Den Tod in Kauf nehmen

Das absolute Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen in El Salvador rettet keine Leben. Im Gegenteil. Es ist eine Menschenrechtsverletzung vor allem an armen Frauen. 

Rebecas Baby hatte keine Überlebenschance. Sie wollte ihm Leid ersparen und hat deshalb abgetrieben. Dafür drohen ihr in El Salvador bis zu zwölf Jahre Gefängnis.
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Rebecas Baby hatte keine Überlebenschance. Sie wollte ihm Leid ersparen und hat deshalb abgetrieben. Dafür drohen ihr in El Salvador bis zu zwölf Jahre Gefängnis.

Seit 1998 hat das kleine mittelamerikanische Land El Salvador eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der Welt. Dieses kriminalisiert vor allem Frauen aus ärmeren Verhältnissen, weil sie kaum über Möglichkeiten verfügen, das Verbot zu umgehen. Alle Versuche, das Gesetz zu lockern, schlugen bisher fehl. Doch der politische Druck aus der Zivilgesellschaft hält weiterhin an.[1]

Claudia Veracruz Zúniga war 34 Jahre alt, als sie aus dem Leben schied. Sie starb wenige Tage, nachdem sie ihren vierten Sohn zur Welt gebracht hatte. Es war eine Frühgeburt, das Baby überlebte nicht. Claudia hinterließ drei Halbwaisen, einen Witwer, eine Schwester, einen Vater, eine Mutter und eine ganze Gemeinde, die ihren Tod betrauerte.

Während der ersten drei Monate ihrer vierten Schwangerschaft hatten Ärzte bei ihr eine Herzkrankheit diagnostiziert. Sie wurde in der Nationalen Geburtsklinik behandelt, dem öffentlichen Krankenhaus, das auf die Betreuung von Schwangerschaften sowie die Durchführung und Nachbetreuung von Geburten spezialisiert ist. Der Geburtshelfer empfahl Claudia einen schnellstmöglichen Schwangerschaftsabbruch. Ohne Abtreibung würde sie das Ende ihrer Schwangerschaft nicht erleben. Sie und ihre Familie nahmen die Empfehlung an. Doch die Zuständigen in der Entbindungsklinik schickten sie in ein anderes Krankenhaus, wo ihr ein Kardiologe versicherte, sie könne die 26. Schwangerschaftswoche erreichen, in der eine Geburt eingeleitet werden könne. Weder Claudia noch ihr Sohn überlebten.

Abtreibung steht in allen Fällen unter Strafe

Diese Geschichte ereignete sich in San Salvador, der Hauptstadt El Salvadors, einem der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen. Das Risiko besteht nicht nur in der hohen Rate von Femiziden, die 2017 bei 8,9 Morden pro 100.000 Frauen lag. El Salvador gehört auch zu der kleinen Gruppe von Staaten, die jegliche Form von Schwangerschaftsabbrüchen unter Strafe stellen. Seit 1998 ist es ein Verbrechen, eine Abtreibung durchzuführen, selbst dann, wenn die Frau Opfer einer Vergewaltigung wurde oder ihr Leben in Gefahr ist. Artikel 133 des Strafgesetzbuches sieht dafür Gefängnisstrafen zwischen acht und zwölf Jahren vor.

Auf internationaler Ebene ist die Bewegung „Freiheit für die 17“ hinreichend bekannt. Die Initiative unterstützt Frauen, die aufgrund vermeintlicher Schwangerschaftsabbrüche verhaftet, des Mordes bezichtigt und zu bis zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Die Mehrheit der Frauen stammt aus armen Verhältnissen und versichert, Fehlgeburten erlitten zu haben.

Das Abtreibungsverbot hat El Salvador international viel Kritik eingebracht. Die Vereinten Nationen verglichen es mit Folter. Doch konservative Sektoren wie die Kirchen, einige Ärzteverbände und private Unternehmen sind in El Salvador sehr stark und üben direkten Einfluss auf Wahlen aus. Sich für eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen einzusetzen kann eine Partei Wähler*innenstimmen kosten. Vor allem rechte Parteien machen mit dem Thema Wahlkampf, der Staat stellt sich gegenüber den Forderungen internationaler Organisationen taub.

