Erinnerung an Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg

Familien auf der Flucht im Winter

In ihrem Einführungsvortrag zum 5. Europäischen Geschichtsforum am 23. und 24. Mai betont die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann die Notwendigkeit eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisraums.

Lassen Sie mich mit einer persönlichen Reminiszenz beginnen. Im Januar 2013 erhielt ich eine Einladung ins Schloss Bellevue in Berlin, den Sitz des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, der sich mit einer kleinen Gruppe persönlich über die Erinnerungskultur seines Landes austauschen wollte. Sein Thema war die Erinnerung an Migration, Flucht und Vertreibung. Er wollte von den Geladenen wissen, in welcher Form diese Geschichte Teil einer nationalen Erinnerung werden und wie man daraus ein  gesamtgesellschaftliches Thema machen könne. Er machte keinen Hehl daraus, dass er selbst – nicht zuletzt aufgrund seiner Sozialisierung in der DDR, in der das Schicksal der Flüchtlinge aufgrund der Rücksichtnahmen gegenüber den sozialistischen Brudervölkern tabu war – mit dieser Erinnerung selbst nichts anfangen konnte. Das sollte sich nun aber ändern, und er wollte in seinem eigenen Kopf beginnen. Er sagte: „Ich möchte mich dieser historischen Erfahrung stellen und kann das Argument nicht mehr hören: ‚Wer Wind sät, wird Sturm ernten!’ Aus diesem Gefängnis will ich raus!“

In der kleinen Gesprächsrunde kamen unterschiedliche Perspektiven zusammen: links neben mir saß der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler, der das Thema Integration als Erfolgsstory der frühen Bundesrepublik empfahl, rechts neben mir saß Andreas Kossert, dem wir die differenzierte Studie Kalte Heimat (2008) über das Schicksal der deutschen Vertriebenen verdanken, die auch die Innenperspektive der Betroffenen ausführlich zu Wort kommen lässt. Ich selbst steuerte einen Denkimpuls meines amerikanischen Kollegen Michael Rothberg bei, der den Begriff ‚multidirectional memory’ geprägt hat.[1] Mit diesem Begriff hat er gezeigt, dass und wie es möglich ist, Erinnerungskonkurrenzen und Opferwettbewerb in der Erinnerungsforschung und -Praxis zu überwinden. Erinnerungen, so seine These, müssen sich nicht unbedingt in ‚memory wars’ entladen, bekämpfen und verdrängen, sondern können sich auch miteinander verknüpfen und damit gegenseitig zu mehr Aufmerksamkeit und gesellschaftlicher Anerkennung verhelfen. Mein Vorschlag in der Diskussionsrunde war deshalb, die historischen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung mit der gegenwärtigen Situation zu verbinden und auf diese Weise Probleme der Integration in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen. Von der großen Flüchtlingsbewegung, wie wir sie jetzt erleben, war damals noch nichts zu spüren. Deshalb danke ich der Böll-Stiftung und Memorial, dass Sie das Thema der aktuellen Migrationsthematik mit seiner neuen Dringlichkeit auf die Agenda gesetzt haben und uns mit dieser Konferenz die Möglichkeit geben, über das Thema gemeinsam neu nachzudenken.

Vergessen und Wiederkehr der Migrations-Erinnerung

Erinnerungen, besonders solche mit einem quälenden Inhalt, dem man sich nicht gerne stellt, vollziehen sich in Sprüngen. Dem Impuls, sich belastenden Ereignissen in der Vergangenheit wieder zu stellen, gehen oft lange Phasen des Vergessens, der Abwehr, der Ignoranz, der Indifferenz, der Latenz voran. Solche Latenzphasen finden erst ihr Ende, wenn sich von der Gegenwart aus ein Druck aufbaut, der es dringlich und unerlässlich macht, dieses Thema wieder aufzunehmen. Genau das ist der Fall beim Thema Flucht und Vertreibung im Kontext der beiden Weltkriege, denn unsere heutige Erfahrung der Migration verlangt nach einer längeren Perspektive, in der wir Zusammenhänge entdecken und Parallelen herstellen können.

In diesem Licht wird uns erst richtig bewusst, in welchem Ausmaß die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts von Massenbewegung und Bevölkerungsverschiebungen begleitet war.   Die Weltkriege forcierten neue Formen einer ‚imperial-expansiven Geopolitik‘ mit nationalistischem Schwerpunkt. Sowohl nach als auch während der Kriege schmiedete man in Europa abenteuerliche Pläne der Verschiebung von Grenzen, die oft den Austausch ganzer Bevölkerungsgruppen mit einschlossen. Unter dem Druck kriegerischer Gewalt wurde die Landkarte Europas ständig umgeschrieben, wobei sich die Regime und staatlichen Verfassungen abrupt änderten. In einer Stadt wie Lemberg / Lviv hat zwischen 1914 und 1945 sieben mal die Staatsform und die Regierung gewechselt – mit meist desaströsen, ja letalen Folgen für ihre Bevölkerung.[2] Wo sich über Jahrhunderte Menschen in langfristigen Wanderbewegungen neu angesiedelt und friedlich mit Menschen anderer Herkunft und Kultur zusammengelebt hatten, da wurden von heut auf morgen radikale Änderungen vorgenommen. Das 20. Jahrhundert brach mit angestammten Erfahrungen, Praktiken und Traditionen des multi-nationalen, multi-ethnischen und multi-religiösen Zusammenlebens. Der erste Weltkrieg brachte neue Nationalstaaten hervor. ‚Modern’ war an der Geopolitik  des 20. Jahrhunderts die Erfindung des ethnischen Nationalstaats mit seinem Bedürfnis einer totalen ‚Erneuerung’ und der Bereitschaft zu radikalen Lösungen. In diesem Kontext tauchte zum ersten Mal der Begriff ‚Minderheiten’ auf, der die alten Schutzrechte und Privilegien der multinationalen Reichsverfassungen beseitigte und ganze Bevölkerungsgruppen zum Ziel sogenannter ‚ethnischer Säuberungen’ machte. Hinter aseptisch bürokratischen Formeln wie die ‚armenische Frage’ oder die ‚jüdische Frage’ verbargen sich neue Formen einer genozidalen Politik, die im Schatten der Kriegswirren durchgezogen wurde, ohne dabei große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, geschweige denn das Einschreiten anderer Nationen zu provozieren.

