Transatlantische Beziehungen: Die Luft der Freiheit

Replik

In dem am 12. Oktober 2017 in DER ZEIT veröffentlichten „Transatlantischen Manifest“ betonen die Autoren die Notwendigkeit einer Strategie, die auf Erhalt und Pflege der Transatlantischen Beziehungen basiert. Kritiker hinterfragen diesen Ansatz und fordern, eine „neue Außenpolitik nach dem Atlantizismus“. Sergey Lagodinsky sieht darin grundlegende Missverständnisse und Gefahren.

Demonstrant beim Million-Woman March in Downtown Chicago
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Die transatlantischen Beziehungen sind auch ein demokratisch-kultureller Rahmen der Zivilgesellschaft: Demonstrant beim Million-Woman March in Downtown Chicago vor dem Trump-Tower

Nachdem wir 1993 unsere Koffer gepackt hatten, zogen wir nach Schleswig-Holstein, aber eigentlich in den Westen. Der ökonomische Wohlstand spielte gewiss als Anreiz seine Rolle, doch am Wichtigsten war das Atmen: Das offene freie Denken, die gesicherten Freiheitsräume und eine Gewissheit, dass Minderheiten sich nicht den Mehrheiten unterwerfen müssen. Das war uns, den sowjetisch geprägten Osteuropäern, neu und das verschaffte uns, den denkenden Menschen, wie ein Luftzug bei Atemnot – das Gefühl der Erleichterung und der Dankbarkeit zugleich. In der Auseinandersetzung zwischen Ost und West haben wir uns für den Westen entschieden. Nicht für Deutschland.

Damals konnten wir noch nicht ahnen, wie sehr dieses westlich erscheinende Deutschland eine historische Ausnahmeerscheinung war. Wir verstanden auch nicht, wie schnell Deutschland sich daran gewöhnen würde, diese Ausnahmephase als ureigene permanente Normalität einzustufen. Und die Besonderheit dieser einzigartigen historischen Lage zu vergessen.

Zugegeben: Heutzutage fällt uns allen schwer, das Wesentliche an dieser freiheitlich-liberalen West-Orientierung Deutschlands zu verteidigen. Erst recht denjenigen von uns, die eine Freiheitsdyspnoe nie erleben mussten. Nie mussten sie erleben, wie es ist, in einem Zustand aufzuwachsen, in dem Freiheit nicht nur unterdrückt, sondern als Konzept nicht vorhanden war, nicht in deinem Leben, nicht in den Biographien der Eltern, nicht in den Biographien ihrer Eltern und denen der Eltern ihrer Eltern. Es gab in unserem Leben nichts davon, was es westlich der Mauer gab, und es gab Einiges davon nicht, was es mancherorts östlich der Mauer gab: Zugang zu westlichen Medien, um zumindest die visuelle Vorstellung von Freiheit zu haben; gelegentliche Besuche aus dem Westen, um von dort Geschichten zu hören und ja, auch Privatbesitz und Kleinunternehmertum (als Privileg des sozialistischen Osteuropas gegenüber der UdSSR, wo Menschen dafür im Gulag oder in Gefängnissen verschwanden).

Vielleicht ist das der Grund für den Widerspruch, der sich in mir regt, beim Lesen der Erwiderung der ZEIT-Autoren auf das Manifest für eine Strategie gegenüber den USA, das ich mitunterzeichnet habe: Jörg Lau und Bernd Ulrich lebten ihr Leben lang in einer Welt, in der es höchstens darum ging, wie viel Kohlenmonoxid es in der Luft der Freiheit geben darf, aber in der der Sauerstoff der Freiheit – ihre Kernexistenz - nie in Frage gestellt wurde. Vielleicht führt diese Normalität der Freiheit zu den Missverständnissen und Illusionen in ihrem Text.

"Die Atlantiker" gibt es nicht

Zu Missverständnissen: Es mag sein, dass aus diesen Zeilen eine persönliche Kränkung eines Missverstandenen spricht. Der persönlich hoch geschätzte Jörg Lau und der persönlich mir unbekannte, aber nicht minder geschätzte Bernd Ulrich haben die Autoren des transatlantischen Manifests nicht verstanden, dafür mit homogenisierenden Adjektiven belegt. Die „Atlantiker“ seien es, die Trump immer schon unterschätzt und kleingeredet hätten (als wäre „Atlantiker“ ein Parteibuch und als hätten die Anhänger der eurasischen Freundschaft allesamt Trump seinen Sieg vorhergesagt). Problematischer ist aber: Die ZEIT-Autoren sehen Paradoxien, wo keine sind. Sie konstruieren eine Dichotomie ohne reale Gegensätze, als gäbe es nur zwei kämpfende Denklager: Die pro-amerikanischen Kettenanleger auf der einen und die EU-/Deutschland-Emanzipatoren auf der anderen Seite. Das ist falsch: Der Sinn einer US-Strategie, wie wir sie anregen, liegt just in der Kalibrierung der europäischen Emanzipation bei einem gleichzeitigen Bekenntnis zu Amerika als Partner. Ja, Debatten leben von konstruierten Dichotomien und Verkürzungen, doch die Antwort der ZEIT-Autoren verlässt sich auf allzu bequem konstruierte falsche Gegensätze.

