Daseinsvorsorge für demokratische Öffentlichkeit: Was müssen Öffentlich-Rechtliche leisten?

Vortrag

Im Rahmen unserer Veranstaltung "Öffentlich-rechtliche Medien im (digitalen) Wandel" sprach Christine Horz am 11. Mai 2017 über den Begriff Daseinsvorsorge: Wie ist diese im Hinblick auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu verstehen und welche Herausforderung entstehen in diesem Kontext für die öffentlich-rechtlichen Medien?

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Christine Horz (rechts) auf der Tagung "Öffentlich-rechtliche Medien im (digitalen) Wandel" der Heinrich-Böll-Stiftung am 11. Mai 2017 in Berlin

Der Mitschnitt ist eine Folge unseres Podcasts Böll.Mitschnitt für das Dossier "Öffentlich-rechtliche Medien im Wandel". Im Folgenden können Sie den leicht gekürzten und bearbeiteten Vortrag nachlesen.

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Daseinsvorsorge allgemein

Der Begriff der Daseinsvorsorge wurde in den 1930er Jahren von Ernst Forsthoff im Anschluss an Karl Jaspers geprägt. Er umschreibt die staatliche Aufgabe zur Bereitstellung der für ein menschliches Dasein als notwendig erachteten Güter und öffentlichen Dienstleistungen − die „Grundversorgung der Allgemeinheit.

Zu den klassischen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge werden Aufgaben wie die Abfallbeseitigung, die Versorgung mit Wasser, Gas und Strom sowie der Betrieb des öffentlichen Personennahverkehrs gezählt.

Welche Güter und Dienstleistungen konkret von staatlicher Seite aus bereitgestellt werden, ist umstritten und unterliegt gesellschaftlichem Wandel. Die aus der Daseinsvorsorge entstandenen öffentlich-rechtlichen Anbieterstrukturen werden unter anderem durch die Liberalisierungs- und Deregulierungsbestrebungen seit den 1990er Jahren zunehmend in Frage gestellt (Deutsches Institut für Urbanistik/Difu- Bericht 1/2012).

Die Daseinsvorsorge war durch die Industrialisierung im 19. und 20 Jahrhundert notwendig geworden, denn der beherrschte Lebensraum des Einzelnen hatte sich durch die Industrialisierung verringert (von Haus, Hof und Werkstatt zur Mietwohnung und dem Arbeitsplatz in der Fabrik).

Im Gegenzug erweiterte sich der effektive Lebensraum im urbanen Umfeld. Um den Verlust der Eigenständigkeit auszugleichen und die Lebensführung zu sichern, war die Allgemeinheit fortan darauf angewiesen, dass der Staat diese Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stellte wie Gas, Wasser, Strom etc. - wofür Forsthoff schließlich den Begriff der Daseinsvorsorge prägte.[2]

Übertragen auf Medien und demokratische Öffentlichkeit zielt später Habermas´ Kritik am Strukturwandel der Öffentlichkeit genau auf diese Leerstelle, die die Daseinsvorsorge füllen sollte: Die Industrialisierung hat auch zu einem Mehrbedarf an öffentlicher Kommunikation geführt.

Wo im vorindustriellen Zeitalter in kleinen Zirkeln und von wenigen Bürgern face-to-face besprochen werden konnte, übernahmen nun (kommerzielle) Massenmedien die öffentliche Kommunikation. Habermas erkannte darin ein deliberatives Vakuum. Denn sie stehen zwar dem einzelnen zur Verfügung – sein effektiver Kommunikationsraum war gewachsen – um bei Forsthoff zu bleiben.

Doch die Beteiligungsmöglichkeiten des Einzelnen am Diskurs schwanden und damit auch der beherrschte Kommunikationsraum, was letztlich zu einer Vermachtung der Öffentlichkeit durch marktliche und staatliche Einflüsse führte. Man kann Habermas Kritik so verstehen, dass nach seinem Verständnis die Etablierung einer medialen Daseinsvorsorge, die den Erfordernissen einer modernen demokratischen Gesellschaft gerecht wird, versäumt wurde.

Staatliche Vermachtung im Nationalsozialismus

Während der Zeit des Nationalsozialismus zeigte sich dann überdeutlich, wozu staatliche Vermachtung führen kann, nämlich zur Umfunktionierung von Radio und Nachrichtenfilmen (Wochenschau als Vorläufer des Fernsehens) in staatliche Propagandainstrumente.

Nach dem 2. Weltkrieg etablierten dann die Alliierten ein Rundfunkmodell jenseits von Staat und Markt. Die öffentlich-rechtlichen Medien – oder Service Public, wie sie in der Schweiz genannt werden - sollten gerade die marktlichen und politischen Verwerfungen auffangen, die im Mediensystem möglicherweise angelegt sind.

