„Auch Unwerte gehören zur europäischen Tradition“

Ágnes Heller
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Ágnes Heller

Ágnes Heller ist eine der bedeutendsten Philosophinnen unserer Zeit. Wir haben mit ihr als Zeitzeugin über den ungarischen Volksaufstand des Jahres 1956 gesprochen und sie zur Krise und Zukunft Europas sowie den Umgang mit Vergangenheit befragt. Sie erklärte uns, warum es wichtiger ist, unsere Gegenwart aktiv zu gestalten, als uns nach einer großen Utopie zu sehnen.

Der Volksaufstand 1956: Von der Eskalation der Ereignisse

Frau Heller, wie erinnern Sie sich an den Volksaufstand von 1956? Wie kam es zu der Revolution?

Zuerst muss ich über die Jahre vor 1956 sprechen. Denn 1956 wäre nicht möglich gewesen ohne den 1953 einsetzenden Anti-Stalinismus und Chruschtschows historische Rede vom  Februar 1956, als er Stalin und den Stalinismus offiziell zu seinen Feinden erklärte. Der Volksaufstand in Ungarn war das Ergebnis einer Entwicklung, die von Intellektuellen, von Schriftstellern im Schriftstellerverband und von jungen Kommunisten in die Wege geleitet wurde. Als Imre Nagy nach Stalins Tod 1953 den Ministerpräsidenten Mátyás Rákosi ablöste, fingen sie an, ihre eigene Vergangenheit zu reflektieren und sich zu fragen, ob diese ehrlich, ob sie rechtens gewesen war. Diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit löste eine Legitimationskrise aus. Im Jahr 1953 begann also eine Selbstreflexion in intellektuellen Kreisen, ohne die 1956 nicht möglich gewesen wäre.

Im April 1955 gelang es Mátyás Rákosi, der immer noch Generalsekretär der ungarischen kommunistischen Partei MDP war, Imre Nagy abzusetzen und ihn wenige Monate später aus der Partei auszuschließen. Imre Nagy war für die Aufständischen 1956 also eine zentrale Bezugsperson?

Den Menschen wurde klar, dass sie innerhalb der kommunistischen Partei eine Seite gegen die andere verteidigen müssen – und zwar Imre Nagy gegen Rákosi. Es war eine Entwicklung, die damals schnell vor sich ging. Jeden Monat kamen Menschen zusammen, haben etwas geschrieben, was sie noch zwei Monate vorher nie geschrieben hätten. Es wurden neue Kreise, wie zum Beispiel der Petőfi-Kreis, gegründet. (Der Petőfi-Kreis war ein Diskussionskreis junger Literaten in der ungarischen kommunistischen Partei, Anm. der Red.)

Dieser Kreis organisierte Sitzungen, wovon jede eine Eskalation war. Ich kann es nicht anders sagen, die Situation eskalierte, eine Sitzung nach der anderen eskalierte. Die Menschen wagten immer mehr zu sagen. Was man heute sagte, das hätte man gestern nicht gesagt, und was man morgen sagte, hätte man heute nicht gesagt. Ich habe damals an philosophischen Diskussionen teilgenommen und dort gesprochen. Einmal warteten so viele Leute auf der Straße, dass wir von einer Minute auf die andere entschieden, zur Karl-Marx-Universität zu gehen, zur Aula Magna. Es war eine richtig große Menschenmenge, das war schon etwas ganz anderes als beim vorherigen Treffen. Wir haben angefangen zu sprechen und die Leute jubelten. Diese Eskalation war eine sehr wichtige Sache.

Diese intellektuelle Eskalation führte dann dazu, dass das Volk auf die Straße ging …

Einige Zeit ging man davon aus, dass sich die Menschen für diese Intellektuellen nicht interessieren würden. Man dachte, das ist eine philosophische Bewegung, vielleicht nehmen auch einige Journalisten daran teil, aber das Volk ist an der ganzen Sache nicht interessiert. Aber dann brach von einem Tag zum anderen die Revolution aus. Das war auch eine Art Eskalation. Ich war von Anfang an dabei. Ich marschierte als junge Professorin mit den Studenten gemeinsam auf der Straße, wir haben verschiedene Losungen gerufen. Zuerst haben wir geschrien „Imre Nagy in die Regierung!“, dann „Imre Nagy an die Spitze der Regierung!“ Dann „Ruski go home!“ Wir haben viel ausprobiert. Wir haben eine Losung ausprobiert und die anderen haben sie wiederholt. Inzwischen dachten sich andere schon wieder neue Sprüche aus. Auf der Straße selbst war ich wie die anderen begeistert, wir wussten, dass es um die Freiheit geht – aber wir hatten keine Ahnung, dass es um eine Revolution geht.

