 70er Jahre“; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2015, S. 101-120) von einer Orientierung der russischen Politik am alten Zarenreich ausgeht, verweist Eppler („Demütigung als Gefahr. Russland und die Lehren der deutschen Geschichte“; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/15, S. 69-77) darauf, dass Putin keineswegs die sich ihm bietenden Chancen zum Anschluss der Separatistengebiete im Donbass an Russland genutzt habe.

[15] Zur Entstehung dieses neuen Typs von Krieg, der sich den klassischen binären Codierungen des Völkerrechts entzieht (Krieg/Frieden; Bürgerkrieg/Staatenkrieg; Kombattanten/Nonkombattanten) und deswegen in jüngster Zeit auch als „hybrider Krieg“ bezeichnet wird, vgl. Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek 2002.

[16] Vgl. dazu Herfried Münkler: Der Große Krieg, a.a.O., S. 289ff. sowie ders.: Kriegssplitter, a.a.O., S. XX.

[17] Dazu Holger Afflerbach (Hrsg.): The Purpose of the First World War Aims and Military Strategies, Berlin/Boston 2015.

[18] Für einen Blick auf diese Hoffnungen vgl. Frank Nordhausen/Thomas Schmid (Hrsg.): Die arabische Revolution. Demokratischer Aufbruch von Tunesien bis zum Golf, Berlin 2011.

[19] Postheroisch sind die Gesellschaften, die eine Phase der Heroizität durchlaufen haben und die Beendigung dessen als einen Lernprozess begreifen; das trifft auf fast alle europäischen Gesellschaften zu, insbesondere aber auf die Bundesrepublik; vgl. dazu H. Münkler: Kriegssplitter, a.a.O., S. XX.

[20] Dazu Jan-Werner Müller: Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie, Berlin 2013.

[21] Norbert Mappes-Niediek: „Mazedonien: Das Spiel mit dem Feuer“; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/15, S. 30.

[22] Giorgio Agamben, „Se un impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa“; in: La Repubblica, 15.3.2013.

[23] Vgl. hierzu Herfried Münkler: Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015.