Brasilien: Einschneidende Rückschritte im Umwelt- und Indigenenschutz

Die sozioökologische Gesetzgebung Brasiliens ist seit Jahren ständigen Angriffen ausgesetzt. Seit dem Regierungsantritt Michel Temers hat sich die Lage gravierend verschärft: Historische Errungenschaften auf dem Gebiet des Umwelt- und Indigenenschutzes werden zunehmend ausgehebelt.

Michel Temer und Blairo Magg
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Präsident Michel Temer und Landwirtschaftsminister Blairo Maggi: lassen aus Anlass des Baumwollerntebeginns ein werbeträchtiges Foto von sich machen

Parlamentarischer Putsch, Wirtschaftskrise und allgemeine Diskreditierung staatlicher Behörden haben in Brasilien eine Atmosphäre geschaffen, in der der Diskurs – das gesprochene und geschriebene Wort – eine besondere Bedeutung erlangt hat.

Es sind die Feinheiten der amtlichen Doppelzüngigkeit der Temer-Regierung, in denen Widerspruch und Bedrohung stecken: „Flexibilisierung“ der Umweltbestimmungen, „Modernisierung“ der Arbeitswelt, „Umstrukturierung“ von Ministerien und staatlichen Stellen, „Konzessionen“ an Interessenten, „Rückgewinnung“ des Vertrauens, „Sicherung“ des Reformprogramms; ein Blumenstrauß an Begrifflichkeiten, mit einem soften, programmatischen Klang – wohl damit sich die Bevölkerung leichter an die Euphemismen gewöhnt.

Landraub ist nicht länger Landraub, sondern staatlich geförderte und sanktionierte Landgewinnung. Auf Eis gelegt sind Überwachung der Umweltgesetzgebung und Bekämpfung von Sklavenarbeit. Investitionen für Gesundheits- und Bildungswesen werden immer weiter zurückgefahren.

Die dem Justizministerium unterstehende brasilianische Behörde zum Schutz der indigenen Bevölkerung des Landes FUNAI erlebt den kritischsten Moment in den Jahrzehnten ihrer Existenz. Und die parteienübergreifende Agrarlobby im Parlament – die bancada ruralista – darf sich eingeladen fühlen, Gesetzesentwürfe anzunehmen, die ganz in ihrem Sinne sind. Jedenfalls: Der rote Teppich für sie ist schon ausgebreitet.

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Schockdoktrin, sagen einige nicht ohne Grund. Die Strategie ist simpel: Es geht darum, die größtmögliche Anzahl an Absurditäten in kürzest möglicher Frist durchzudrücken, damit die Bevölkerung keine Zeit zum Reagieren hat. Und zum anderen darum, der organisierten Zivilgesellschaft die Möglichkeit zu nehmen, einem so breiten und koordinierten Angriff adäquat entgegenzutreten.

Aber wenn es auch stimmt, dass Brasilien mithilfe des reaktionärsten und korruptesten Kongresses seit der Diktatur in weniger als zwei Jahren Temer-Regierung um 50 Jahre zurückgeworfen wurde, so stimmt es doch ebenso, dass nicht alles, was diese Regierung durchsetzen will, einfach so hingenommen wird.

Exemplarisch dafür steht der Fall Renca. Ende August 2017 hatte die Regierung Temer das 1984 zum Naturschutzgebiet erklärte 46.000 km2 große Areal Renca (Reserva Nacional de Cobre e Associados) im Norden des Landes per Federstrich aufgelöst und für den Bergbau freigegeben.

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Das zweizeilige Dekret beinhaltete weder konkrete Regelungen für die Rohstoff-Ausbeutung, noch für die voraussichtliche Fördermenge, und schon gleich gar nicht für die Sicherung der dortigen Naturschutz- und indigenen Gebiete. Eine gegenteilige Stellungnahme des Umweltministeriums wurde in den Wind geschlagen. Stattdessen wurden kanadische Unternehmen über die anstehende Entscheidung schon mal vorinformiert.