Am Abend kam Imre Nagy vor das Parlament und sprach. Wir waren sehr enttäuscht, denn Imre Nagy sagte, während alle warteten, wir sollten nach Hause gehen. Aber niemand wollte nach Hause gehen und da kam es wieder zu einer Eskalation. Das Radio wurde besetzt und im Radio begannen Journalisten, andere Sendungen auszustrahlen. Das Radio wurde von Kossuth-Radio in Freiheit-Kossuth-Radio umbenannt. Dann kamen die ersten Schüsse. Vor dem Parlament schoss die Geheimpolizei, sehr viele Leute starben dort. Diese Gewalt machte die Menschen wütend. Als Antwort auf die von der Geheimpolizei initiierte Gewalt entwickelten sich Kämpfe. In der Regel verhielten sich die Menschen aber friedlich.

Welche Forderungen wurden in den Tagen des Aufstandes formuliert?

Das Interessante war, dass sehr schnell, nach drei, vier Tagen die Selbstorganisation begann. Das war der schönste Aspekt dieser Revolution, dass die Menschen anfingen, sich selbst zu organisieren. Ich war zum Beispiel im Universitätsrat, wo wir  besprachen, was unsere Wünsche für das ungarische Volk sind. Arbeiterräte, Bauernräte, Militärräte und intellektuelle Räte haben Programme verfasst. Als mein Mann und ich Ende der 1970er Jahre nach Australien gingen, haben wir diese Dokumente geheim mitgenommen, deswegen konnten wir ein Buch über 1956 schreiben. Interessant an diesen Dokumenten sind die Forderungen, die in ihnen auftauchen. Sie waren in den verschiedenen Räten beinahe identisch: Nationale Unabhängigkeit, Mehrparteiensystem und freie Wahlen. Und die Russen sollten gehen. Natürlich auch Presse- und Meinungsfreiheit.

Interessant war, dass diese Dokumente in gewisser Weise sehr sozialistisch waren. Die Arbeiterräte und Arbeiter wollten ihre eigenen Fabriken, eine Art kollektives Eigentum. Oder wenigstens Mitbestimmung in Bezug auf Eigentum. Das ist eine absurde Idee: kollektives Eigentum und freier Markt. Aber ich möchte nicht die Frage stellen, ob diese Idee verwirklichbar ist, sondern was sich in den Köpfen der Menschen abspielte. Die Menschen glaubten damals an einen „dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Eine Art von Kollektivismus wollten sie bewahren, gleichzeitig wollte man aber einen freien Markt. Man wollte quasi Kapitalismus ohne Eigentum. Das ist eigenartig, aber anscheinend in den Herzen der Menschen. Wenn man Utopien liest, zum Beispiel von Plato oder Morus, dann ist dort Privateigentum immer der größte Feind.

Die Zeit nach 1956 bis 1968: Erst intellektuelle, dann politische Opposition 

Wie erinnern Sie sich an die Zeit nach der Niederschlagung des Aufstandes? 1958 wurden Sie aus der Universität ausgeschlossen und erst 1990 wieder aufgenommen...

Ich wurde nach einem Disziplinarverfahren aus der Universität ausgeschlossen. Ich kann Ihnen sagen, ich habe während der Revolution nicht viel gemacht. Ich war keine Heldin. Ich habe etwas mitgemacht und einige Sachen geschrieben, aber selbst das hat schon gereicht, um mich aus der Universität auszuschließen. Von diesem Moment an arbeitete ich für fünf Jahre an einem Gymnasium und konnte nicht publizieren. Das Schlimmste war, dass wir alle glaubten, wir wären in einem schwarzen Tunnel und kommen da nie wieder in unserem Leben heraus. Natürlich wussten wir damals, dass nichts ewig dauert, aber wenn man im Tunnel ist, erscheint es einem so. In der Tschechoslowakei dachte man 1968 dasselbe.

