Zeitsouveränität ermöglichen

Menschen brauchen Zeit - für ihre Familie, die Erwerbsarbeit, (Weiter)Bildungen oder Engagement sowie für sich selbst. Zwei Vorschläge der Familienpolitischen Komission für eine verlässliche Familienpolitik.

Familien wünschen sich Zeit für Partner/innen, Kinder, pflegebedürftige Angehörige und auch mehr Raum, um für sich selbst Sorge tragen zu können. Der Druck, die Gründung einer Familie, Erwerbsarbeit, Sorgearbeit und gesellschaftliches Engagement gleichzeitig und möglichst erfolgreich bewältigen zu müssen, wird für viele Menschen, Männer wie Frauen, immer stärker.

Gleichzeitig nimmt das Tempo der sogenannten Rush Hour des Lebens rasant zu. Viele Aufgaben müssen immer schneller erledigt werden. Würde die Familie wie ein Betrieb funktionieren, müsste die Effizienz gesteigert und der Zeithaushalt rationalisiert werden, um in weniger Zeit mehr abzuarbeiten.

Soziale Beziehungen entziehen sich jedoch dieser Rationalisierungs-Logik. Man kann ein Buch nicht ohne Qualitätseinbuße schneller vorlesen, Kinder nicht schneller trösten, eine politische Debatte nicht schneller führen. Sorgearbeit in Familien, lässt sich – abgesehen von einzelnen Bereichen in der Hausarbeit - nur begrenzt reduzieren.

Auch wenn Sorgearbeit im Privaten stattfindet, ist sie doch keinesfalls eine private Angelegenheit: Ohne diese unbezahlte Form der Arbeit können weder das Erwerbsarbeitssystem noch der Sozialstaat, weder das Bildungswesen noch die Zivilgesellschaft funktionieren. Es besteht deshalb ein sowohl gesellschaftspolitisches als auch sozialstaatliches Interesse, dafür zu sorgen, dass Männer und Frauen gleichermaßen die Zeit für die Fürsorge haben, die sie brauchen.

Natürlich steht dabei eine Managerin mit pflegebedürftigem Vater vor anderen Herausforderungen als ein Supermarktkassierer mit Kind. Ebenso haben Familien mit behinderten Angehörigen oder mit vielen Kindern deutlich mehr zu bewältigen und mehr miteinander zu vereinbaren als andere.

Eine verlässliche Familienpolitik muss all das bedenken, wenn sie die Sorge für andere und sich selbst gewährleisten will. Menschen brauchen Zeit für ihre Familie, sie brauchen Zeit für die Erwerbsarbeit und andere Tätigkeiten wie (Weiter)Bildung, Engagement. Und sie brauchen auch Zeit für sich selbst in den unterschiedlichsten sozialen und wirtschaftlichen Lebenssituationen.

Vorschlag Nr. 9

Zeitrechte und gestufte finanzielle Absicherung – um mehr Zeitsouveränität im Lebenslauf zu ermöglichen

Notwendig ist eine neue Regel im Verhältnis zwischen Arbeitszeit, Zeiten der Für- und Selbstsorge und Weiterbildung zu etablieren, die den unterschiedlichen Lebensbausteinen (Kinder, Pflege, Weiterbildung, Engagement und Erholung) gerecht wird. So genannten „Zeitrechte“ sollen über die Erwerbsbiografie hinweg ein bestimmtes Zeitkontingent, ein „ZeitHaben“, aufbauen und die bereits heute bestehenden Ansprüche auf Bildungsurlaub, Elternzeit, auf Pflegezeiten oder Freistellungen für staatsbürgerliche Pflichten ergänzen und verbessern.

Mit diesen Zeitrechten sollte ein differenziertes System verknüpft sein, in dem etwaiger Lohnersatz bzw. andere Einkommensquellen für die Periode der Freistellung vorgesehen sind.

Da es verschiedene Sorgetätigkeiten gibt, sollten die Quellen für die Existenzsicherung auch unterschiedlich sein. Der soziale Nutzen der jeweiligen Care-Tätigkeit für die Gesellschaft sollte ausschlaggebend sein bei der Entscheidung, welche Quelle für die Finanzierung verantwortlich ist. Der Staat oder die Sozialversicherungsträger sollten sie übernehmen, wenn öffentliche Interessen wahrgenommen werden (z.B. Kinder-, Alten- oder Krankenpflege).

Unternehmen sollten verantwortlich sein, wenn es sich um Bildungsurlaub oder Rechte handelt, die auf einem Zeitguthaben beruhen. Wo allein die Belange von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Vordergrund stehen, wird der Gebrauch der Zeitrechte bedeuten, auf Lohn zu verzichten, Zeitkonten auszuschöpfen oder das reguläre Urlaubskontingent aufzubrauchen. Um auch Menschen mit geringem Einkommen Zeitrechte zu ermöglichen, sollte darüber nachgedacht werden, sie mit einem erwerbsunabhängigen Einkommen über einen begrenzten Zeitraum abzusichern.