Aber der durch die Zivilgesellschaft, die Umweltbewegung, die NGOs, die nationale und internationale Presse und sogar durch einige berühmte Persönlichkeiten ausgeübte Druck erreichte mithilfe einer wahren Rechts-Schlacht die Aussetzung des Dekrets und damit den Erhalt des Schutz-Status für das Renca-Gebiet. Damit ist ein großes Areal fast vollständig erhaltenen Urwalds zwischen den nordbrasilianischen Bundesstaaten Amapá und Pará vorerst gerettet.

Doch es bleibt noch viel zu tun. Die gewonnene Schlacht ist nur ein Etappensieg. Schließlich gilt Temer als Spezialist für das Lampedusa-Paradoxon: Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist. Doch damit nicht zufrieden, geht er noch weiter: Alles soll noch schlechter werden, aber bitte mit dem Anschein von Normalität!

Kürzungen im Umweltministerium mit Kaskadeneffekt

Im März 2017 verkündete Temer Kürzungen im Staatshaushalt um mehr als 42,1 Milliarden Reais (ca. 410 Milliarden Euro). Institutionen, die dazu geschaffen worden waren, die Folgen von illegitimer Landnahme (die sogenannte grilagem), und von illegaler Diamanten- und Goldsuche zu mildern, die sich also hauptsächlich mit sozioökologische Konflikten befassten, konnten dadurch bestimmte Basisdienstleistungen nicht mehr erbringen, was letztlich deren Abbau gleichkam.

Das Umweltministerium hatte früher ein Budget von 911 Millionen Reais (ca. 230 Millionen Euro) zur freien Verfügung (gastos discricionários), einschließlich des Änderungshaushaltes (eingebracht durch emendas colectivas); heute verfügt es nur noch über 596,5 Millionen (ca. 151 Millionen Euro) jährlich. Das ist eine Kürzung um mehr als 315 Millionen Reais (79 Millionen Euro), d.h. fast ein Drittel des Ministeriumsbudgets.

2017 betrug das Budget des Umweltministeriums einschließlich aller zugehörigen Institutionen (Ibama, ICMBio, Serviço Florestal Brasileiro, Agência Nacional das Águas, Fundo Nacional do Meio Ambiente, Fundo Nacional sobre Mudança do Clima e Jardim Botânico do Rio de Janeiro) insgesamt 2,1 Milliarden Reais (0,53 Milliarden Euro). Es ist damit eines der niedrigsten Budgets seit 2001.

Da 41 Prozent des Gesamtbudgets für Gehaltszahlungen an das Personal (und andere Fixkosten) benötigt werden, bleiben also 59 Prozent, über deren Ausgabe oder Nichtausgabe das Ministerium frei entscheiden darf – die besagten frei verfügbaren Mittel. Doch genau die sind von der Kürzung des Haushaltes um ein Drittel betroffen. Dies erschwert die ohnehin nicht einfachen Aufgaben des Ministeriums: Bekämpfung der Abholzung, Ausgabe und Überwachung der Umweltschutz-Zulassungen für Unternehmen (durch Ibama und regionale Behörden), Gewährleistung der Aufsicht und der Instandhaltung von 327 staatlichen Naturschutzgebieten (durch ICMBio) und Übernahme der Führungsrolle bei der Implementierung von nationalen Politiken zu Themen wie Klimawandel, Wasserressourcen oder Festabfälle.

Landgrabbing-Gesetz: direkte Aufforderung zu kriminellem Handeln

Gegen den durch Temer im Juli 2017 befürworteten Gesetzesentwurf Nr. 13.465/2017, bekannt geworden als „Landgrabbing-Gesetz“ (Lei da Grilagem), hat die Generalstaatsanwaltschaft der Republik aufgrund der möglichen Verfassungswidrigkeit Anklage erhoben. Das Vorgehen der bancada ruralista ist in höchstem Maße sträflich und zeigt deutlich deren totalen Mangel an Anstand und Schamgefühl sowie ihre Überzeugung, ein Gesetz durchbringen zu können, von dem Ex-Staatsanwalt der Republik Rodrigo Janot schreibt, dass es jenseits der Tatsache, auf die Schnelle und in einem außerverfassungsmäßigen Raum zustande gekommen zu sein, ein Gesetz ist, das einer Vielzahl von verfassungsmäßig verankerten Prinzipien und Regelungen widerspricht, wie: dem Recht auf Wohnen; dem Eigentumsrecht; der Pflicht der Abstimmung mit Agrarpolitik und Nationalplan für Agrarreform im Falle der Nutzung von öffentlichen Flächen und ungenutzten Gebieten; dem Rückschrittsverbot; der Vorschrift über die Zahlung von Agrarreforms-Entschädigungen in der ausschließlichen Form von landwirtschaftlichen Schuldtiteln; der Forderung der Bevölkerungsbeteiligung an der Gemeindeplanung und anderen mehr.