Die „Atlantiker“ gibt es nicht, weil die Gruppe der Atlantiker vielfältig ist. Es gibt linke und rechtskonservative, es gibt Verbraucher-NGOs und Vertreter/innen der Industrie, es gibt Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die auf beiden Seiten forschen und sich gegenseitig Methoden beibringen und es gibt Umwelt- und Gerechtigkeitskämpfer/innen, die sich auf Anhieb verstehen und von einander lernen, wie öffentliche Kampagnen oder die Aktionen des zivilen Ungehorsams funktionieren. Es gibt Feminist/innen, die aus den USA die Methoden der critial feminist theory entleihen und weiterentwickeln und es gibt Rassismuskämpfer/innen, die von Antirassismusideologien in den USA lernen. 

Der Westen als freiheitliches Konzept

Diese Fehldeutung der „Atlantiker“ folgt aber der Fehldefinition der transatlantischen Beziehungen, als einer primär sicherheits- und wirtschaftspolitischen Allianz. Nichts könnte ferner der Realität sein: Transatlantische Beziehungen sind eine demokratisch-kulturelle Kategorie. Diese Kategorie ist eine der gegenseitigen Befruchtung in allen Bereichen: von Kunst bis Sachbuch. Transatlantische Allianz ist ein Rahmen, nicht das Bild. Sie ist wertegeleitet, aber inhaltsneutral, weil jeder aus dieser Beziehung Kriege wie Friedensinitiativen herzaubern kann, die billigsten Blockbuster genauso wie die besten Schriftsteller-Traditionen, die hässlichsten Popsternchen genauso wie die besten Trends der Gegenwartskunst.

Transatlantische Beziehungen sind beides: Werte und Netzwerke. Doch während auf der Netzwerk-Ebene vieles möglich ist, ist die Ebene der Werte nicht beliebig. Das Primat der Bürgerrechte vor Kollektivzwang, der Stellenwert der Selbstentfaltung, der Vorrang der Kreativität vor Autorität, dieser Geist ist der Anker, der den Westen definiert. Unvorstellbar in China oder dem heutigen Russland! Diese Werte sind auch das Korsett, das die Möglichkeiten der Selbstverwandlung unserer aller Gesellschaften bremst. Die westliche Bindung Deutschlands und die transatlantische Bindung der USA ist das beste Instrument, um beide vor eigenen inneren Dämonen zu schützen. Das ist der Urknall des Westens als freiheitliches Konzept! Ein Korsett, welches beide Seiten zusammenhalten und vor sich selbst bewahren soll.

Doch das ist offensichtlich nicht das Verständnis der transatlantischen Beziehung der ZEIT-Autoren. Vielleicht kommt daher auch die Verkürzung des Begriffs auf „Atlantiker“: Atlantiker verweist auf eine Richtung, die von Berlin aus gesehen nur hin zu den USA weisen kann. „Transatlantiker“ weist auf eine Brücke, die in beide Richtungen begehbar ist. Aus dieser Slapstick-Verkürzung der transatlantischen Beziehung als einseitiges Verlangen nach Elternpflege resultiert der Rest: Für die Atlantik-Skeptiker ist die Beziehung mit dem Amtsbeginn von Trump implodiert, sie ist mit ihm unumkehrbar gebrochen, irreparabel kaputt. Und: Für sie ist Obama genauso anti-atlantisch wie Trump, weil Obama sich nach Asien orientierte. Beides ist falsch: Trump gefährdet den Westen nicht, weil er die NATO weniger respektiert. Sondern weil er den gemeinsamen Konsens darüber, was eine liberale Demokratie und die liberale Diplomatie bedeutet, zerstört. Diese hat Obama nie in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil.

Trump steht aber nicht für die USA, genauso wie Obama nicht für die USA gestanden hat. Amerika, welchem wir „trotz alledem“, unsere Blicke zuwenden, ist ein Konzept. Es ist vielfältig, verrückt, streitbar und streitend. Ja, Amerika ist ein politisches System, welches einen Trump genauso wie einen Obama, herzaubern konnte. Vor allem sind die USA aber ein Land, welches ein Gerichtssystem, die freie Presse und eine Zivilgesellschaft beheimatet, welche Obama wie Trump trotzen. Und immer noch nicht aufgegeben haben!