In der Nachkriegszeit kam für die Erfahrungen von Holocaust, Krieg, Flucht und Vertreibung nicht die Stunde des Nachfragens und Erinnerns, sondern zunächst die des Vergessens und Beschweigens. Die Erfahrungen von Leid, Verlust und Trauma waren zu heterogen, um zusammenzufinden oder nebeneinander zu bestehen. Deshalb war es leichter, von der Vergangenheit auf die Zukunft umzuschalten. Alle Kräfte sollten vereinigt werden, um eine bessere Zukunft hervorzubringen, die die Gräuel des Krieges vergessen lassen würde.  

Diese optimistische Stimmung verkörperten damals besonders die Architekten. 1946 beschrieb Hans Scharoun die großartigen Möglichkeiten, die sich für seine Zunft auftaten: „Die mechanische Auflockerung der Stadt durch Bombenkrieg und Endkampf gibt uns die Möglichkeit einer großzügigen organischen und funktionellen Erneuerung.“[3] Das Wort ‚Wiederaufbau’ bezeichnete in der Nachkriegsmoderne weit mehr als Bauprojekte; es umfasste auch die Wiederherstellung eines funktionierenden Gemeinwesens samt Infrastruktur, Ökonomie und politischem Institutionengefüge. Architektur wurde nach 45 zur  Leitmetapher für den gesamten Staat und seine Gesellschaft, deren Neubeginn sich allem voran in seiner Architekturgeschichte spiegelt.  Die größte Baugenossenschaft, die nach dem Krieg in Westdeutschland Eigentumswohnungen, Eigenheime und Siedlungen baute, hatte den sprechenden Namen ‚Neue Heimat’, der sich besonders an die 14 Millionen Vertriebenen richtete. In seiner Regierungserklärung von 1953 verkündete Adenauer:

„In den ersten vier Jahren (der BRD) sind annähernd sieben Millionen Deutsche wieder zu einer eigenen Wohnung und einem eigenen Heim gekommen, zu einem großen Teil Vertriebene, Ausgebombte und Evakuierte.“[4]

Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs verwandelte sich die organisch gegliederte Volksgemeinschaft allmählich in die ‚nivellierte Mittelstandsgesellschaft’ (Schelsky), jene Sozialform, die wir im Zeitalter der New Economy durch die sich weitende Kluft zwischen arm und reich wieder verloren haben. Das Leitbild ‚Neue Heimat’ stand in den 1950er Jahren nicht nur für Integration, sondern auch für Frieden, denn erstmals standen „Baustoffe wie Stahl oder Beton dem privaten Baubedarf wieder zur Verfügung, die das ‚Dritte Reich’ zur Kriegsproduktion benötigt hatte.“ (57)

Im Aufwind des Wirtschaftswunders hat die westdeutsche Erfolgsgeschichte der ‚neuen Heimat’ das Trauma der Vertriebenen verdrängt. In einer Gesellschaft, in der alle Zeichen auf Zukunft standen, hatten ihre Erfahrungen und Erinnerungen keinen Platz; sie passten nicht zum Zeitgeist, niemand war bereit, ihre Geschichten mit Empathie anzuhören. Auch die Politiker hatten damals gute Gründe, das Vergessen dem Erinnern vorzuziehen, die Winston Churchill bereits 1946 in einer Rede an der Universität Zürich dargelegt hat:

»Wir alle müssen den Gräueln der Vergangenheit den Rücken zuwenden. Wir müssen in die Zukunft schauen. Wir können es uns nicht leisten, in die kommenden Jahre den Hass und die Rache hineinzuziehen, die aus dem Wunden der Vergangenheit entstanden sind. Wenn Europa von endlosem Unheil und endgültigem Untergang gerettet werden soll, müssen wir es auf einen Akt des Glaubens an die europäische Familie und einen Akt des Vergessens aller Verbrechen und Irrtümer der Vergangenheit gründen.«[5]

Damit hat Churchill eine Lehre aus der Geschichte gezogen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte es ein Strafgericht und eine symbolische Erniedrigung Deutschlands durch den Frieden von Versailles im Jahre 1918 gegeben. Auf diese Weise war es nicht gelungen, einen dauerhaften Frieden zu sichern, sondern man hatte das genaue Gegenteil ausgelöst, nämlich tiefe Ressentiments, die die Deutschen in Hitlers Arme und in den Zweiten Weltkrieg trieben. Churchill hielt das Erinnern für gefährlich, weil es Gefühle von Hass und Rache mobilisierte.  Deshalb setzte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg dafür ein, den Deutschen und jenen, die mit den Achsenmächten kollaboriert hatten, nicht länger ihre Vergangenheit vorzuhalten. Nachdem die Verantwortlichen in Nürnberg verurteilt worden waren, verlangte er »ein Ende der Abrechnungen« und ein gemeinsames Vergessen. Dieses Vergessen wurde damals nicht mit ‚Verdrängen’ gleichgesetzt; es war vielmehr positiv konnotiert, weil es ‚Erneuerung’ und ein Fortschreiten in die Zukunft ermöglichen sollte. Von der Zukunft erhoffte man sich ausschließlich positive Veränderungen. Diese zentrale Wert-Prämisse der Modernisierung war nach 1945 übrigens in West- und Ost-Europa gleichermaßen Konsens.

