Perspectives Africa 1/2018: Auf der Suche nach Rechtsstaatlichkeit: Agenten des Wandels, Öffnungen und Sackgassen

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Seitdem in den 1990ern die dritte Demokratisierungswelle den afrikanischen Kontinent erfasste, sind in den meisten afrikanischen Staaten Militärdiktaturen und Einparteiensysteme durch demokratischere Regierungsformen ersetzt worden. Laut des Freedom House-Berichts 2018 sind aktuell 61 Prozent der Sub-Sahara-Länder „frei“ oder „teilweise frei“, wenngleich diese Zahl unter dem Höchststand von 71 Prozent im Jahr 2008 liegt.

Mit der Einführung repräsentativer Demokratien, die auf einem Mehrparteienwahlsystem beruhen, wurden den afrikanischen Wählern endlich reaktionsfähige und rechenschaftspflichtige Regierungen in Aussicht gestellt.

In ihrer vergleichenden Studie zu Wahlverfahren vertreten Shaheen Mozaffar und Andreas Schedler (2002) die Meinung, dass „das Markenzeichen der modernen repräsentativen Demokratie aus konkurrenzfähigen Wahlprozessen besteht. Als institutionalisiertes Mittel, bei dem eine große Anzahl von Menschen friedlich an Auswahl und Absetzung von Regierungen beteiligt ist, stellen sie die wichtigste, wenn auch nicht die einzige, Quelle für demokratische Legitimierung dar.“

Dies, so argumentieren sie, beruhe auf zwei Voraussetzungen. Zuerst bedarf es der „institutionellen Sicherheit“ zur Gewährleistung unparteiischer Regelungen und Verfahrensweisen. Objektivität auf der institutionellen Ebene führt zu der zweiten Voraussetzung, zur „substantiven Ungewissheit“ über das ausstehende Ergebnis. Eine mögliche Niederlage hält die Politiker auf Trab und überlässt es der Wählerschaft, über die Machtverhältnisse zu entscheiden.

Die Vorstellung indes, dass die institutionelle Architektur der Mehrparteiendemokratie in Afrika zu verlässlicheren und rechenschaftspflichtigeren Regierungen führen wird, darf bezweifelt werden. In zahlreichen Ländern hat sich institutionelle Sicherheit noch nicht durchgesetzt und Wahlen sind zu einem bedeutungsleeren Ritual verkommen. Wie andernorts auf der Welt hat auch hier der korrumpierende Einfluss des Geldes seinen Tribut gefordert. Und selbst dort, wo sich freie Wahlprinzipien relativ fest etabliert haben, werden sie vermutlich nur wenig bewegen, solange politische Parteien als Stellvertreter für tiefwurzelnde ethnische Differenzen oder als Interessensvertretung mächtiger Individuen fungieren. In Ländern wie Südafrika erscheinen durch den vermeintlichen Mangel an Alternativen zur Regierungspartei Enthaltungen und Zurückhaltung als die sinnvolleren Optionen gegenüber einer Teilnahme an den Wahlen.

Inwiefern können Wahlen unter derartigen Umständen dennoch dazu beitragen, dass Staaten ihre Rechenschaftspflicht anerkennen? Welche weiteren Ansätze zu mehr Rechenschaftspflicht zeichnen sich ab? In dieser Ausgabe von Perspectives sollen die Thematik ausgeleuchtet, Grenzen aufgezeigt und untersucht werden, wie es Staatsakteuren, politischen Parteien und der Zivilgesellschaft gelungen ist, die Regierenden weniger sicher im Sattel ihrer Macht fühlen zu lassen.

Und selbst wenn diese Agenten des Wandels ihre erklärten Ziele nicht immer erreichten, haben sie dennoch wichtige demokratische Errungenschaften verteidigt, politische Chancen erschlossen und Reformen eingeleitet, die zuvor als unvorstellbar galten.

Im November 2017 übernahm ein neuer Führer die Macht in Simbabwe. Obwohl Robert Mugabes Rücktritt nach 37 Jahren weithin begrüßt wurde, war die Übernahme durch seinen früheren Vizepräsidenten nichts weniger als ein Militärputsch. In Anbetracht der Tatsache, dass Emmerson Mnangagwa selbst seit langer Zeit Mitglied des politischen Establishments ist, erscheint sein Wunsch nach sinnvollen politischen Reformen fragwürdig. McDonald Lewanika teilt diese Vorbehalte und kommt dennoch zu dem Schluss, dass „der Putsch einen Riss in der autoritären Mauer hinterlassen hat, der den Menschen Hoffnung gibt, diesen Riss weiten zu können“.

In anderen afrikanischen Staaten hielten die Führer auch 2017 weiterhin an ihren Machtpositionen fest. So erklärte der Oberste Gerichtshof Kenias die Präsidentschaftswahlen vom 8. August wegen Unregelmäßigkeiten für ungültig und ordnete Neuwahlen an. Die darauffolgende Periode war getrübt von politischen Verfassungsverstößen, Gewalt und dem Boykott des wichtigsten Oppositionsführers, Raila Odinga, der die Glaubwürdigkeit des 98-prozentigen Sieges von Präsident Uhuru Kenyatta im Oktober untergrub. Der Verfassungsexperte Yash Ghai legt dar, inwieweit diese Episode sowohl die Stärken als auch die Schwächen der Justiz bei der Konsolidierung der Regierungsgrundsätze und der politischen Rechenschaftspflicht deutlich macht.