Für die fromme Christin Claudia Veracruz war es ein schwerer Schritt, sich für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Sie wollte für ihre anderen Kinder weiterleben. Ihr Wunsch wurde ihr verwehrt. Ihr Tod wurde zu einem Beispiel dafür, was sich hinter den Statistiken über Müttersterblichkeit verbirgt. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet diese den Tod einer Frau während der Schwangerschaft oder 42 Tage nach Schwangerschaftsende, wenn dafür Faktoren verantwortlich sind, die direkt oder indirekt auf die Schwangerschaft zurückzuführen sind. Dazu zählen also auch vorherige Krankheiten, die sich durch die Schwangerschaft verschlimmern. Die Müttersterblichkeitsrate in El Salvador lag 2016 bei 27 von 100.000 Geburten.

 

Claudia Veracruz musste sterben, weil sie trotz der Gefahr für ihr Leben nicht abtreiben durfte.

Sinnlose Todesfälle

Eine der Ursachen dieser Todesfälle waren sogenannte extrauterine Schwangerschaften, bei denen sich das befruchtete Ei außerhalb der Gebärmutter eingenistet hat. Eine Entwicklung vom Embryo zum Fötus ist dabei unmöglich. Ohne rechtzeitigen Schwangerschaftsabbruch ist das Risiko, dass die Frau stirbt, hoch. Um eine solche Schwangerschaft festzustellen, reicht eine frühzeitige Ultraschalluntersuchung aus. Dennoch starben deswegen zwischen 2006 und 2016 insgesamt 18 Frauen in El Salvador.

173 Frauen kamen im selben Zeitraum durch indirekte Ursachen ums Leben. Wir wissen nicht, ob jede dieser Frauen überlebt hätte, wenn sie hätte abtreiben können. Aber wir wissen, dass diese Möglichkeit vielen von ihnen verwehrt wurde, darunter Claudia Veracruz.

Ein anderes Beispiel ist der Fall Beatriz. Die Frau stammte aus einfachen Verhältnissen und litt an der Autoimmunkrankheit Lupus erythematodes. Während einer Schwangerschaft im Jahr 2013 bildete sich bei ihrem Fötus eine Fehlbildung ohne Überlebenschance. Aufgrund ihres sich verschlechternden Gesundheitszustands versuchte Beatriz bei der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs eine Ausnahmeregelung zu erwirken, um legal abtreiben zu dürfen. Das Gericht lehnte ab. Sie überlebte, weil ein Arzt, Beatriz' Schwangerschaft in der 26. Woche per Kaiserschnitt beendete.

Wie beim Russisch Roulette hatte der Staat alles auf eine Option gesetzt und gewonnen. Doch andere hatten weniger Glück. Fünf Frauen kamen zwischen 2006 und 2016 aufgrund derselben Erkrankung ums Leben, 19 erlagen einem Herzleiden. Zehn weitere Frauen starben während ihrer Schwangerschaft an Krebs und fünf an Niereninsuffizienz.

Für Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, steht viel auf dem Spiel. Das Gesetz sieht für sie Gefängnisstrafen und Berufsverbote vor. Einige drängen daher auf eine Reform, da die geltende Rechtslage sie daran hindert, ihrer ethischen Verpflichtung nachzukommen. Frauen, die an Krankheiten wie Krebs oder einer Niereninsuffizienz leiden, wird nicht nur ein Schwangerschaftsabbruch, sondern auch die Behandlung mittels Chemotherapie oder Dialyse verwehrt. Darauf hat der ehemalige Leiter der Perinatologie der Nationalen Geburtsklinik, Guillermo Ortíz, wiederholt hingewiesen.