Diese Politik des Vergessens stieß bereits in den 1960er Jahren auf Widerstand und war in den 1980er Jahren nicht mehr konsensfähig. Während sich die ehemaligen Täter im Schutze dieses Vergessens bestens arrangierten, wurde das Milieu des ‚kommunikativen Beschweigens’, wie der Philosoph Hermann Lübbe dieses informelle Arrangement nannte, für die Opfer immer drückender.  40 Jahre nach Kriegsende wurde in Deutschland – noch vor der Wiedervereinigung - der Grund zu einer neuen Erinnerungskultur gelegt, deren Beginn oft mit der Rede des Präsidenten Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 datiert wird.

Anders als die Holocaust-Erinnerung in den 1980er Jahren setzte ein breiteres gesamtgesellschaftliches Interesse am Thema Flucht und Vertreibung erst nach der Wiedervereinigung um das Jahr 2000 ein. Angestoßen wurde diese neue Erinnerungswelle vor allem durch Suchbewegungen in den Familien.[6] Jetzt begann die 2. Generation, sich mit der Geschichte ihrer Eltern auseinanderzusetzen und entdeckte dabei, dass es ja auch ihre eigene Geschichte war. Für diesen Transfer einer traumatischen Erfahrung auf die Kindergeneration hat die Erinnerungsforscherin Marianne Hirsch inzwischen den Begriff ‚postmemory’ entwickelt.[7] Ein Beispiel für ‚postmemory’ ist der Autor Hans-Ulrich Treichel, der 1952 in Ostwestfalen als Sohn einer aus Polen vertriebenen Familie geboren wurde.  Er erfuhr erst kurz vor dem Tode seiner Mutter im Jahre 1991 Näheres über das Schicksal seines älteren Bruders.  Die Eltern waren auf der Flucht vor den Russen dem Tode durch Erschießen nur dadurch knapp entkommen, dass sie ihre gesamte Habe, darunter den 1943 geborenen Bruder Günter, auf einem Pferdewagen zurückließen.[8] In seinem autobiographischen Familienroman Der Verlorene (1998) hat Treichel sich des Familiengeheimnisses /-traumas angenommen und dabei die Themen von  Trauma und Schuld, Auslöschung von Erinnerung und Wiederaufbau aufs Engste miteinander verflochten. Er schildert dabei auch die geschlechtsspezifischen Wirkungen der Verdrängung am Beispiel seiner beiden Eltern.[9]

„Je mehr die Mutter unter der Last der Erinnerung zu erstarren drohte, umso aktiver wurde der Vater.  Er der zweimal, nach beiden Weltkriegen, erleben musste, Haus und Hof zu verlieren, und der nach dem Krieg mit leeren Händen nach Ostwestfalen gekommen war, hatte sich nun ein drittes Mal eine sogenannte Existenz aufgebaut.  Er hätte in Frieden leben können, aber es gab keinen Frieden.  Er baute das Haus um. (...) Er tat dies so gründlich, dass das neue Haus in nichts mehr dem alten glich.“[10]

Treichel lässt keinen Zweifel daran, dass bei diesem Abriss-Furor und Baueifer zugleich die Erinnerung mit entsorgt werden musste. Die technische Modernisierung tut das Ihre, um alle Spuren der Vergangenheit zu tilgen.

„Bei den Nebengebäuden handelte es sich um den Pferdestall der früheren Poststelle, ein Waschhaus und einen Geräteschuppen, über dem sich ein Taubenschlag befand.  Eine ‚Polenwirtschaft’ nannte der Vater die alten, schon ein wenig verfallenen Gebäude.  Aber er hatte sie in dem Zustand gelassen, in dem er sie vorgefunden hatte, und dies wohl auch, weil sie ihn an seine bäuerliche Vergangenheit in Rakowiec erinnerten. (...) All das wurde binnen einer Woche dem Erdboden gleichgemacht. (...) Die Investition hatte sich gelohnt, das (neue) Kühlhaus verschaffte dem Vater einen Vorsprung vor den Konkurrenten.“ ( 76, 77, 78-79)

Die großen Anstrengungen in Wirtschaft und in die Zukunft gehen hier mit einer Tilgung von Geheimnis und Abenteuer, von Vergangenheitssubstanz und Erinnerung einher.  Sie kommen, allgemeiner ausgedrückt, einer Anästhesierung des Traumas gleich.

Spuren der Vertreibung in der heutigen Erinnerung

Das Thema Zwangsmigration ist Inbegriff einer verschränkten Beziehungs-Gewalt-Geschichte (‚entangled history’), die Bevölkerungsgruppen während des Krieges und nach Kriegsende zwang, ihre Heimat zu verlassen. Deportationen in Todes- und Arbeitslager, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Umsiedler und Flüchtlinge waren die emblematischen Opfer jener Jahre. Bilder von Koffern, Schienen, Zügen, Transporten, Bahnsteigen und langen Flüchtlingstrecks sind die Ikonen dieser gewaltförmigen Bewegungen. Die Deutschen haben das Leid von Flucht und Vertreibung erst erfahren, nachdem sie als Nation selbst nach Kräften zu diesem Trauma beigetragen haben. An die täglichen Deportationen von Juden werden die Nachgeborenen heute durch Stolpersteine erinnert – sie nehmen jetzt nachträglich wahr, wovor die Zeitgenossen und Nachbarn damals die Augen verschlossen und wovon sie später ‚nichts gewusst’ haben wollten. In der kataklysmischen Endphase des Krieges stießen gegensätzliche Schicksale hart aufeinander: Dieselben Bomben, die in Dresden die deutsche Bevölkerung trafen, retteten Juden das Leben, die an diesem Tag hätten deportiert werden sollen.