Im benachbarten Uganda wurde Yoweri Museveni, der seit 1986 an der Macht ist, nach von Gewalt und Einschüchterung geprägten Urnengängen 2016 wiedergewählt. In ihrem Beitrag beschreibt Lydia Namubiru, wie es einzelnen Aktivisten, darunter die Akademikerin Stella Nyanzi und der Musiker Bobi Wine, gelang, trotz der allgemein üblichen Unterdrückung abweichender Meinungen, die herrschenden Machtverhältnisse sowohl in der Wahlkabine als auch außerhalb anzufechten. Sie kommt zu dem Schluss, dass die kommende Herausforderung darin bestehe, das Potenzial einzelner Aktivisten in wirkungsvolle politische Bewegungen zu übersetzen.

Die Präsidentschaft Jacob Zumas in Südafrika stellte für die  junge Demokratie die bislang schwerste Prüfung dar. Trotz der endlosen Korruptionsskandale, die dem Ansehen der demokratischen Institutionen, und somit auch dem Vertrauen der Öffentlichkeit in sie erheblich geschadet haben, hielt das Fundament und ging womöglich sogar gestärkt daraus hervor. Dies ist nicht zuletzt der Verdienst einzelner mutiger Mitarbeiter des Staatsapparats.

Die Filmemacherin Shameela Seedat, schuf mit ihrem Film „Whispering Truth to Power“ ein eindrucksvolles Porträt Thuli Madonselas, die in ihrer einzigartigen Position als staatliche Ombudsfrau Südafrikas während der Zuma-Ära unbeirrt Korruption und Machtmissbrauch in der Verwaltung aufdeckte. Der Wettbewerb bei den Kommunalwahlen 2016 nahm daraufhin ebenfalls deutlich an Fahrt auf, wobei die Opposition, angeführt von der Democratic Alliance (DA) und den Economic Freedom Fighters in den Metropolen vorn lag und dem regierenden African National Congress (ANC) die Vormachtstellung entriss. Es lässt sich nur schwer leugnen, dass die internen Machtkämpfe innerhalb des ANC nicht durch die Wahlergebnisse 2016 beeinflusst waren. Sithembile Mbete untersucht, ob der sich schwungvolle Auftakt der Opposition gegen einen wiederbelebten ANC unter Präsident Cyril Ramaphosa fortsetzt und ob der Machtwechsel Anzeichen für ein empfänglicheres und verantwortungsvolleres Verwaltungssystem erkennen lässt.

Unser Interview mit Patrick O. Okigbo III, einem politischen Aktivisten aus Nigeria, belegt, dass Oppositionspolitik auch in eine Sackgasse führen kann. Osita Chidoka bestritt 2017 eine belebte, von der Bevölkerung mitbestimmte Kampagne um den Gouverneursposten von Anambra, doch sein Ergebnis war alles andere als ermutigend. Selbst wenn die Wahlen von 2015 angeblich die demokratische Konsolidierung Nigerias versprachen, schließt die hochgefährliche Mischung aus Wahlmüdigkeit, Identitätspolitik und Geld eine „substantive Ungewissheit“ für die Wähler aus und unterminiert die „institutionelle Sicherheit“ von Wahlen, wodurch sich Fragen in Bezug auf die bitternötigen Reformen zur Stärkung der Glaubwürdigkeit auftun.

Einen Hoffnungsschimmer, dass Veränderung auch unter schwierigsten Bedingungen möglich ist, liefern die politischen Ereignisse in Gambia. Nach mehr als zwei Jahrzehnten autoritärer Herrschaft unter Präsident Yahya Jammeh ist den Volks- und Oppositionsparteien mit Hilfe der Diaspora und des regionalen ECOWAS-Gremiums der Sprung in eine neue Ära gelungen, indem Adama Barrow, der Kandidat der Opposition, im Januar 2017 zum neuen Präsident nominiert wurde. Sheriff Bojang Jr. zeigt auf, wie es dazu kommen konnte und reflektiert über die demokratischen Errungenschaften ein Jahr danach als auch über die bevorstehenden Herausforderungen.

In einer Zeit, in der Demokratien weltweit der stärkste Gegenwind seit dem Ende des Kalten Krieges entgegenbläst, hoffen wir, dass die hier zusammengetragenen Artikel denjenigen Anregungen bieten, die sich für demokratische Ideale wie unabhängige und faire Wahlen, freie Meinungsäußerung, Rechtsstaatlichkeit und politische Rechenschaftspflicht einsetzen.

 

Produktdetails
Veröffentlichungsdatum
Mai 2018
Herausgegeben von
Heinrich-Böll-Stiftung
Seitenzahl
44
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
  • Editorial
  • Zimbabwe After the Coup: Prospects for Real Political Change - McDonald Lewanika
  • Interview: Kenya’s Judiciary: Agent of Justice under Difficult Circumstances - Yash Ghai
  • Uganda: Political Organising in a De-facto One-Party State - Lydia Namubiru
  • Moving On Up!? Opposition Parties and Political Change in South Africa - Sithembile Mbete
  • Advocate Thuli Madonsela: Whispering Truth to Power - Shameela Seedat
  • Interview: Breathe, for the Battle Will Be Long: Changing Nigeria’s Body Politic - Patrick O. Okigbo III
  • Interview: The Gambia: One Year After Jammeh, What Has Changed? - Sheriff Bojang Jr
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