1968 gab es ja auch in Ungarn wieder Hoffnung, man sah Licht am Ende des Tunnels ... Welche konkreten Hoffnungen gab es 1968 in Ungarn?

1968 gab es in Ungarn zwei Hoffnungen. Die erste war der Prager Frühling, natürlicherweise, daran haben wir emotional teilgenommen – zur selben Zeit entstand die ungarische ökonomische Reformbewegung. Und im Mai formte sich in Paris die Neue Linke: eine nicht-kommunistische, nicht-sowjetische linke Bewegung. Wir glaubten, dass wenn wir uns in Ungarn und in der Tschechoslowakei koordinieren können, und vielleicht auch die Polen dabei sind, daraus etwas werden kann, aber das ist nicht gelungen. Eben diese Koordination ist nicht gelungen und die ungarische Armee marschierte auch in die Tschechoslowlakei ein. Sehr wenige Leute, nur fünf von uns, protestierten in Ungarn gegen die Invasion in der Tschechoslowakei.

Das heißt, die Niederschlagung des Prager Frühlings war für Sie ein Wendepunkt?

Bis zum Jahr 1968 haben wir im „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ eine Hoffnung gesehen. 1968 war das zu Ende. Das Regime, das war nun klar, war nicht reformierbar. Alle Hoffnungen waren vergebens, es waren utopische Hoffnungen. Das war ein sehr wichtiger Moment in der Geschichte unserer Gruppe, denn bis dahin waren wir eine intellektuelle Opposition. Wir hatten eine andere Meinung zur Philosophie, zu Marx, zu allem, aber von diesem Moment an wurden wir zur politischen Opposition. Wenn man eine Unterschriftensammlung an die Agence France-Press gibt, um gegen die Invasion zu protestieren, ist das ein politischer Akt. Das ist etwas ganz anderes als philosophische Ideen. 1968 waren unsere Illusionen über die Reformierbarkeit des Sozialismus zu Ende. Sehr viele haben diese Illusion schon früher verloren und sehr viele haben sie nie verloren. 1968 war deswegen so wichtig, weil die Reformgedanken in der Tschechoslowakei wirklich ausprobiert wurden. Es war keine Revolution, kein Aufstand, und dennoch haben die Sowjets die Reformbewegung in der Tschechoslowakei ebenso wenig toleriert wie unseren Aufstand. Das war das Ende der Geschichte.

Der Umgang mit 1956: Warum Nationalfeiertage problematisch sind

Was bedeutet 1956 für Sie aus heutiger Sicht?

Am zehnten Jahrestag von 1956 ging ich mit meinen Freunden in die Berge, dort haben wir gefeiert. Am 25. Jahrestag habe ich mit meinem Mann ein Buch darüber geschrieben. Aber das war immer noch im Widerstand, da gab es die Sowjetunion und das Kádár-Regime noch. 1956 war ein Symbol für uns und ganz Europa, dass man sich gegen die Sowjetmacht erheben kann. Die Menschen, die revoltierten, wurden durch Gewalt aufgehalten. Die Sowjetmacht behauptete, dass wir diese Regierung lieben, aber die ganze Welt sah, dass das nicht der Fall ist. Sie sah, dass die Leute hier in Osteuropa dieses Regime hassen und ein anderes Regime sowie Unabhängigkeit und Freiheit wollen. Das hatte zu dieser Zeit eine sehr große Bedeutung. Was ist die Bedeutung heute? Beinahe alles, was wir 1956 wollten, wurde verwirklicht. Ungarn ist unabhängig, obwohl das Orbán-Regime uns sagen will, dass wir von Brüssel abhängig sind. Aber das ist nicht wahr, das ist einfach eine Lüge. In Wahrheit sind wir unabhängig geworden. Wir haben ein parlamentarisches Mehrparteiensystem und Wahlen. Es gibt innerhalb des parlamentarischen Systems auch Unterdrückung.