Ich selbst bin in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen und kann mich noch an viele Spuren der Vertreibungsgeschichte erinnern. Mein Vater, der in Görlitz aufgewachsen ist,  beherrschte alle ostdeutschen Dialekte. Er freute sich immer, wenn er irgendwo einen fremden Klang hörte und tauschte sich dann mit den Menschen über ihre diversen Geschichten aus. Die geographischen Namen, die bei solchen Gesprächen genannt wurden, klangen fremd und weit entfernt. Ich erinnere mich an eine verarmte Frau mit starkem schlesischen Akzent, die auf einem windigen Dachboden lebte und für unsere Familie Laken ausbesserte und Nachthemden nähte. Die Sommerferien verlebte ich an der Ostsee im geräumigen roten Klinkerfachwerkhaus meiner Großmutter, das sich nach dem Krieg mit etlichen Flüchtlingsfamilien füllte. Ich erinnere noch die Zeit, in der in jedem Zimmer eine 2-4 köpfige Familie wohnte, was für mich den Reiz und das Geheimnis dieses Hauses damals erheblich gesteigert hat, denn es gab immer freundliche Menschen und viele Kinder um uns herum. Ich konnte miterleben, wie diese Familien allmählich zu Geld und Status kamen und in ihre eigenen Häuser und Wohnungen einzogen. Es gab aber auch ein Denkmal in Strandnähe, das an die circa 5.000 Toten des Schiffsuntergangs der Cap Arcona erinnerte. Das nicht gekennzeichnete Schifft war am 4. Mai 1945 von den Engländern bombardiert und versenkt worden in der Annahme, es handele sich um einen deutschen Truppentransport. Tatsächlich waren aber KZ-Häftlinge aus Neuengamme an Bord, die vor den anrückenden Truppen evakuiert worden waren.

Flüchtlingsgeschichten spielten damals eine große Rolle im Gesprächsstoff der Erwachsenen. In späteren Jahren erzählte mir eine Bekannte aus Riga mit starkem ostpreußischen Tonfall, dass sie sich zusammen mit allen anderen (Volks-)Deutschen im Laufe eines Vormittags auf den Abtransport aus ihrer Heimatstadt einzustellen habe. Alle deutschen Bewohner der Stadt wurden in eine andere Stadt überführt, vielleicht war es Posen, aus der zuvor die Einwohner – vermutlich waren es Juden – evakuiert, deportiert, ermordet worden waren. Man zog in die leeren Häuser und Wohnungen der Stadt ein, wo noch das Frühstück auf dem Tisch stand. Bei dieser Umsiedelung, so wurde mir mitgeteilt, haben sich genau dieselben Nachbarschaften am neuen Ort wiederhergestellt, die in der verlassenen Stadt Riga bestanden hatten.

Solche Erfahrungen, Eindrücke und Geschichten blieben in Westdeutschland Teil des kommunikativen Gedächtnisses. Darüber wurde in den Familien und in engen Kreisen gesprochen, aber eine breitere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Themen begann erst an der Wende des 21. Jahrhunderts mit einer neuen Welle von Romanen, Sachbüchern und Filmen.[11] Neu an dieser Welle war, dass erstens Autoren von Weltruhm wie Grass zu ihr beitrugen, dass sich zweitens Autoren der zweiten Generation wie Treichel mit einschalteten und dass drittens das Thema nun auch von den Massenmedien aufgenommen wurde: 2007 wurde der ARF-Zweiteiler Die Flucht ausgestrahlt. Eine größere öffentliche Resonanz fand das Thema auch in einer Berliner Ausstellung im Jahr 2006.

Eine historische Rekonstruktion der deutschen Vertriebenen-Erfahrung

Und viertens entstand ein neues Interesse der Geschichtsschreibung an diesem Thema. Andreas Kossert, der in seinem bereits erwähnten Buch Kalte Heimat die Geschichte der deutschen Vertriebenen im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs untersucht hat, dokumentiert dabei auch gleich die Verdrängung dieser Thematik in der frühen Bundesrepublik.[12]  Er betont, dass diese Geschichte erst dann richtig erzählt werden kann, wenn sie aus den politisierten Kontexten sowohl der linken wie der rechten Argumentation herausgelöst und in einen neuen europäischen Kontext gestellt wird. Vor allem macht er deutlich, dass es bei der Bemühung um die Wiedergewinnung der Migrationserinnerung wichtig ist, darauf zu achten, wer die Geschichte erzählt. Solange sie nur aus der Außenperspektive als erfolgreiche Integrationsstory erzählt wurde und die Betroffenen nicht zu Wort kamen, verblieb sie in der Nische der Opfer, die mit ihren Geschichten kein Gehör in der Aufnahmegesellschaft fanden. Im Zentrum  von Kosserts Buch steht die schmerzliche Erfahrung, dass Menschen, die oft jahrhundertelang an demselben Ort gelebt hatten, plötzlich zur Flucht gezwungen wurden oder als Fremde und rechtlose Staatsfeinde eingestuft wurden, die zur Kennzeichnung Armbinden mit einem N für Niemiec (Deutscher) tragen mussten. (36) Unter diesen Umständen repräsentierten sie die verhassten Deutschen schlechthin und mussten die Bürde der kollektiven Geschichtsschuld tragen, die an ihnen vergolten wurde. Und all das geschah nicht, wie Bertrand Russell damals alarmiert feststellte, „als Akt des Krieges, sondern einer vorsätzlichen Friedenspolitik“. (39) Die, die den Fluchtweg nicht erreichten, wurden als ‚lebende Reparationen’ zur Zwangsarbeit  verurteilt. Der Pazifist Russell war damals einer der ganz wenigen, die die ‚Potsdamer Protokolle’ kritisierten und auf die damit verbundenen schweren Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machte. (42) Für diejenigen, die nicht ausgegrenzt, verfolgt  und vertrieben wurden, war die Alternative die Zwangsintegration in Form einer Polonisierung, Rumänisierung usw. , die jegliche Spur von Alterität unter Strafe stellte und ächtete.

Wer die gefahrenvolle Flucht überlebte, den erwartete damals am Ziel alles andere als eine Willkommenskultur. Das Repertoire der damaligen Reaktionen der Aufnahmegesellschaft weist schockierende Parallelen mit der heutigen Situation auf. Die Einheimischen stärkten ihren Zusammenhalt durch die Diskriminierung der Flüchtlinge. (69-70) Ihnen wurde mit Spott und Schmäh und offenem Hass begegnet, die bösartigen Parolen reichten von Neid und Überfremdungsangst bis zu dem zynischen Vorschlag, sie nach Auschwitz weiterzuschicken (78). 