Andere Ärzt*innen lehnen hingegen jegliche Gesetzesänderung ab. Einige Gewerkschaften und Organisationen wie die Ärztekammer El Salvadors argumentieren, dass es in der aktuellen medizinischen Praxis keinen Fall gebe, in denen menschliches Leben bewusst beendet werden müsse, um das Leben der Mutter zu retten. Ein Arzt müsse alle Erdenkliche tun, um die Leben beider zu retten, niemals dürfe er den Tod einer der beiden herbeiführen. Wie die Daten belegen, gibt es jedoch sehr wohl Situationen, in denen das Leben der Mutter hätte gerettet werden können, wenn ihr ein Schwangerschaftsbruch ermöglicht worden wäre.

Als Teil der journalistischen Recherche haben wir drei der höchsten Funktionär*innen der Entbindungsklinik – die Generaldirektorin, die Leiterin der Geburtshilfe und die Koordinatorin des Komitees für Müttersterblichkeit – mit Fällen wie jenem von Claudia Veracruz konfrontiert. Die Generaldirektorin erklärte unmissverständlich, dass sich die Institution strikt an die Gesetze hielte und daher keine Schwangerschaftsabbrüche durchführe. „Wir verbessern die Bedingungen der Mutter und des Babys“. In Bezug auf Claudia verteidigten sie ihre Entscheidung, ihr eine Abtreibung zu verweigern. Ob mit oder ohne Schwangerschaft sei die einzige Möglichkeit, ihr zu helfen, eine Herztransplantation gewesen. „Wir hätten ihr mit keinem unserer Verfahren mehr helfen können.“

Ein Gesetz, das die Armen verfolgt

Das Gesundheitsministerium in El Salvador schätzt, dass im Land zwischen 2005 und 2008 circa 20.000 Abtreibungen vorgenommen wurden. Da diese im Verborgenen stattfinden, gibt es keine verlässlichen Zahlen. Dem Verbot zum Trotz suchen und finden Frauen Möglichkeiten. Einen sicheren Schwangerschaftsabbruch können sich jedoch nur Frauen mit ausreichend finanziellen Mitteln oder den entsprechenden Kontakten leisten. Die übrigen riskieren ihr Leben oder eine Gefängnisstrafe, wenn sie die öffentlichen Gesundheitsstellen aufgrund von Notfällen während der Geburt aufsuchen.

Dennoch gelingt es Frauen immer wieder, abzutreiben, ohne rechtlich belangt zu werden oder ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Die 38-jährige Akademikerin Adela zum Beispiel wurde mit 32 Jahren schwanger. Zu diesem Zeitpunkt machte sie einen Master in einem Land, wo Schwangerschaftsabbrüche zu den öffentlichen Gesundheitsdienstleitungen zählen. Kurz vor der zwölften Schwangerschaftswoche entschied sie sich dazu, weil der Fötus eine Fehlbildung entwickelt hatte, die das Leben beider in Gefahr brachte. Sie hatte zunächst einige Behandlungen ausprobiert, bis sich ihr Gesundheitszustand so weit verschlechterte, dass sie beschloss, ihr Leben nicht zu gefährden.

Bei Rebeca lief es etwas anders ab. Als sie im fünften Monat war, erfuhren sie und ihr Mann, dass der Fötus aufgrund einer genetischen Fehlbildung nicht lebensfähig sein würde. „Ich fühlte, dass das Baby leidet und nicht glücklich war. Für was?“ Mit Hilfe einer Gynäkologin konnte sie in einer privaten Klinik in El Salvador unbemerkt abtreiben.

Sara hingegen war nicht mit der Person zusammen, der sie zutraute, ein Kind großzuziehen. Als sie ihre Schwangerschaft beendete, war sie 19 Jahre alt. Sie hatte die finanziellen Mittel und die Hilfe einer engen Freundin, die wusste, wo sie den Arzneistoff Misoprostol bekommen könnte und wie er anzuwenden sei, um eine frühe Schwangerschaft zu beenden. Sie nahm das Medikament bei sich zu Hause im Kreis einiger Freundinnen ein. Dadurch konnte sie bei ihren Plänen bleiben, in ein anderes Land zu ziehen und ein neues Leben zu beginnen. Heute ist sie 36 Jahre alt, praktizierende Katholikin, verheiratet und Mutter einer Tochter.