Aber was jetzt passiert, gibt uns keinen großen Anlass zur Nostalgie für 1956. Auch diejenigen, die gegen das heutige Regime sind, sind nicht nostalgisch. Ich bin nostalgisch, weil ich damals jung war, und weil ich dabei war. Wäre ich jetzt 18 oder 20 Jahre alt, würde ich keine Nostalgie spüren. Es ist sehr schön, dass wir Ungarn in Europa eine große Rolle gespielt haben, und dass wir in zwei Jahrhunderten jeweils eine Revolution hatten, im 19. Jahrhundert 1848, und im 20. Jahrhundert 1956. Aber das ist Vergangenheit.

Wie bewerten Sie den Umgang der Regierung Viktor Orbáns mit 1956?

Die Revolution wird von der Regierung so präsentiert, als ob sie damals gegen die Linke gerichtet gewesen wäre. Aber das war sicher nicht der Fall. Die Regierung instrumentalisiert somit das Gedenken an die Revolution und profitiert davon, aber nicht sehr viel. Denn die Menschen machen innerlich nicht mit. Die demokratische Opposition wollte natürlich in anderer Weise an die Ereignisse erinnern, was ihr nicht gelungen ist. Sie verdeutlicht aber, warum Orbán illiberal ist und warum sie eine liberale Demokratie möchte. Da kann man an 1956 anknüpfen, aber nur ein wenig.

Welche Bedeutung haben Ihrer Meinung nach Nationalfeiertage?

1956 war für mich die größte persönliche politische Erfahrung. Sie gehört zu meinem Leben, zum Leben meiner Generation. Aber sie gehört nicht zur Generation meiner Enkel. Nationalfeiertage sind immer problematisch. Alle Nationalfeiertage werden als Mittel für politische Ziele benutzt. Nationalfeiertage gibt es erst seit Ende des 18. Jahrhunderts – sie sind eigentlich eine neue Sache. Aber sie werden von allen regierenden Parteien und auch von der Opposition immer für die eigenen Interessen benutzt und als Mythos behandelt. Das geschieht auch mit 1956, der Aufstand wird mehr oder weniger instrumentalisiert. Schauen Sie, ein großer Feiertag war das Ende des Krieges. Ich war auf der Straße am 8. Mai 1945. Alle jubelten und küssten einander, ob Rechte oder Linke. Der Krieg war zu Ende.

Aber was machen wir jetzt mit diesem Feiertag? Wir möchten sagen, dass der Krieg schlecht war. Wir möchten sagen, wir brauchen keinen neuen Krieg. Das wissen wir sowieso. Was also ist der Mythos? Auch wenn es damals wirklich ein großes Geschehen war, das uns mit Enthusiasmus erfüllte: Es ist nicht mehr Gegenwart. Das ist der Unterschied zu religiösen Feiertagen. Weihnachten wird nicht gefeiert, weil Christus vor 2016 Jahren geboren wurde. Er wird jedes Jahr geboren. Jedes Jahr an Weihnachten. Und jedes Jahr an Ostern wird er gekreuzigt. Und die Juden werden jedes Jahr von der ägyptischen Gefangenschaft befreit. Das ist immer im Hier und Jetzt. Nationalfeiertage aber sind Vergangenheit. Zur Vergangenheit gehört die Geschichtsschreibung, wir können beschreiben, wie wir uns damals fühlten. Aber es passiert eben nicht jetzt.

Die Krise Europas: Auch Unwerte gehören zu unserer Tradition

Die EU steckt derzeit in einer tiefen Vertrauenskrise. In vielen Mitgliedstaaten schüren Rechtspopulisten Ängste und fordern eine Renationalisierung Europas. Welche Gründe sehen Sie für das tiefe Misstrauen, für die Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und der Skepsis gegenüber den Idealen einer offenen, pluralistischen Gesellschaft?

Wir haben eine unbewältigte Vergangenheit in ganz Europa. Europa hatte ein sehr hässliches 20. Jahrhundert. Man muss über dieses 20. Jahrhundert sprechen. Es gab vor den 1950er und 1960er Jahren nirgends eine liberale Demokratie, auch nicht in Westeuropa. Wenn es zu einer Krise kam, ökonomischer oder anderer Art, haben die Europäer immer einen Führer gerufen, einen Duce, einen Stalin. Beinahe kein europäisches Land hatte im 20. Jahrhundert für einen längeren Zeitraum eine sichere, gut fundierte liberale Demokratie, wir haben also eine sehr kurze Geschichte der liberalen Demokratie. Die Menschen sind noch nicht daran gewöhnt. Dazu kommt, dass es in Westeuropa lange Zeit keine Krisen gab. Im Gegenteil: Den Menschen ging es von Jahr zu Jahr immer besser. Solange das so war, haben sie die liberale Demokratie geliebt.