Begriffe wie ‚Trauma’ und ‚Empathie’ waren unbekannt in der Nachkriegszeit; es herrschte Apathie, Gefühlsmangel und der starke Wille zum Wiederaufbau. In diesem Klima der Erschöpfung und Verbitterung trafen die Vertriebenen auf wenig Verständnis. Obwohl es sich damals um Deutsche mit derselben Kultur und Religion handelte, wurden die Ankömmlinge sofort als ‚fremd’ stigmatisiert und in alte feindliche Stereotypen gepresst. Jeder, der die heimische Sprache auch nur etwas anders betonte, wurde automatisch ausgegrenzt, wie der Historiker Lutz Niethammer aus eigener Erfahrung bestätigt. (89) Überhaupt wurde der eingefleischte Rassismus unverzüglich von den Juden und Russen auf die vertriebenen ‚Volksdeutschen’ übertragen. Man sprach von ‚Überfremdung’ (83), und ‚Fremdherrschaft’ (73); die Ostdeutschen galten als  ‚artfremd’ und  wurden einer ‚Mulattenrasse’ zugeordnet (75), man befürchtete den ‚Verlust des nordischen Charakters’ (74).

Kosserts historische Rekonstruktion von Migrationsgeschichten aus der Innenperspektive der Betroffenen ist heute von großer Aktualität, denn diese Zeugnisse können uns zeigen, mit welchen wiederkehrenden Verhaltensmustern und Argumenten wir rechnen müssen. wo immer Mitmenschen zu Fremden und Feinden gemacht werden. Vor dem Hintergrund dieser Erinnerungen und historischen Vergleiche stellt sich heute die entscheidende Frage, wie man diese Verhaltensmuster überwinden und den Weg in der Gegenrichtung gehen kann vom Feind zum Fremden, zum Bürger, zum Nachbaren, zum Freund. (86) 

1945 – 1989 – 2015 - Zäsuren in der Geschichte der EU

Mit dem 8. Mai haben wir soeben des Tags des Sieges über Nazideutschland, des Endes des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung gedacht. Die demokratische Wende von 1945 erscheint in der Erinnerung als ein tiefer Einschnitt und radikaler Neubeginn. Diese Periodisierung hat ihre Berechtigung, aber sie übersieht, dass Leid, Not und Gewalt in Bezug auf die Zivilbevölkerung mit der Kapitulation des Hitler Regimes nicht beendet waren, sondern überhaupt erst ihren Höhepunkt mit den Migrationsströmen der Nachkriegszeit erfuhren. Migration als historische Dauererfahrung war in Deutschland aber auch mit der Ankunft der letzten Vertriebenen und Kriegsheimkehrer nicht vorbei, sondern setzte sich in den 1960er Jahren mit der Zuwanderung der sogenannten Gastarbeiter fort. Nach 1989 kam es noch einmal zu erheblichen Bevölkerungsverschiebungen, wenn auch diesmal nicht mehr unter dem Druck der Rettung der eigenen Existenz sondern auf freiwilliger Basis.

Der Vergleich zwischen 1989 und 2015 ist instruktiv, denn er macht deutlich, welche Unterschiede und Herausforderungen mit der gegenwärtigen Migration auf die EU zukommen. Aus der heutigen Perspektive hat Wolfram Eilenberger über den Herbst 1989 geschrieben: „Der Fall der Mauer bedeutete einen enormen Mobilitätsschub. Im Zeichen der Freiheit ordnete er die Landkarte Deutschlands, Europas, ja faktisch der ganzen Welt politisch neu.“[13] Die wichtigen Stichworte dieser Beschreibung sind ‚Mobilität’ und ‚Freiheit’. Mobilität ist der Oberbegriff für das Thema Migration. Menschen haben sich, seit es sie gibt, schon immer im Raum bewegt, um Gefahren zu entgehen, um ihre Lebenschancen zu verbessern und weil sie von der Evolution innerlich - ähnlich wie die mechanische Uhr - mit einer ‚Unruhe’ ausgestattet sind. Menschsein und Bewegung gehören also grundsätzlich zusammen und, da ist man sich einig, der Fall der Mauer erlaubte es vielen Menschen, die lange Zeit festgehalten worden waren, sich im geographischen Raum wieder frei zu bewegen und neu zu orientieren. Seither ist Europa die Region geworden, in der Mobilität und Freizügigkeit ein zentraler Wert und für viele das primäre Gütezeichen geworden ist. Mit dem Schengen-Abkommen wurden Binnengrenzen abgeschafft, eine junge mobile Erasmus-Generation wuchs auf, die die Wirklichkeit einer bedrohlichen und ausschießenden Grenze nur noch vom Hörensagen kannte. Der Mobilitätsschub von 1989 brachte auch seine Probleme mit sich; zwei miteinander fremdelnde Bevölkerungsgruppen mussten wieder zusammenfinden, es gab die Arroganz der Bevormundung, es gab die Ostalgie und es gibt noch immer Verbitterung und Misstrauen. Aber all das ist nichts im Vergleich mit der politischen Wende, die wir heute erleben. 2015, so fährt Eilenberger fort, „markiert das Ende der zentralen Lebenslüge einer ganzen europäischen Generation.“ Er meint damit die in der mentalen Festung Europa genährte Illusion, die globale Bewegungen und das millionenfache Leid in Ländern des Nahen Ostens, Asiens und Afrikas könnten weiterhin „lebensweltlich auf Distanz“ gehalten werden. Der Einbruch dieser Illusion ereignete sich mit der Ankunft einer Migrantenbewegung aus den zerfallenden Staaten und aktuellen Kriegsregionen , die nicht mehr in das alte und schon gar nicht in das neue Mobilitätsschema passt. Der Kontrast zwischen 1989 und 2015 ist offensichtlich: damals hatte man das euphorische Gefühl der Überschreitung von Grenzen im Zuge erweiterter Freiheit und Mobilität, heute ist es das genaue Gegenteil: täglich erleben wir eine Form von Mobilität die nicht von uns ausgeht, sondern auf uns zukommt und an jedem Punkt unseres Landes erfahren wird. Nachdem man Grenzen abgebaut hatte, arbeitet man nun daran, neue Grenzen aufzubauen und zu befestigen. 1989 war ein europäisches Ereignis, 2015 ist ein globales Geschehen. Europa ist endgültig Teil der globalen Welt geworden und muss sich in dieser neu positionieren. Dafür muss Europa auf der Höhe der Komplexität der gegenwärtigen Realität ein neues Narrativ und ein neues Leitbild formulieren, mit dem sich die Europäer identifizieren können.

