„Als Wohlstandsindikator ist das BIP zu eng. Naturkapital zu messen, erlaubt einen differenzierteren Blick auf den Zustand einer Volkswirtschaft.“

Liefern Zahlen zum Naturkapital tatsächlich die Informationen, die wir für die notwendigen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft brauchen?

Neue Ökonomie der Natur – Naturkapital und BIP als umstrittener Indikator

In den Jahren nach 1945 war die Einführung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Maß für die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft bahnbrechend. Der Indikator drückt den Gesamtwert aller Produkte und Dienstleistungen aus, die im Laufe eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft hergestellt werden. Das BIP war jedoch auch von Anfang an ein umstrittener Indikator. Denn es erfasst nur Transaktionen, die einen Marktpreis haben. Das führt beispielsweise dazu, dass die Zerstörung von artenreichen Lebensräumen bei der Berechnung des BIP nicht berücksichtigt wird. Ausgaben für die Beseitigung von Schäden nach einem Öltankunfall erhöhen dagegen das Bruttoinlandsprodukt, da die hierfür durchgeführten Arbeiten einen Marktpreis haben. Über die Lebens- und Umweltqualität in einem Land, über Verteilungsfragen, die sozialen Auswirkungen von Unfällen und den Zustand der Natur sagt der Indikator also nichts aus. Dennoch wurde die Veränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts weltweit zur wichtigsten Maßeinheit für Wirtschaftswachstum und den Wohlstand von Volkswirtschaften. An ihr richten sich bis heute die globalen sowie nationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitiken aus.

Um die Schieflage bei der Berechnung des BIP zu korrigieren, steht seit Jahren die Forderung nach zusätzlichen Indikatoren oder einem Set von Leitindikatoren im Raum. Die zusätzlichen Indikatoren sollen dabei helfen, den Zustand der Umwelt und die sozialen Verhältnisse abzubilden. Hieran knüpfen auch Befürworter/innen einer ökonomischen Bewertung von Natur an. Sie argumentieren, dass eine Berechnung des monetären Wertes von Natur eine solche Erweiterung des BIP um ökologische Wohlstandsindikatoren erleichtere. Die monetäre Bewertung von Natur, so das Argument, mache die Umweltkosten von Wirtschaftswachstum sichtbar und erlaube so eine umweltverträglichere Politikgestaltung.

Politische Interessen entscheiden darüber, was gemessen und damit politisch relevant wird

Die Entstehungsgeschichte des BIP verdeutlicht, dass die Entscheidung darüber, was gemessen wird, immer auch eine Frage politischer Interessen ist. Der Einfluss von politischen Interessen gerät jedoch oft in Vergessenheit, weil in Zahlenwerten ausgedrückte Indikatoren als objektive 'harte Fakten' wahrgenommen werden. Das zeigt sich auch bei der Diskussion um die Auswahl und Berechnung möglicher zusätzlicher Indikatoren, wie sie etwa die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" des Deutschen Bundestages 2013 vorgeschlagen hat.

Für die meisten Länder des globalen Südens markiert die Einführung des BIP den Moment, indem ihre vielfältigen, durch informelle lokale und regionale Wirtschaftskreisläufe und komplexe traditionelle Wirtschaftsformen geprägten Volkswirtschaften als 'arm' abgestempelt wurden. Zwar betonen die Ökonom/innen, die die zugrundeliegenden Berechnungen durchführen, immer wieder, dass sich so unterschiedliche Volkswirtschaften wie die des afrikanischen und die des europäischen Kontinents nicht anhand einer einzigen Kennzahl vergleichen lassen. Dennoch dominiert das politische Interesse an eben dieser Zahl – und verengt entsprechend den politischen Diskurs und das Spektrum der politischen Handlungsmuster.

Ein Blick in die Entstehungsgeschichte des BIP zeigt zudem frappierende Parallelen zum Für und Wider einer ökonomischen Bewertung von Natur. Der Historiker Daniel Speich Chassé schreibt etwa: "Innerhalb der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplin [standen] dem globalen Vergleich von Eckwerten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zunächst starke Vorbehalte entgegen. Während die makroökonomischen Experten Bedenken äußerten über die Möglichkeit eines weltweit vergleichenden epistemischen Konzepts, und während die Wirtschaftsstatistiker fundamentale Probleme bei der Erfassung ökonomischer Kennzahlen für die armen Länder beklagten, gewann die umstrittene Wissensform in internationalen Organisationen rasch an Bedeutung. Denn die Zahlen stellten eine neuartige Möglichkeit in Aussicht, die Vielgestaltigkeit der Welt so weit zu reduzieren, dass die Handlungsebene einer internationalen Politik plausibel schien."[1]

Ökonomische Inwertsetzung verstellt den Blick für die Notwendigkeit qualitativer Veränderungen

Eine ganz ähnliche Entwicklung lässt sich auch in der internationalen Klimapolitik beobachten. Diese hat sich mit der Einführung der Maßeinheit CO2[2] immer mehr auf quantitative Ansätze ausgerichtet: CO2 dient als Messlatte für Emissionshandelssysteme, für den Ausgleich von Emissionen über REDD+-Gutschriften (s. Text des Dossiers "Marktkonformer Waldschutz (REDD+)") und liefert den logischen Rahmen für riskante Großtechnologien, die negative Emissionen bereitstellen. Damit stellt die internationale Klimapolitik nicht qualitative Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen - Veränderungen, die lokale Besonderheiten berücksichtigen und darauf abzielen, globales Wirtschaften so anzupassen, dass es sich in die natürlichen Grenzen des Planeten einfügt. Stattdessen führt die Ausrichtung von Klimapolitik an der Maßeinheit CO2 dazu, dass Natur so umdefiniert wird, dass sie in unser Wirtschaftssystem passt.

Diese Erfahrungen lassen es fragwürdig erscheinen, dass sich der Zustand von Ökosystemen und ihre Funktionen reduziert auf Naturkapital darstellen und sich auf dieser Grundlage tatsächlich eine bessere Politik gestalten lässt. Eine Politik, die Wirtschaftswachstum dem Erhalt natürlicher Lebensräume unterordnet.