Für Janot schafft also das Gesetz Nr. 13.465 die Voraussetzungen für die massenhafte Privatisierung öffentlicher Güter. Deren düsteres Ergebnis wäre die Zerschlagung aller bisherigen Errungenschaften von Verfassung, Verwaltung und Bevölkerungsengagement für die Demokratisierung von Zugang zu Wohnraum und Grundbesitz, und ebenso die Gefährdung des Umweltschutzes für gegenwärtige und künftige Generationen.

Aufs Höchste alarmiert bestätigen soziale Organisationen, dass das „Landgrabbing-Gesetz“ öffentliche Ländereien, Wälder, Gewässer und bundeseigene Inseln betreffen würde. Und das nicht nur in Amazonien, sondern auch in dem per Verfassung zum nationalen Kulturerbe erklärten Brasilianischen Küstengebiet. Denn es erlaubt die Legalisierung der Besitzverhältnisse von Ländereien, die zwischen 2004 und 2011 illegal in Beschlag genommen wurden und erhöht deren Maximalgröße von 1.500 auf 2.500 Hektar. Darüber hinaus ermöglicht es Landerwerb zu den mehr als moderaten Preisen der Incra-Tabelle (Incra: Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária – die staatliche brasilianische Regierungsinstitution zur Regelung von Fragen der Agrarreform), die für den Kauf pro Hektar Land nur 10-50 Prozent des Marktwertes vorsieht.

Ohne Wenn und Aber bestätigt Janot, dass „das Gesetz tiefe und irreversible Auswirkungen auf die Besitzstruktur an Grund und Boden auf dem gesamten Nationalgebiet haben wird, sei es durch die Ermunterung zur illegalen Landnahme („grilagem“ = „Landraub“) und die dadurch vorauszusehende Zunahme von Landkonflikten, sei es durch die Abschaffung der Minimalbedingungen für die Fortführung entsprechender Politiken auf Grundlage der Verfassung“. Gemäß Imazon (Instituto do Homem e Meio Ambiente da Amazônia:  Forschungsinstitut für die Förderung nachhaltiger Entwicklung in Amazonien) würde der Schaden für den brasilianischen Staatshaushalt allein für die 61 Prozenz der Landesfläche umfassende Region Amazônia Legal, welche die Staaten Acre, Amapá, Amazonas, Pará, Rondônia, Roraima, Tocantins in ihrer Gesamtheit und Teile der Staaten Maranhão und Mato Grosso soziopolitisch zusammenfasst,19 Milliarden Reais (ca. 4,8 Milliarden Euro) betragen, sollten die Preise der Incra-Tabelle für die Landkäufe angesetzt werden.

Allgemeines Gesetz zur Umweltlizenzvergabe in der Hand der ruralistas

Der seit 13 Jahren in Diskussion befindliche Entwurf des sogenannten „Allgemeinen Gesetzes zur Vergabe von Umweltlizenzen“ (Gesetz 3.729/2004) wird sowohl von der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft als auch vom brasilianischen Bundesumweltamt Ibama (Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais Renováveis) sowie von Umweltschützer/innen stark kritisiert. Über den Gesetzentwurf in seiner jetzigen, vom Abgeordneten Mauro Pereira (PMDB) eingebrachten Version, soll – wenn es nach ihm geht, mit Dringlichkeitsstatus – allein das Plenum abstimmen, ohne dass es vorher die Finanz- und Steuerkommission und die Verfassungs- und Justizkommission durchläuft; ein Vorgehen, das die Parlamentarische Umweltfront zu verhindern sucht.