Auf der Suche nach einem neuen Narrativ

In den Mitgliedstaaten der EU haben inzwischen die Erinnerungen an den Holocaust und das Kriegsende am 8. Mai 1945 einen festen Platz gefunden.

Während wir uns heute auf die Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts – wie den Holocaust oder den Gulag - als vergangene und damit abgeschlossene Ereignisse beziehen, die wir als mahnende Erinnerung für die Zukunft präsent halten, ist die unfreiwillige, massenhafte Bewegung von Menschen im geographischen Raum Teil einer Gewaltgeschichte, der noch kein Ende gefunden hat. Die Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Migration hat noch keine klare Kontur und Symbolik in der europäischen Erinnerungskultur erhalten. Dafür fehlt vorerst noch ein Narrativ und das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass es sich hier um eine im wahrsten Sinne des Wortes ‚unendliche Geschichte’ handelt, die sich in ganz unterschiedlichen historischen Kontexten wiederholt.

Heute, unter dem Eindruck der aktuellen Massenflucht, wird sichtbar, was lange Zeit durch andere Ereignisse überlagert war:  Die Migration in ihren vielen Gestalten von Umsiedlung, Deportation, Flucht und Vertreibung ist die Signatur des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Gegenwärtig ist eine neue Verbindung von Krieg, Gewalt und Massenflucht entstanden, von der wir aktuell dramatische Bilder vor Augen haben.  Die heutigen Migranten tragen die Wirklichkeit der Krisenherde und Kriege, die außerhalb Europas weiter schwelen und immer wieder explodieren, ins Herz Europas. Sie verweisen uns nachhaltig auf das, wovor wir lieber die Augen verschließen würden: unser Eingebundensein in eine Welt der Globalisierung, die von positiven wie negativen Formen der Mobilität gekennzeichnet ist. Was wir fern glaubten oder hofften, auf Distanz halten zu können, ist in unmittelbare Nähe und Nachbarschaft gerückt. Unter diesen Umständen erkennen wir heute Migration als eine lange und uneinheitliche Geschichte, die noch nicht angemessen erzählt und erinnert worden ist.  Die aktuelle Dringlichkeit, die durch die massenhafte Zuwanderung in Richtung Europa entstanden ist, bündelt den Blick auf diese Geschichte wie ein Brennglas.

Im erweiterten Kontext der aktuellen Massenflucht ist ein Rahmen entstanden, in dem  rückblickend die verschiedenen Erinnerungen an Flucht und Vertreibung  als Teile einer gesamteuropäischen Migrationsgeschichte erzählt werden können. Für die Entstehung eines solchen ‚multidirektionalen Narrativs’ bedarf es allerding dreier Voraussetzungen:

- dass dieses Narrativ nicht argumentativ als ein Gegennarrativ zur Holocausterinnerung aufgebaut oder wahrgenommen wird,

- dass es aus dem Kontext nationalpolitischer Instrumentalisierungen gelöst wird und

- dass es von den revanchistischen und ressentimentbeladenen Affekten  befreit wird, mit denen es im Kalten Krieg aufgeladen worden war.

In einem vereinigten Europa, in dem europäische Binnengrenzen und damit auch Rechtslagen anerkannt werden, konnte eine neue dialogische Erinnerungskultur entstehen, die nachbarschaftlichen Austausch und Kooperation befördert und das gemeinsame europäische Ziel der Friedenssicherung stützt.[14]

Der ‚europäische Traum’ - Ein neues Leitbild für Europa:

Ein neues Narrativ erfordert auch ein neues Leitbild für die EU, die sich unter diesen Umständen neu erfinden muss. Das gilt auch für die Nationalstaaten, die gegenwärtig ihr Verhältnis zu Europa und der globalisierten Welt neu klären müssen. Die Suche nach diesem Leitbild hat begonnen. Das erste Stadium ist der lautstarke Wunsch nach selbstgenügsamer Indifferenz gegenüber den drängenden Weltproblemen und die Kampfansage des rechten politischen Spektrums gegen die neue Realität einer globalisierten Welt. Man diffamiert Europa als Verursacher dieses Problems und sieht die Lösung in der Abschaffung Europas. Die Logik ist klar: Wenn Europa mit seiner grenzüberwindenden Haltung diese Probleme schafft, muss es abgeschafft werden. Während sich der Protest und die Abwehr gegen Europa in ganz Europa lautstark artikuliert, entbehrt die Gegenseite, wie immer öfter bemerkt worden ist, vorerst noch einer ebenso klaren Positionierung. Aber je klarer jedem EU Bürger geworden ist, dass inzwischen die Grundwerte des Zusammenlebens zur Disposition stehen, lassen sich auch die Zeichen des Anfangs eines umfassenderen Diskurses erkennen „über das Land und die Welt, in der wir leben wollen“.[15] (Eilenberger)

Die Antwort des rechten politischen Spektrums auf Migration und die damit verbundene globale Herausforderung  ist der Rückweg in die Vergangenheit des Nationalismus der 1950er Jahre. Man wünscht sich die stabilen Jahre der Sicherheit und des Wirtschaftswachstums der frühen Nachkriegszeit zurück und negiert damit die gesellschaftlichen, kulturellen und mentalen Veränderungen, die uns von dieser Zeit trennen. Die Einbunkerung in einer nostalgischen nationalen Vergangenheit ist aber keine Lösung, denn so einfach lässt sich die Uhr der Geschichte nicht zurückdrehen. Sie lässt sich schon deshalb nicht zurückstellen, weil die europäische Erfolgsgeschichte historische, politische und kulturelle Errungenschaften mit sich gebracht hat, die irreversibel sind, auch wenn man versucht, sie rückgängig zu machen. Es sind genau diese Errungenschaften, die das Leitbild der EU ausmachen müssen und sind leicht beim Namen genannt. Ich fasse sie hier zusammen unter dem Stichwort ‚der europäische Traum’.