Trump ist nicht Amerika

Nein, Trump ist nicht deswegen ein Präsident sui generis, weil er das Vertrauen der Deutschen enttäuscht, sondern weil er das Vertrauen seines eigenen amerikanischen Demokratiesystems verraten hat. Dies war unter keinem der bisherigen Präsidenten denkbar und wird (hoffentlich) auch unter keinem der nachfolgenden Präsidenten möglich sein (auch wenn das Risiko der gebrochenen Dämme bezüglich der politischen Kultur in den USA uns allen bewusst ist). Diesem gefährdeten amerikanischen Demokratie-System gilt es nicht, den Rücken zuzukehren, sondern mehr Solidarität zu zeigen.

Trump ist nicht Amerika und transatlantische Beziehungen sind nicht alleine Sicherheitspolitik! Auf diese Axiome des modernen transatlantischen Selbstverständnisses stützt sich das Manifest der Transatlantiker, dies haben die ZEIT-Autoren verkannt. Soviel zu Missverständnissen.

Deutsche Selbstüberschätzung

Und nun zu Illusionen. Egal, wie sehr die Position von Lau und Ulrich von Missverständnissen der Positionen der „Atlantiker“ geprägt sein mag, ihre Schlussfolgerungen für die Außenpolitik Deutschlands basieren auf zwei illusorischen Annahmen: Die ZEIT-Autoren überschätzen Deutschland und unterschätzen die Herausforderungen des geostrategischen Umfelds unseres Landes.

Die Überschätzung der historischen Kraft der 70-jährigen deutschen Demokratie ist umso verwunderlicher, da die ZEIT-Autoren doch der mehr als 200 Jahre alten amerikanischen Demokratie vorschnell Versagen attestieren. Doch wenn es stimmt, dass die amerikanische liberale Tradition innerhalb von einem Jahr durch Trump als „Garant der Demokratie“ kollabiert, ihren „moralischen, militärischen und politischen Führungsanspruch“ verwirkt hat, wie schnell kann es dann mit der demokratischen Tradition in Deutschland gehen?

Das Problem der Autoren ist, dass sie vor dem Hintergrund des amerikanischen Twitter-Präsidenten in den Sog der deutschen Selbstüberschätzung geraten sind. Sie wittern einen “Befreiungsschlag“ und kritisieren die Aneinanderreihung der amerikanischen „Verrücktheiten“ in den USA, ganz so, als wäre in Europa und in Deutschland alles unter Kontrolle. Auf der Liste der Verrücktheiten der USA zählen sie Umstände auf, wie „Kluft zwischen Arm und Reich“, das „elitäre Bildungssystem“ oder den „massivem Rassismus“, den „übersteigerten Nationalismus“ sowie einen „horrenden Energieverbrauch“ und „religiöses Sektierertum“. Diese Liste spiegelt die Verblendung vor dem eigenen Entwicklungsstand, ganz so, als ob wir in Deutschland mitten in einer florierenden sozialistischen Internationale leben würden.

Ein überraschter Leser oder eine überraschte Leserin dürfte sich fragen, in welchem Land denn die Autoren der ZEIT leben und ob sie schon mal von Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland, erst recht in Europa, gehört haben? Eine amerikanische Leserin würde noch weiter nachbohren und mit Staunen feststellen, dass in Deutschland die nicht ausreichend begabten Kinder schon im zarten Grundschulalter für die Hauptschulen aussortiert werden, dass Sexismus Alltag ist, dass positive Diskriminierung der Minderheiten genauso wenig existiert, wie eine grundsätzliche Legalität der Abtreibung (in USA ist dies trotz aller Schwierigkeiten auf der Bundesebene immerhin seit 1973 der Fall).

Die Amerikanerin würde auch darauf hinweisen, dass ein republikanischer Präsident eine eingetragene Partnerschaft in den USA einführte, als die heutige deutsche Kanzlerin so etwas noch entschieden ablehnte, und dass das amerikanische Verfassungsgericht die Ehe für alle anordnete, als die aufgeklärte deutsche Regierung (eine der letzten in Europa!) sich an das ungeschriebene Privileg der Mann-Frau-Ehe klammerte. Sie würde mit Erstaunen die aggressive deutsche Diskussion über Scientology als Eingriff in die Religionsfreiheit verfolgen und die Verbindungen zwischen Staat und Kirche (einschließlich Kirchensteuer und Religionsunterricht) in Deutschland als eklatanten Verstoß gegen die aufgeklärte Trennung zwischen Staat und Religion sehen.