Die Wahrnehmung von Zeitrechten ist eine Frage der finanziellen Möglichkeiten. Es ist deshalb Aufgabe der Politik, Familien abzusichern und ihnen so den Raum für die Gestaltung dieser Zeiten zu geben. Aber auch Unternehmen und Tarifpartnerinnen sind gefragt, denn Auszeiten hängen auch von Unternehmenskulturen ab und beeinflussen Karrierewege.

Es muss möglich und normal werden, sich Zeit für Sorgeaktivitäten außerhalb der Erwerbsarbeit „nehmen“ zu können, mit einer Teilzeitstelle aufzusteigen, Jobsharing zu etablieren oder ein Rückkehrrecht auf die vorherige Stundenzahl gesetzlich festzulegen.

Zeitpolitik muss alle Lebensbereiche einschließen

Erwerbsarbeit, Pflege, Sorge für andere, Bildung, Solidarität und Erholung müssen besser miteinander in Einklang stehen. Oft ist der Zeitdruck von Menschen und Familien das nach außen verlagerte Produkt einer Arbeitswelt, die strukturelle Blindheit gegenüber der Familie zeigt. Es bedarf daher aus zeitpolitischer Perspektive zuallererst einer zeitachtsamen Arbeitskultur, die nicht nur mehr und flexiblere Zeiten für Sorgearbeit ermöglicht, sondern die auch mehr Zeit in der Erwerbsarbeit lässt: für qualitätsvolles und nachhaltig gesundes Arbeiten, für Regenerationszeiten ebenso wie für Reflexions- und Kommunikationszeiten.

Mehr als bisher muss es möglich sein, Lohntätigkeiten mit anderen Arbeitsformen zu verschränken. Instrumente können hierfür sowohl Betriebsvereinbarungen als auch Tarifverträge und Gesetze sein. Sorgezeiten und Selbstsorge müssen zum normalen Bestandteil von Erwerbsbiografien werden, für Männer und Frauen gleichermaßen.

Vorschlag Nr. 10

Gutscheine für haushaltsbezogene Dienstleistungen – um Familien zeitlich zu entlasten

Zeitpolitik bezieht sich nicht nur auf die Arbeitswelt und Familie, sondern auch auf den öffentlichen Raum und die soziale Infrastruktur. Neben alltagsfreundlichem Städtebau und öffentlichen Räumen, die den Zusammenhalt fördern, gehört der Ausbau von familien- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen ebenfalls zu einer effizienten Unterstützung, um den zeitlichen Druck von den Familien zu nehmen. Familienunterstützende Dienstleistungen können Vätern, Müttern und pflegenden Angehörigen, die Familie und Beruf ausbalancieren müssen, zeitliche Entlastung bieten.

Den Vorschlägen der Kommission entsprechend, sollte es für Familien möglich sein, Gutscheine zu erwerben und sie für Unterstützung im Haushalt einlösen. Der Staat übernimmt dabei die Lohnnebenkosten und stellt sicher, dass sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gewährleistet ist.

Dabei kann und muss Zeitpolitik selbstverständlich sicherstellen, dass die gewonnene Zeitsouveränität derjenigen, die Dienstleistungen in Anspruch nehmen, nicht auf Kosten der Zeitsouveränität jener geht, die diese Dienstleistungen bereitstellen.

Nach einer Evaluierung sollte das am 1.3.2017 in Baden-Württemberg gestartete Gutscheinmodell „Überführung haushaltsnaher Dienstleistungen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung“ ausgeweitet werden, um perspektivisch allen Bürger/innen den Zugang zu haushaltsnahen Dienstleistungen rund um den Haushalt zu ermöglichen. Das wird erwerbstätige Frauen und Männer mit Sorgeverantwortung für die Familie erheblich entlasten, was wiederum ihrer Lebensqualität und Gesundheit zu Gute kommt.

Auch ältere Menschen können mit solchen Gutscheinen besser ein eigenständiges Leben führen und damit deutlich an Lebensqualität im vertrauten Wohnumfeld gewinnen. Gleichzeitig können sich klein- und mittelständische Dienstleistungsunternehmen, die oft von Frauen geführt werden, behaupten.

Davon profitieren alle: die Familien, die zeitlich entlastet werden; die Dienstleisterinnen und Dienstleister, die sich auf diesem Wege substantielle Erwerbsbiographien aufbauen können; die klein- und mittelständische Dienstleistungsunternehmen, die sich dann mit regulären Arbeitsplätzen für Personen mit unterschiedlichen Bildungs- und Qualifikationsvoraussetzungen am Markt behaupten können; und schließlich profitiert auch die Volkswirtschaft indem sozialversicherungspflichtig angestellte Haushaltsarbeiter/innen und Hausarbeiter Steuern und Sozialabgaben zahlen und andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihr Erwerbsvolumen durch die Entlastung von sach- und personenbezogener Hausarbeit unter Umständen ausweiten