Im Oktober 2012 wurden die Mitgliedstaaten durch die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union noch einmal an dieses Leitbild erinnert:

Die EU erlebt derzeit ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten und beachtliche soziale Unruhen. Das Norwegische Nobelkomitee wünscht den Blick auf das zu lenken, was es als wichtigste Errungenschaft der EU sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens.[16]

Diese Worte waren schon damals nicht als Lorbeeren für bereits Erreichtes zu verstehen, sondern als eine mahnende Erinnerung in Zeiten großer Herausforderungen, die sich mit der Massenmigration weiter gesteigert haben.  Angesichts der vielen Menschen, die aus Kriegsregionen fliehen und Europa zum Ziel ihrer Hoffnungen gemacht haben, müssen wir uns erneut die Frage stellen: Was hält Europa jetzt und in Zukunft zusammen, damit die Flüchtlinge Teil dieses neuen Europa werden können?

Nationalstaaten, das wusste schon Ernest Renan, werden durch einen ‚nationalen Mythos’ zusammengehalten.  Ein solcher fundierender Mythos kann ebenso auf die Vergangenheit gegründet wie auf die Zukunft ausgerichtet sein kann. Der Literaturkritiker Leslie Fiedler hat zum Beispiel betont, dass die amerikanische Nation im Gegensatz zu der englischen oder französischen nicht durch eine gemeinsame Erinnerung, sondern durch einen gemeinsamen Traum zusammengehalten wird. „Als Amerikaner“, so drückte er sich aus, „sind wir Bewohner einer gemeinsamen Utopie und nicht einer gemeinsamen Geschichte“.[17]

Die Europäer, so könnte man mit Fiedler weiterdenken, sind sowohl Bewohner einer gemeinsamen Geschichte als auch einer gemeinsamen Utopie. Beides ist in Europa untrennbar miteinander verbunden. Der ‚europäische Traum’ ist nicht weniger beeindruckend als der amerikanische: er gilt für Individuen wie für ganze Nationen und bezieht sich auf die Möglichkeit einer doppelten Verwandlung

  1. vom Zwang zur Freiheit – indem er Diktaturen in Demokratien umgebaut hat und
  2. vom Krieg zum Frieden – indem er aus ehemaligen Todfeinden friedlich koexistierende und eng miteinander kooperierende Nachbarn gemacht hat.

Die Verwandlung von Diktaturen in Demokratien ist ein hohes Gut, das gerade auch den jungen Generationen in Europa eine ganz neue Kultur der Freizügigkeit, der geistigen Bewegung und des transnationalen Austauschs aufgeschlossen hat. Internet und soziale Medien stützen und verstärken diesen Trend der kulturellen Freiheit und Selbstbestimmung, der nicht wieder rückgängig zu machen ist. Dasselbe gilt für die Friedensmission: während der letzten Jahrzehnte haben wir an vielen erschütternden Beispielen gesehen, wie schnell immer wieder das Umgekehrte passiert und aus friedlichen Nachbarn Todfeinde und Massenmörder werden. Angesichts dieser Tendenzen bleibt der europäische Traum ein Kulturgut von höchster Bedeutung und ungebrochener Aktualität.

Während man in den USA inzwischen darüber nachdenkt, wie der amerikanische Traum, der eine rücksichtslose Wettbewerbsmentalität unterstützt, die das soziale Gewebe gefährdet,  korrigiert, ergänzt  und verändert werden kann, ist die dringende Aufgabe hierzulande, den europäischen Traum wiederzugewinnen und zu bestätigen. Statt sich angesichts der neuen Herausforderungen von Europa abzuwenden, ist das Gebot der Stunde genau das Umgekehrte: die Stärkung Europas als einer auf humane Prinzipien gegründeten Solidargemeinschaft. Europa hat Rahmenbedingungen eines Lebens in Frieden und Freiheit geschaffen, die zum Ideal und Anziehungspunkt für Flüchtlinge geworden sind, die diese Güter gerade verloren haben. Wenn wir ihre Hoffnungen zerstören, zerstören wir auch den europäischen Traum. Die Antwort auf die gegenwärtige Krise kann deshalb nicht heißen, Europa zu zertrümmern und die Kollektivegoismen einzelner Nationen wieder aufzurichten. Die Antwort muss vielmehr die Erinnerung an die zerstörerische historische Erfahrung zweier Weltkriege und die Besinnung auf die genuin europäischen Werte von Freiheit und Frieden sein, die in das Fundament unseres Gesellschafts- und Nationenvertrags eingegangen sind. Nicht indem wir diese Werte anderen entziehen und sie davon aussperren, sondern nur, indem wir sie mit Migranten als neuen EU-Bürgern teilen, können sie ihre Kraft als Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens entfalten.

Ob Vision oder Traum, eines ist klar: Europa ist ein Projekt aller Staaten, die Täter, Opfer oder unmittelbare Zeugen der Gewaltgeschichte der beiden Weltkriege waren und aus der Überwindung dieser Erfahrung ihre Orientierung und Werte für die Zukunft gewinnen. Dieses Projekt ist keineswegs abgeschlossen, sondern wächst mit neuen Herausforderungen und Problemen. Der Satz: ‚Wir schaffen das!’ hängt davon ab, wer sich mit diesem Wir angesprochen fühlt: neben den Politikern und zuständigen Beamten auch die Bürger der Gesellschaft, neben der Aufnahmegesellschaft auch die Flüchtlinge, neben Deutschland auch andere europäische Staaten. Denn wir alle sind Teil einer unabgeschlossenen Geschichte, die immer neu weitererzählt werden muss, und wir alle tragen die Verantwortung dafür, wie sie weitererzählt wird.