Wie kann, wie sollte Europa den gegenwärtigen Krisenzustand bewältigen?

Europa ist nicht daran gewöhnt, mit Krisen gut umzugehen. Wenn es eine Krise gibt, schreien die Europäer gleich nach einer starken Hand. Die Frage ist, ob sich die Europäer mittlerweile verändert haben und verstehen, was Demokratie für sie bedeutet. Die Zukunft Europas hängt davon ab, ob die Europäer lernen werden, die Lösung ihrer Probleme selbst in die Hand zu nehmen. Dann können die Europäer auch diese Krise bewältigen. Wenn sie das nicht lernen, werden die populistischen Parteien eine große Gefolgschaft haben, weil sie an die schlechten europäischen Traditionen anknüpfen, an unsere Vergangenheit mit populistischen Parteien, mit dem Duce, mit Salazar. Über Hitler möchte ich gar nicht sprechen. Die populistischen Bewegungen gehen zurück auf eine europäische Tradition, auf eine europäische Gewohnheit. Wir sind Marine Le Pen schon gewöhnt.

Wie kann man diese Gewohnheitsmuster durchbrechen?

Durch eine andere Gewohnheit. Wie schon Spinoza gesagt hat, kann man eine Leidenschaft nur mit einer stärkeren Leidenschaft besiegen. Man kann eine Gewohnheit nur mit einer anderen, stärkeren Gewohnheit besiegen. Die Frage ist allerdings, ob die liberale demokratische Gewohnheit stark genug ist. Davon hängt die Zukunft Europas ab.

Was glauben Sie? Ist die liberale demokratische Gewohnheit stark genug?

Schauen Sie, ich bin kein Prophet, aber ich würde Europa gerne raten: Bereue! Oder vielmehr: Lerne! Lerne Frustrationstoleranz, dann wirst du Herr über diese Krise werden. Ich glaube, wir haben ein Problem damit, unsere Vergangenheit zu bewältigen. Wir sprechen oft über europäische Werte. Aber wenn wir über europäische Werte sprechen, sollten wir auch über europäische Unwerte sprechen. Denn sie gehören auch zu unserer Tradition. Man sagt, wir sind für europäische Werte und die Populisten sind dagegen. Unwerte gehören aber auch zur europäischen Tradition, das muss man ernst nehmen.

Was braucht Europa heute und was braucht es nicht?

Heute gibt es keine Utopien. Es gibt eher Dystopien, wir sprechen über eine schlechte Gegenwart und Zukunft. Ich glaube aber, dass diese Dystopien sehr nützlich sind. Sie lehren uns, dass wir keinen Gespenstern nachjagen sollen, sondern, wie Voltaire sagte, wir unseren eigenen Garten kultivieren sollen. Wenn wir an unserer Gegenwart arbeiten, dann können wir unsere Welt bis zu einem gewissen Grad verbessern, auch ohne Utopien. Wir brauchen keine großen Ideen, kein Schlaraffenland, im Schlaraffenland wäre es sehr langweilig. Wenn man das gelernt hat, dann versteht man auch, was liberale Demokratie bedeutet.

In dieser Hinsicht habe ich nach wie vor größeres Vertrauen in die Vereinigten Staaten als in Europa – trotz Trump. Die Amerikaner hatten in ihrer Vergangenheit keinen Messianismus, keine Utopie. Sie haben in der großen ökonomischen Krise, die viel schwerer war als in Europa, Frustrationstoleranz bewiesen. Sie hatten den New Deal und haben keinen Diktator gewählt.

Frau Heller, herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Interview führten Eva van de Rakt und Silja Schultheis Ende Oktober 2016 in Budapest. Es ist Teil unseres Dossiers "Der Ungarn-Aufstand 1956 aus heutiger Sicht".