Nach dem Vorbild der britischen BBC hatte der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland fortan die Daseinsvorsorge im Medienbereich zu gewährleisten – auch wenn dies nicht so explizit gesagt wurde. Der ÖRR soll demnach im staatlichen Auftrag die Grundversorgung der Allgemeinheit mit Kultur, Bildung, Information und Unterhaltung sicherstellen.

Das Bundesverfassungsgericht präzisierte den verfassungsmäßigen Auftrag der ÖRM in nunmehr 14 Rundfunkurteilen seit 1961, wie der Auftrag der ÖRM verstanden werden soll – zuletzt im März 2014 zur Vielfaltssicherung in den Rundfunkgremien.

Auch wenn die EU Kommission den Begriff „Daseinsvorsorge“ vermeidet, so wird doch im Protokoll von Amsterdam 1997 (EU Einigungsvertrag) eine ähnliche Formulierung gewählt, um die besonderen Aufgaben und Funktionen der Öffentlich-rechtlichen Medien (ÖRM) zu definieren und zu schützen. Schon Mitte der 1990er hat sie die Funktionen der öffentlich-rechtlichen Medien skizziert:

  1. providing a reference point for all audience members and a factor for social cohesion;
  2. providing a forum for public discussion;
  3. broadcasting impartial and independent information;
  4. developing pluralistic, innovative, and varied high-quality programming;
  5. developing programmes both for broad audiences and minority groups;
  6. reflecting different ideas and beliefs, aiming at mutual understanding;
  7. contributing to a greater appreciation of the national and European cultural heritage;
  8. scheduling a significant proportion of original productions, especially fiction;
  9. offering a programme range which is complementary to that of commercial broadcasters.
    (Council of Europe, 1994).

Die Bedeutung der Öffentlich-rechtlichen Medien

Soweit die Geschichte und die begriffliche Einordnung.

Wir leben heute in einer anderen Welt, verglichen mit der Entstehungszeit des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks (ÖRR) vor über 60 Jahren. Die Gesellschaft hat sich grundlegend verändert, die Technik ebenfalls. Nicht umsonst sprechen wir heute von Öffentlich-rechtlichen Medien, weil auch öffentlich finanzierter Rundfunk auf allen Sendeplattformen vertreten ist.

In der Kommunikationswissenschaft besteht gegenwärtig ein Konsens, dass der Public Service in Europa vor zentralen Herausforderungen steht. Die Bedeutung der Öffentlich-rechtlichen Medien sei sogar gewachsen, und sie sind weiterhin unabdingbar für die mediale Grundversorgung der Bevölkerung.

Es besteht demnach dringender Handlungsbedarf, um den Auftrag der ÖRM zu erneuern und den Erfordernissen einer pluralistischen Gesellschaft in einem digitalen Medienumfeld anzupassen (Jakubowicz 2008; Bardoel/D’Haenens 2004; Bardoel/D’Haenens 2008).

Auf der Ebene der öffentlich-rechtlichen Medieninstitionen benennt der britisch-griechische Kommunikationswissenschaftler Petros Iosifidis (2007: 22-42) unter anderem vier unterschiedliche, aber einander verstärkende Dimensionen von Herausforderungen:

  • technologische Entwicklungen in Form von Digitalisierung und Konvergenz, Präsenz auf allen digitalen Plattformen
  • politische/regulatorische Herausforderungen – Rundfunkstaatsverträge oder auch die politischen Forderungen nach Reformen
  • ökonomische Herausforderungen. Dazu zählt auch die Frage nach der Legitimation einer öffentlichen Finanzierung angesichts neoliberaler Marktmechanismen.
  • sozialer Wandel: Dieser wirkt sich auf die Mediennutzungsgewohnheiten sowie die Erwartungen des Publikums an öffentlich-rechtliche Medien aus. Nutzerpräferenzen verändern sich kontinuierlich hin zu fragmentierten Publika und individualisierter Mediennutzung und weg von Massenprogrammen für alle.
  • ÖRM haben den Auftrag, die freie Meinungsbildung zu ermöglichen, sodass sich alle Bürgerinnen und Bürger am demokratischen Diskurs beteiligen können. Allerdings schreiben die britischen Kommunikationwissenschaftler Collins & Sujon, dass sie das meist in Feldern außerhalb der eigenen Institutionen propagieren (Collins & Sujon 2007:41).

Doch die Herausforderungen sind auf zwei weiteren Ebenen zu verorten. 