[1]  Michael Rothberg, Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford: University Press, 2009.

[2]  Christoph Mick, „War and Conflicting Memories – Poles, Ukrainians and Jews in Lvov 1914–1939 ', Simon Dubnow Institute Yearbook, 4 (2005), pp. 257-278.

[3] Zit. nach Geist / Küvers (1989), 236.

[4]  Deutschland im Wiederaufbau. Tätigkeitsbericht der Bundesregierung für das Jahr 1953, 8. 1950 befanden sich nach einer Volkszählung rund acht Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug 16,5 Prozent, in den agrarisch geprägten Hauptaufnahmeländern sogar zwischen 33 Prozent (Schleswig-Holstein) und 21 Prozent (Bayern). Wohnungen für Heimatvertriebene zu schaffen, war eine vordringliche Aufgabe der Nachkriegszeit. Staatliche Umsiedlungsprogramme auf freiwilliger Basis und individuell organisierte Umzüge trugen dazu bei, neue Existenzen aufzubauen. Förderung aus den Mitteln des Marshallplans, des so genannten Soforthilfegesetzes, des Lastenausgleichs und sozialen Wohnungsbaus halfen zusammen mit hohen Eigenleistungen, neue Wohnungen und Häuser zu schaffen.  (Deutsches Historisches Museum. URL: http://www.dhm.de/ausstellungen/flucht-vertreibung/gliederung.html. [22.06.2007]

[5] Randolph S. Churchill (ed.), The Sinews of Peace. Post-War Speeches by Winston S. Churchill, London: Cassell 1948, 200.

[6]  Das geschah übrigens gleichzeitig mit der Umstellung des wiedervereinigten Deutschlands in eine Einwanderungsgesellschaft, doch zwischen beiden Themen gab es damals kaum Verbindungen. Vgl: Hailbronner / Klein (hg.), Flüchtlinge -  Menschenrechte – Staatsangehörigkeit. Menschenrechte und Migration, Heidelberg: C.F. Müller Verlag 2002.

[7]  Marianne Hirsch, The Generation of Postmemory: Writing and Visual Culture After the Holocaust. Columbia University Press, 2012.

[8]  Diese Information entstammt einem amtlichen Dokument, das die Eltern im Rahmen einer Suchanzeige Ende der 50er Jahre aufgesetzt hatten.  Vgl. Hans Ulrich Treichel, Der Entwurf des Autors, Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, 25.

[9] „Der wirtschaftliche Aufbau der Nachkriegsjahre war, aus individualpsychologischer Perspektive betrachtet, wohl sehr oft wütende Abrissarbeit.“ Hans Ulrich Treichel, Der Entwurf des Autors, 24.

[10]  Hans Ulrich Treichel, Der Verlorene, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1998, 45.

[11]  Es gab in den 1950er Jahren bereits ein großangelegtes Oral History Projekt zu diesem Thema unter Beteiligung führender Historiker. Diese großangelegte Dokumentation war allerdings eine Form der Geschichtsschreibung im Auftrag des Staates und nicht ohne revanchistischen Unterton. Die CDU-Regierung unterstützte dieses Projekt in der Erwartung, Wählerstimmen von diesem beträchtlichen Kontingent der Bevölkerung zu gewinnen. 

[12]  Andreas Kossert, Kalte Heimat: Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München: Siedler Verlag 2008.

[13]  Wolfram Eilenberger, „Was tun?“ in: Philosophie Magazin 2, 2016, 42.

[14]  Vor wenigen Tagen stand ich in der Wohnung eines Wiener Kollegen, der mir die Wappen seines langen Stammbaus erklärte und en passant erwähnte, dass seine Familie, als er mit 8 Jahren floh, in Ungarn 7 Schlösser zurücklassen musste, für die er keinerlei Entschädigung bekommen habe. Solche Gefühle lösen sich biographisch nicht einfach auf, aber sie sind inzwischen in einen neuen europäischen Rahmen eingegangen, in dem sie gezähmt, die Engländer sagen: ‚contained’ sind. Unter den Voraussetzungen einer befriedeten und friedensstiftenden Erinnerungskultur konnte in diesem Jahr zum ersten Mal in der Geschichte der ungarische Kulturminister Daniel Herman am traditionellen Pfingstreffen der Sudentendeutschen in Nürnberg am 16. Mai 2016 teilnehmen und in einer Rede seinen Respekt vor dem kulturellen Erbe dieser Gruppe aussprechen, das er von nun an als ein gemeinsames europäisches Erbe wertschätzen und pflegen wolle. Mit dieser Rede ist eine weitere Brücke der Verständigung in Europa geschlagen und eine historische Wunde geheilt worden. Denselben Ton der Verständigung schlug Horst Seehofer in seiner Rede an: „Bayern und Tschechien sind heute Freunde und Nachbarn im Herzen Europas! Versöhnung statt Vergeltung – das war und ist die Botschaft der Sudetendeutschen. Wie kaum eine andere Volksgruppe in Europa stehen die Sudetendeutschen für die Kultur der Verständigung und des Dialogs. Nach der friedlichen Revolution sind sie als erste in die alte Heimat gereist. Sie haben Kontakte geknüpft, Brücken gebaut, Gräben überwunden. Die Botschaft der Sudetendeutschen ist eine Botschaft der Menschlichkeit und des Miteinanders in Europa."

[15] Wolfram Eilenberger, „Was tun?“, 43.

[17] Leslie Fiedler, “Cross the Border, Close the Gap”, in: Wolfgang Welsch, Hg., Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, 57-74; hier: 73.

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Einführungsvortrag von Aleida Assmann beim 5. Europäischen Geschichtsforum