Die Besorgnis kommt nicht von ungefähr. Dieses Gesetz würde die Vergabe von Umweltlizenzen für Großvorhaben erleichtern und Agrarunternehmen grundsätzlich von der Lizenzpflicht befreien. Ein weiteres Problem: Die Umweltbehörden wären damit gezwungen, innerhalb einer bestimmten Frist über Unternehmensanträge zu entscheiden. Eine Vorlizenz, zum Beispiel, müsste in maximal zehn Monaten erteilt oder abgelehnt werden. Und das auch nur, wenn für das Projekt eine Vorstudie über mögliche Umweltschäden vorgeschrieben ist.

Nach Auffassung der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft (Ministério Público Federal) enthält der Text „Bestimmungen, die deutlich verfassungswidrig sind und einen nicht hinnehmbaren und unzulässigen sozioökologischen Rückschritt bedeuten würden“, so heißt es wörtlich. Die Eilabstimmung im Plenum hätte nur eine einzige Stoßrichtung – der nationalen Umweltpolitik und der Bevölkerung zu schaden, in einem Augenblick, in dem die öffentliche Aufmerksamkeit wegen der Korruptionsskandale der Regierung abgelenkt ist.

Wie das Dokument des MPF feststellt, enthält die Gesetzesänderung verschiedene Problemkreise, unter anderem:

  • die Festlegung einer zu kurzen Frist für die Bewilligung von Lizenzen, die dann ohne Begutachtung ausgegeben würden, oder gar trotz eines gegenteiligen Gutachtens einer anderen zuständigen Institution, wie z.B. dem Institut für Nationales Kulturerbe und Denkmalsschutz (Iphan), der Nationalen Stiftung der Indigenen (FUNAI) oder dem Institut für den Erhalt der Biodiversität Chico Mendes (ICMBio),
  • eine überzogene Autonomie gegenüber den Bundesbehörden und das Fehlen von einheitlichen nationalen Parametern und Kriterien zur Entscheidungsfindung,
  • die Aufweichung der Bedingungen, die im Falle der Nichterfüllung von Auflagen das Aussetzen des Lizensierungsprozesses zur Folge haben würden, sowie
  • die Schaffung eines vereinfachten elektronischen Verfahrens (Licença por Adesão e Compromisso - LAC), das Unternehmen auf Grundlage einer einfachen Erklärung von der Vor-Lizensierung bei umweltschädlichen Aktivitäten befreit.

Sogar das brasilianische Bundesumweltamt Ibama, das die Annahme eines neuen Gesetzes (an und für sich) befürwortet, bestätigt, dass es in der vorliegenden Fassung des Gesetzestextes „einen großen Rückschlag für den Umweltschutz bedeuten würde, da der Inhalt auf die Judizialisierung von Lizensierungsverfahren und des angenommenen Gesetzes selbst abzielt.“ Dann werden die zahlreichen Probleme eines nach dem anderen aufgeführt. Die planvolle Offensive der ruralistas zeigt sich also einerseits in den Bestrebungen, die Lizensierung verfassungswidrig und mit einem sehr viel vageren Regelwerk durchzuziehen, und andererseits darin, die Umweltinstitutionen durch fehlende technische Ausrüstung und bedeutende Budgetkürzungen systematisch auszuhungern.

Bergbauindustrie: Öffnung birgt Gefahren

Im Juli 2017 kündigte Temer das „Programm für die Neubelebung der Bergbauindustrie“ an. Zu den geplanten Veränderungen gehört die Einrichtung der Nationalen Bergbauagentur (Agência Nacional de Mineração), die die derzeitige Nationale Behörde für Bergbau DNPM (Departamento Nacional de Produção Mineral) ablösen soll, eine Erhöhung der Förderabgaben – die aber auch dann noch niedriger als der Weltdurchschnittswert wären – und die Erwartung, so den Beitrag des Bergbaus am brasilianischen BIP von 4 Prozent auf 6 Prozent zu steigern.

Schon der Nationale Bergbauplan, der im Jahre 2011 mit Zielen bis 2030 verkündet wurde, sah die Produktion von einer Milliarde Tonnen Eisenerz und 200 Tonnen Gold im Jahre 2030 vor.

