Keep calm and.... carry on?

David Cameron
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Der britische Premierminister David Cameron verkündet am Tag nach dem EU-Referendum, dass Großbritannien die EU verlassen wird

Nach dem Brexit-Referendum bilden sich in der EU zwei Lager heraus: die einen drängen auf einen schnellen Austritt Großbritanniens. Die anderen spielen auf Zeit, um einen Verhandlungskorridor zu schaffen, an dessen Ende vielleicht gar kein vollständiger Brexit steht.

Eine der einprägsamsten Reaktionen aus dem Remain-Lager an diesem Wochenende stammt vom britischen Streetart-Künstler Banksy, der in seinem unverwechselbaren Stil eine junge Britin auf eine Häuserwand in London zeichnete, die sich an die Wand angelehnt übergeben muss. Ihr Erbrochenes ist in den Farben des britischen Union Jack gehalten und trägt den Schriftzug UKIP. So oder so ähnlich werden sich viele Befürworter und Befürworterinnen eines Verbleibs Großbritanniens in der EU am Freitagmorgen gefühlt haben.

Doch nicht nur auf der Insel herrscht Katerstimmung, auch innerhalb der „remaining“ EU27 ist der Jammer groß. Dabei haben sich grob zwei Lager herausgebildet. Eine Gruppe um die europäische Führungstroika Juncker, Schulz und Tusk, sowie Frankreich und Italien, die auf einen schnellen Austritt drängen. Sie sind vor allem von der Angst vor Ansteckung durch populistische Bewegungen im eigenen Land getrieben. Dazu gehört auch eine gehörige Portion geballten Unmuts über die angeblich jahrelange britische Blockadehaltung im Integrationsprozess, und die immer wieder eingeforderten Sonderbehandlungen, mit denen London seine EU-Partner vielfach zur Weißglut getrieben hat. Im zweiten, ruhiger geführten Lager agieren Angela Merkel und David Cameron, sowie einige nord- und osteuropäische EU-Mitgliedsstaaten, die derzeit auf Zeit spielen und das offizielle Austrittsgesuch nach Artikel 50 in den Herbst verschieben wollen, um so einen Verhandlungskorridor zu schaffen, an dessen Ende vielleicht gar kein vollständiger Brexit steht. Und vieles spricht dafür, dem allgegenwärtigen Credo Großbritanniens zu folgen: Keep calm and…

Die aktuelle innerbritische Stimmung erscheint sehr volatil, sowohl in der Bevölkerung als auch unter den politischen Akteuren. Zu wirkungsmächtig sind die Fliehkräfte, die das Referendum freigesetzt hat: ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum, steigende Unzufriedenheit auch in Nordirland, das sich ebenfalls mehrheitlich für einen Verbleib ausgesprochen hat, ein massiver Generationenkonflikt zwischen den Anhänger/innen von Remain und Brexit und über allem schwebt der enorme Einbruch des britischen Pfunds an den internationalen Finanzmärkten. Die Katerstimmung scheint selbst viele Brexit-Befürworter/innen erreicht zu haben und so wundert es nicht, dass eine Online-Petition an das britische Unterhaus für ein zweites Referendum über das Wochenende über 3,5 Millionen Stimmen erhalten hat.

So nachvollziehbar der Wunsch nach einem schnellen Ende mit Schrecken ist, so unrealistisch und wenig erstrebenswert erscheint dieses Szenario bei genauerer Betrachtung. Der erste und einzige Austritt eines Landes aus der Europäischen Gemeinschaft, Grönland, dauert ganze drei Jahre bevor es 1985 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft verlassen konnte. Dies war lange vor der Existenz des EU-Binnenmarktes und des Abkommens von Schengen, so dass einige Experten und Expertinnen im Falle Großbritanniens mit mindestens vier bis fünf Jahren rechnen, um das komplexe europäische Rechtsgeflecht in nationales britisches Recht umzuschreiben.

Wie weiter mit dem "Projekt Europa"?