  1. Richtet man den Blick auf die Bürgerinnen und Bürger als Mediennutzerinnen und Mediennutzer, so stehen diese vor ganz eigenen Herausforderungen.
  • Vielzahl der Kanäle ist nicht gleichzusetzen mit Vielfalt der Angebote
  • Das bedeutet, dass die Selektionsleistungen, die vormals dem professionellen Journalismus vorbehalten waren, heute mehr und mehr vom Mediennutzer erbracht werden müssen.
  • Technologische Entwicklungen wie das Web 2.0 haben die Beteiligungsmöglichkeiten des Einzelnen erweitert – sie erfordern aber weitere Fertigkeiten, wie eine Nutzerethik und den Wunsch, am deliberativen Prozess konstruktiv teilnehmen zu wollen.
  • Aktuelle Entwicklungen wie Fake News verunsichern viele Nutzerinnen und Nutzer. Sie erfordern wiederum die Fähigkeit, Qualitätsjournalismus von Lügen unterscheiden zu können.
  • Soziale Veränderungen wirken sich auch auf die Erwartungshaltung einiger Mediennutzer aus, stärker in medienpolitische Prozesse einbezogen zu werden. Diese Erwartungshaltung ist durchaus legitim, aufgrund des gesellschaftlichen Auftrags der Sender sowie des finanziellen Beitrags der Bürgerinnen und Bürger.

 

  1. Die Herausforderung für Politik bzw. Regulierung bestehen schließlich darin, auf all diese Bedingungen zu reagieren. Sie ist gefragt, Medienpolitik mit den Bürger/innen im Sinne einer Media Governance zu gestalten.

Wie kann aber der Auftrag erneuert werden? Es liegt in der Struktur der öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland begründet, den Herausforderungen auf zwei Ebenen zu begegnen: politisch/regulatorisch sowie auf der Ebene der Rundfunkanstalten (Bardoel & D’Haenens 2005). Deutschland braucht eine gesellschaftliche Diskussion über die Frage: Was ist – für wen - wichtig?

Meine abschließenden Thesen

Soziale Kohäsion fördern!

– das meint auch: Antworten auf eine pluralistische Gesellschaft finden! Welche andere Institution in Deutschland erreicht so viele Menschen und hat einen solchen Einfluss auf die Meinungsbildung?

Es muss darum gehen, inklusive Programme zu schaffen, denn wir leben in einer pluralen, multikulturellen Gesellschaft.

Qualitätsjournalismus stärken!

Differenzierter berichten! ÖRM sollten ein Beispiel für Qualität im Journalismus geben – schon allein weil die ÖRM über die notwendigen Ressourcen verfügen.

Was die Anstalten betrifft, weisen Forscherinnen und Forscher auf der Grundlage verschiedener Studien (u.a. McQuail 1992) auf den Faktor Qualität hin. Qualität wirkt demnach nicht nur durch Programmqualität, sondern auch dadurch, dass die ÖRM ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht würden.

Die Programminhalte sollten sich nicht nur nach dem Geschmack ausrichten, sondern darauf zielen, dass sie „by uplifting people’s spirit“ und „enhancing the audience quality of life“ (Bardoel & D’Haenens 2005:3).

Transparenz herstellen!

Dazu gehört, dass Ausgaben der Sender allgemein verständlich aufbereitet werden. Nicht nur Finanztransparenz, sondern auch Zugänglichkeit über Dialog herstellen. Transparenz ist aber ein wechselseitiger Prozess. Also muss nicht nur die jeweilige Anstalt auf möglichst allen Ebenen transparenter werden, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger als Nutzerinnen und Nutzer sollten von den Anstalten besser kennengelernt werden. Transparenz ist Voraussetzung für Partizipation.

Bürgerbeteiligung stärken!

Die Mediennutzerin oder der Mediennutzer ist stärker als Bürger und Bürgerin zu adressieren, die noch viel umfassender als heute in medienpolitische Entscheidungen einbezogen werden sollte. Möglich wäre dies durch Konsultativgremien und  Kontrollmechanismen auch außerhalb der etablierten Gremien. Beispiele sind Audience Councils BBC oder Publikumsräte in der Schweiz.

Deutschschweiz: über 15.000 Mitglieder engagieren sich in lokalen und regionalen Publikumsvereinen. Ihr Ziel: Gemeinsame Verantwortungskultur fördern.

Regulierung regulieren!

Momentan agieren Politikerinnen und Politiker als Regulierer und Regulierer ohne Regularien. Es müssen klare Regeln her, wie Rundfunkregulierung in der EU funktioniert.

Bildungsauftrag erneuern!

Medienbildung fördern, reflektiert-kritischen Umgang mit Medien, aber auch das Bewusstsein für Qualität im Journalismus fördern. Medienmacherinnen und Medienmacher müssen nicht nur mehr mit den Nutzern reden, sondern auch sich und ihre Arbeit erklären.

Zunächst müsste dies in jedem EU Land separat beantwortet werden, weil die Mediensysteme zu unterschiedlich sind. Gleichzeitig müsste die EU Kommission den Medien- und Meinungspluralismus wesentlich stärker fördern. Vorschläge, wie sie die High Level Goup 2013 unterbreitet hat, sind dafür ein zu schwaches Instrument.

Da das Thema von gesamtgesellschaftlichem Interesse ist, erfordert der Wandel der ÖRM eine breite Debatte, um zu tragfähigen Entscheidungen zu kommen.