Vor zwei Jahren ereignete sich das größte Umweltverbrechen in der brasilianischen Geschichte, bei dem es im November 2015 in der Stadt Mariana (Bundesstaat Minas Gerais) in einem Eisenerzbergwerk zu einem Dammbruch in zwei Absetzbecken kam. 19 Menschen starben und eine riesige Schlammlawine mit schädlichen Stoffen ergoss sich auf die angrenzenden Ortschaften und kontaminierte den Rio Doce, der sich in einen „toten Fluss“ verwandelte. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis sich die Umwelt von den immensen Schäden erholt. Der „Fall Mariana“ zeigt eindrücklich, dass ein politisches Vorgehen wie oben beschrieben fahrlässiges Handeln begünstigt und damit unvorhersehbare Auswirkungen im Ökosystem und im Leben von Millionen von Menschen verursachen kann. Schlimmer noch: Mariana heißt auch, dass bis zum heutigen Tage niemand zur Verantwortung gezogen und die Strafe nie wirklich bezahlt worden ist. Das Bergbauunternehmen Samarco (Vale/BHP) – das übrigens Dutzende von Wahlkampagnen finanziert hat – hat mehrfach Berufung eingelegt und zählt auf die Milde der Justiz. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie dies Unternehmen geradezu zu Umweltsünden in Brasilien ermuntert.

Fünf Millionen Hektar im Blick

Eine in der Zeitschrift „Environmental Conservation“ von Wissenschaftler/innen der UFG (Bundesuniversität von Goiás), dem IPAM (Amazonas-Umweltforschungsinstitut) und dem ICMBio (Institut für den Erhalt der Biodiversität Chico Mendes) veröffentlichte Studie zeigt auf, dass im Zeitraum von nicht einmal acht Jahren fünf Millionen Hektar bisher geschützter Territorien in Brasilien direkte Auswirkungen des Bergbaus zu spüren bekämen, schon wenn nur drei der gerade diskutierten Gesetzesentwürfe vom Nationalkongress angenommen würden.

Die Wissenschaftler/innen analysierten hier die Auswirkungen, die die bereits gestellten 13.600 Anträge auf Ressourcenabbau in Gebieten haben würden, die sich in irgendeiner Weise mit geschützten Territorien überlappen. 2.400 dieser Abbauvorhaben sind in Gebieten geplant, wo zurzeit Bergbau noch verboten ist. Weitere 11.200 sind in Landschaftsschutzgebieten (Áreas de Proteção Ambiental – APA) vorgesehen, wo der Bergbau bereits gestattet ist, bzw. in Biosphärenreservaten (Áreas de Relevante Interesse Ecológico – ARIE). In die Analyse einbezogen wurden alle bei der Nationalen Behörde für Bergbau (DNPM) registrierten Vorgänge, die irgendeine bergbauliche Aktivität beinhalteten, angefangen von der Untersuchung potenzieller Lagerstätten auf Abbaueignung bis hin zur Beantragung auf Genehmigung entsprechender Produktionsanlagen.

Die eingebrachten Gesetzesanträge würden den Bergbau auf 100 Prozent der Schutzgebiete mit nachhaltiger Nutzung (1), auf 100 Prozent der indigenen Territorien (2) sowie auf 10 Prozent ganzheitlich geschützter Gebiete, wie etwa Nationalparks (3), möglich machen.

Einreicher der Gesetzesanträge:

  1. PL37/2011, Antrag des Abgeordneten Weliton Prado – PT (Arbeiterpartei), der inzwischen zu der 2016 gegründeten PMB (Partei der Brasilianischen Frau) gewechselt ist
  2. PL1610/1996, Antrag des Senators Romero Jucá – PMDB (Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung)
  3. PL3682/2012, Antrag des Abgeordneten Vinícius Gurgel – PR (Partei der Republik)

Der verheerendste dieser drei Gesetzesentwürfe ist zweifelsohne der des Senators Romero Jucá. Der Antrag mit der Nummer PL 1.610 lag 16 Jahre auf Eis, obwohl der Senat ihn bereits befürwortet hatte. 2012 reichte Édio Lopes, Abgeordneter derselben Partei wie Jucá (PMDB), historisch den garimpeiros – Gold- und Diamantenschürfern – eng verbunden, den Antrag auf ein Ersatzgesetz für das oben genannte ein. Dieser neue Entwurf befindet sich nun in einer fortgeschrittenen Verhandlungsphase. Wenn er durchkommt, würde dies – nach einem 20-jährigen Streit um das Gesetz – den Sieg der Bergbauunternehmen über die Interessen der Indigenen bedeuten. Wie wissenschaftliche Erhebungen besagen, würden damit 114 Millionen Hektar Indigenen-Land an Bergbauunternehmen freigegeben, und das ohne jegliche Größen-Einschränkung künftiger Abbaugebiete.