Statt dem inneren Kollaps Großbritanniens zuzusehen und sich in Schadenfreude zu ergehen, sollte die EU diese bevorstehenden Jahre besser dazu nutzen, sich einem grundlegendem Prozess ähnlich des Europäischen Konvents der Jahre 2002/2003 zu unterziehen, um sich intensiv mit der Frage zu beschäftigen, wie das „Projekt Europa“ seinen Bürgerinnen und Bürgern wieder näher gebracht werden kann, damit die europakritischen bis –feindlichen Bewegungen nicht weiter wachsen. Doch auch wenn viele im Lager der Befürworter/innen eines schnellen Austritts davon träumen, dass es nach Großbritanniens Abschied endlich zum langersehnten Integrationsschub der EU kommt, dürften sie sich gewaltig irren. Denn nicht nur der Appetit der Briten, sondern auch der vieler Europäerinnen und Europäer in anderen EU-Mitgliedsstaaten auf weitere Vertiefungsschritte scheint momentan begrenzt zu sein.

Vielleicht wird der 23. Juni 2016 daher im Rückblick als der Tag in die Geschichtsbücher eingehen, an dem der Traum der „ever closer union“, sprich der europäischen Integration als quasi Einbahnstraße in Richtung immer mehr Vertiefung für alle Mitgliedsstaaten, zu einem – vorübergehenden? - Ende gekommen ist. Zumindest sollte er als das wahrgenommen werden, was er offensichtlich ist: eine einschneidende Zäsur, die die Frage nach dem „Wie geht es weiter?“ sehr dringlich auf die Agenda der Union zurück katapultiert hat. Wenn verhindert werden soll, dass sich noch mehr Bürgerinnen und Bürger vom „Projekt Europa“ entfernen, muss das Konzept eines „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ nun dringend in eine funktionsfähige Beta-Version zur konkreten Erprobung überführt werden. Da das britische Referendum formal gesehen nicht bindend ist, könnte die Taktik des „Keep Calm“-Lagers am Ende aufgehen, durch ein Spiel auf Zeit einen begrenzten Stimmungswandel in Großbritannien herbeizuführen, der es politisch möglich machen würde, das Ergebnis der Abstimmung in einen Plebiszit für einen europäischen Reformprozess umzudeuten und so das Auseinanderbrechen der EU zu verhindern. Ob dies gelingen kann, wird das Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs am 27. Juni zeigen.

Ob es am Ende nun tatsächlich zu einem Brexit kommt oder nicht, der 23. Juni muss von allen pro-europäischen Kräften in der EU als kollektiver Wake Up Call verstanden werden, sich nicht länger von den Populisten und Defätisten die politische Agenda vorgeben zu lassen. Denn der große Verlierer des schwarzen Freitags heißt David Cameron. Er ist ein armseliger Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht beherrschte, weil sie schlicht nicht kontrollierbar sind. Aus rein innenpolitischen Erwägungen heraus ist er zur Absicherung seiner eigenen Wiederwahl 2015 ein Spiel mit dem Feuer und den britischen Populisten und Nationalisten eingegangen und dabei selbst in Flammen aufgegangen. Seine Wandlung vom Saulus zum Paulus, der die anti-europäischen Ressentiments in Großbritannien eiskalt ausnutzte, um seine eigene Macht zu stärken, nur um anschließend seinem Wahlvolk gegenüber zu beteuern, dass dessen Zukunft nur in einem starken Europa liegen könne, war vollkommen unglaubwürdig und deshalb zum Scheitern verurteilt. Hätte das Remain-Lager am Ende gewonnen, wäre er der große Triumphator gewesen, so jedoch wird er als eine der tragischsten Politiker des neuzeitlichen Europas eingehen und damit hoffentlich all denjenigen, die versuchen ein paar Stimmen im populistisch-nationalistischen Lager abzugreifen, ein warnendes Beispiel sein. Mein Mitleid hat er nicht.