Vor allem würde die staunende Amerikanerin sich über die unerwartet stark wiedererwachte Selbstsicherheit der deutschen Freunde wundern, die an die Belastbarkeit des zivilisatorischen Aufklärungssockels der eigenen Gesellschaft glauben, wo doch mindestens ein Drittel des Landes enthusiastisch Parteien unterstützt, die die Grundprinzipien der liberalen Demokratie abwickeln und 60 Prozent einen Schlussstrich unter die eigene Vergangenheit ziehen wollen. Und so stellt man fest, dass die erste Illusion, der die Atlantik-kritischen ZEIT-Autoren verfallen sind, die Illusion über sich selbst ist.

Das geostrategische Umfeld

Die zweite Illusion liegt in der Fehleinschätzung des eigenen geostrategischen Umfelds. Dieses Umfeld ist nicht neutral. Europa ist nicht die USA oder Russland, es ist unfähig, sich kurzfristig sicherheitspolitisch oder ideologisch zu einem starken Pol des internationalen Magnetfelds zu entwickeln. Schlimmer noch, Deutschland befindet sich nicht in den Alpen der internationalen Politik, um als „globale Schweiz“ auf die Kontrahenten USA und Russland neutral und abgehoben hinab zu schauen. Deutschland ist zu schwach dafür, schnell eine eigene magnetische Anziehungskraft zu entwickeln, um anderen Magnetkräften zu widerstehen. Ob es will oder nicht, liegt unser Land im umkämpften Magnetfeld Mitteleuropa. Es wäre halb so schlimm, wäre zumindest die Qualität der demokratischen Herausforderungen auf beiden Polen des Magnetfelds vergleichbar. Doch Trump und Putin unterscheiden sich in einem für uns entscheidenden Punkt: Trump ist eine gefährliche Person, Putin ist ein System.

Draußen ist kein Kalter Krieg, aber ein Kampf der Systeme, genauer gesagt, es findet gerade ein Angriff auf das liberal-demokratische System statt. Dieser Angriff ist nicht zögerlich und nicht isolierbar. Dieser Angriff erfolgt mit der gesamten Wucht der ideologischen und informationstechnischen Waffen. Der Angriff auf die liberale Demokratie wird von Moskau aus vorwärtsgetrieben, verbreitet sich aber auch zunehmend weiter von Budapest bis Ankara. Was noch kritischer ist, diese Wucht macht keinen Halt vor deutschen Grenzen. Wer die ideologischen Interventionen nicht sieht, dem ist nicht zu helfen. Ob soziale Medien, Youtube-Videos von Ruptly oder Russia Today, ob auf Russisch, Deutsch oder Englisch – das liberale demokratische System ist unter Beschuss. Der ideologische Beschuss trifft in unserem Inland auf zutiefst verunsicherte und desorientierte Bevölkerungsteile, auf eigenproduzierte Kräfte, die dem Westen als liberaldemokratischem Konzept auch im Inneren eine Absage erteilen, sich nach Autoritarismus und Mehrheitsdiktat sehnen. Dieses Zusammentreffen der Außenwirkung und Binnennachfrage ist historisch und ein höchst gefährliches Gemisch.

Just zu diesem Zeitpunkt muss sich Deutschland entscheiden! Bevor wir die Entscheidung treffen, muss uns klar sein: Diese Entscheidung ist binär. Es gibt keinen dritten Weg. Auf einem Magnetfeld gibt es keine Äquidistanz. Jedes Zögern Deutschlands wird bedeuten, dass das Land von der Sogwirkung der anti-liberalen Ideologie verschlungen wird. Die Gefahr und die Entscheidung sind also nicht so sehr sicherheitspolitisch, wie innenpolitisch und identitär. In diesem Sinne ist eine transatlantische Demontage – zugleich eine Demontage der freiheitlichen Eigenidentität. Denn bei allem berechtigten Stolz für die seit 70 Jahren geleisteten Leistungen kann unser Land nicht auf eine gefestigte westliche demokratische Tradition zurückblicken, verdankt aber just dieser ihren höchsten moralischen Entwicklungsstand. Wer das nicht sieht, dem helfe Gott. Er soll jedenfalls seine Koffer in der Reichweite haben, um irgendwann wieder nach dem freiheitlichen Westen zu suchen.  

Dieser Artikel erschien in gekürzter Version unter dem Titel "Deutsche Illusionen" am 26. Oktober 2017 in DER ZEIT.