Eine Sonderreportage der Agentur für investigativen und unabhängigen Journalismus Agência Pública zeigt auf, dass bereits für ein Drittel der indigenen Gebiete der Region Amazônia Legal Bergbauvorhaben bei der Nationalen Behörde für Bergbau (DNPM) registriert sind. Die Wunschliste ist lang: Sie reicht vom Ansuchen um die Ausbeutung von Gold- und Bleivorkommen bis hin zum Abbau von Zinn- und Kupfererzen. Jeder zehnte Antrag auf Bergbau betrifft ein indigenes Gebiet, die Hälfte dieser Fälle einer sich bisher ausschließenden Überlappung konzentriert sich auf den Bundesstaat Pará. Und das, obwohl die FUNAI den Prozess zur Anerkennung des Schutzstatus dieser indigenen Gebiete bereits angestoßen hat. All dies beschädigt auch das Ansehen Brasiliens hinsichtlich bereits unterzeichneter internationaler Vereinbarungen, worin das Land sich verpflichtet hat, auf 17 Prozent seines Territoriums ein effektives Netz an Schutzgebieten aufzubauen und das Aussterberisiko bedrohter Tier- und Pflanzenarten bis 2020 zu verringern.

FUNAI: Totalabbau von Personal und Mitteln begünstigt Massaker an Indigenen

Im März 2017 unterzeichnete Temer ein Dekret über 87 Stellenstreichungen bei der FUNAI, die vor allem die Allgemeine Koordinierungsstelle für Lizensierung (CGLIC) und die Lokalen Technischen Koordinierungsstellen (CTLs) betrafen. Dies sind jedoch Abteilungen von strategischer Bedeutung, die geplante Großprojekte auf indigenen Gebieten bewerten, die Lizensierung und die Ausgleichsleistungen überwachen und den Behörden Anfragen übermitteln. Heute verfügt das CGLIC über zehn technische Mitarbeiter/innen, um ca. dreitausend Lizensierungsvorgänge zu bearbeiten: 300 pro Mitarbeiter/in. Damit wird die Arbeit der Koordinierungsstelle für Lizensierung (CGLIC) in der Praxis zu einer Farce.

Bis September 2017 konnte die Indigenen-Schutzbehörde FUNAI gerade einmal 22 Prozent des Jahresbudgets für die Demarkation und Bewachung von Indigenen-Ländereien und den Schutz von Isolierten Völkern auslasten. All diese Faktoren waren ein maßgeblicher Beitrag zu dem international bekannt gewordenen Massaker an isoliert lebenden Indigenen durch illegale garimpeiros (Gold- und Diamantensucher) im Innern des Indigenen-Gebietes Vale do Javari (Amazonas).

Das Institut für Sozioökonomische Studien (Inesc) macht darauf aufmerksam, dass die FUNAI zurzeit mit nur 36 Prozent ihrer Kapazitäten arbeitet. Sie verfügte 2017 über etwa 2.100 Angestellte gegenüber 3.000 im Jahre 2012. Vom Planungsministerium bewilligt sind hingegen fast 6.000 Stellen. Auch die Finanzmittel sind in Mitleidenschaft gezogen: 2016 erhielt die FUNAI 0,018 Prozent des Staatshaushaltes; circa 90 Prozent dieses Geldes sind jedoch Festkosten der Institution wie Gehälter, Infrastruktur- und Mietkosten. Überdies ist der bewilligte Betrag für das laufende Jahr praktisch derselbe wie 2007 – und das bei einer beträchtlichen Inflationsrate.

Sklavenarbeit: Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeit prozessiert erstmalig gegen Bundesregierung

Offenbar reichte es der Temer-Regierung nicht, die Kontrollmechanismen zur Bekämpfung von Sklavenarbeit auszuhebeln, indem sie zu diesem Zweck so starke Mittelkürzungen beim Arbeitsministerium vornahm, dass die Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeit (Ministério Público do Trabalho, MPT) gezwungen war, mit einer öffentlichen Zivilklage gegen die Bundesregierung anzutreten – etwas, das so in der Geschichte Brasiliens noch nie vorgekommen ist. Ihre scheinheiligen Absichten wurden noch deutlicher mit der Veröffentlichung der Richtlinie Nr. 1.129, in der der Begriff „Sklavenarbeit“ bzw. „sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse“ und der Umgang damit neu geregelt wurden.

Auch die Entscheidung über die öffentliche Bekanntmachung der Namen, die auf der Schwarzen Liste überführter Unternehmen erscheinen, liegt nunmehr ausschließlich in den Händen der Regierung selbst. Diese Neuregelung, die erlassen wurde, um die bancada ruralista gnädig zu stimmen und so den Fortgang der zweiten Anklage durch Abgeordnete gegen Temer zu verhindern, hat national und international Protest hervorgerufen. Obwohl die Richterin Rosa Weber des Obersten Gerichtshofes (STF), die Richtlinie durch vorläufigen Beschluss aussetzte und auch die Generalstaatsanwaltschaft (PGR) Kritik äußerte, scheint Temer nicht aufzuhören, seine „Schulden“ bei den ruralistas zu bezahlen – und warum nicht auf Kosten der modernen brasilianischen Sklaven?

Diese Fakten stellen alle historischen Fortschritte im Kampf gegen die Sklavenarbeit in Frage, die Brasilien in den letzten 20 Jahren erreicht hat. Die Spezialeinheit zur vor-Ort-Kontrolle (GEFM) des Ministeriums für Arbeit (MTE - Ministério do Trabalho e Emprego) verfügt heute gerade einmal über vier Teams – vor ca. zwölf Jahren waren es immerhin zehn. Und die Einheit muss in ihrer täglichen Arbeit immer wieder eine qualvolle Auswahl treffen: Von zehn Anzeigen, die sie erhält, kann sie nur eine einzige verfolgen. Im August 2017 musste die Spezialeinheit zum ersten Mal in der 22-jährigen Geschichte ihres Bestehens die Arbeit einstellen: Ihr Budget war aufgebraucht.

Da die Arbeitsgesetzgebung, die alle Werktätigen des Landes betrifft, auch immer mehr der Prekarisierung unterworfen ist, sieht es in diesem Zusammenhang ebenfalls ziemlich düster aus: Denn es stellte sich bei Kontrolle so dar, als hätten neun von zehn der aus Sklavenarbeit Befreiten „ordnungsgemäße“ Leiharbeitsverträge.

Das Jahr 2017 ist das Jahr mit den wenigsten aus Sklavenarbeit Befreiten in den letzten zwanzig Jahren. Bis Juli 2017 konnten nur 110 Einsätze zur Befreiung von Menschen aus sklavereiähnlichen Verhältnissen durchgeführt werden. 2016 waren es insgesamt noch 680, und das war schon wenig genug im Vergleich zu den Vorjahren. In verschiedenen Regionen des Landes können die Kontrollen im ländlichen Raum nicht mehr durchgeführt werden. Es ist nicht einmal mehr Geld da, um Benzin für die Einsatzfahrzeuge zu kaufen, musste die Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeit eingestehen. Heute kann Brasilien nur noch weniger als ein Drittel der Menschen befreien, die anerkanntermaßen in sklavereiähnlichen Verhältnissen leben und arbeiten. Laut Schätzung der NGO WalkFree gab es 2016 in Brasilien 161.000 Menschen in solchen Verhältnissen. Brasilien galt jahrelang als Vorbild im Kampf gegen die moderne Sklaverei. Nun ist es innerhalb der 198 Länder, in denen heute noch sklavereiähnliche Verhältnisse existieren, auf einen traurigen 33. Platz vorgerückt.

Übersetzung aus dem Portugiesischen: Petra Tapia. Der Artikel erschien zuerst auf der Webseite unseres Brasilien-Büros.
Den Umrechnungen in Euro liegt der Wechselkurs vom 2. Februar 2018 zugrunde.