Die drei Frauen haben aus unterschiedlichen Gründen abgetrieben, doch es eint sie die Überzeugung, das richtige getan zu haben. Keine von ihnen sieht sich selbst als kriminell an. Aber sehr wohl sind sie sich des Privilegs bewusst, aufgrund ihrer finanziellen und sozialen Lage eine sichere Abtreibung durchführen zu können. Abtreibungen in El Salvador sind auch ein Indikator für soziale Ungleichheit.

Schwangerschaftsabbrüche bleiben illegal

El Salvador hat internationale Menschenrechts- und Frauenrechtsabkommen unterzeichnet. Dazu zählt das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), das El Salvador 1981 ratifiziert hat.

Seit 2013, als der Fall Beatriz dank der Arbeit vieler Frauenorganisationen auf internationaler Ebene beachtet wurde, ergingen zahlreiche Aufrufe an das Land, die Gesetzgebung zu reformieren. 2014 wies die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) darauf hin, dass Abtreibungen aus medizinischen Gründen – wenn das Leben der Frau in Gefahr ist –, aus ethischen Gründen – nach einer Vergewaltigung – und wenn das Baby nicht lebensfähig ist, wieder erlaubt werden könnten. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) erkannte im Oktober 2017 an, dass das Abtreibungsverbot in Fällen von Vergewaltigung und Gefahr für das Leben der Mütter die Rechte von Frauen verletze.

Im November 2016 lag im salvadorianischen Parlament ein Vorschlag zur Änderung des Gesetzes vor. Eingereicht hatte ihn die Abgeordnete Lorena Peña von der linken Regierungspartei FMLN. Darin schlug sie vor, Schwangerschaftsabbrüche in vier Fällen zu gestatten: Wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, ein Mädchen von erst 14 oder noch weniger Jahren schwanger ist, der Fötus nicht lebensfähig ist und bei Schwangerschaften in Folge einer Vergewaltigung. Der Abgeordnete Johnny Wright von der rechten Partei ARENA reichte im August 2017 einen Gegenvorschlag ein, der eine Entkriminalisierung nur in den ersten zwei Fällen erlauben sollte. Daraufhin wurde er aus den eigenen Reihen scharf kritisiert und verließ die Partei.

Bis Ende 2017 konnte die Reform des Strafgesetzbuches auf 41 von 43 notwendigen Stimmen zählen. Sogar einige Abgeordnete von rechten Parteien waren bereit, für eine Entkriminalisierung zu stimmen. Doch gleichzeitig wurden aus dem Parlament heraus auch Stimmen laut, die sich nicht nur gegen eine Gesetzesreform aussprachen, sondern forderten, die Strafe für eine Abtreibung auf 50 Jahre Gefängnis zu erhöhen. Am 30. April dieses Jahres endete die Legislaturperiode, ohne dass irgendeiner der Vorschläge verabschiedet wurde.

20 Jahre nach der Reform von 1998 verhindert das Gesetz nach wie vor, dass eine Frau selbst über ihren Körper entscheiden kann, ohne Angst vor rechtlichen oder gesundheitlichen Folgen haben zu müssen. Die Aussichten, dass es mit dem neuen, nach rechts gerückten Parlament irgendeine Verbesserung der reproduktiven Rechte der Frauen in El Salvador geben wird, sind nicht sehr ermutigend. Doch der Weg, der sich mit der Kampagne „Freiheit für die 17“ vor fünf Jahren aufgetan hat, ist weiterhin offen. Frauenrechtsorganisationen arbeiten unermüdlich weiter, der internationale Druck hat nicht nachgelassen und die Stimmen der betroffenen Frauen und ihrer Familien werden immer stärker. Der Einsatz für ihre Menschenrechte geht weiter.

Aus dem Spanischen von Tobias Lambert. 

Dieser Betrag entstand in Zusammenarbeit mit dem Nord-Süd-Magazin Südlink und ist parallel erschienen im Südlink 184 - Einsatz für die Menschenrechte, Herausgeber: INKOTA-netzwerk

Das INKOTA-netzwerk unterstützt seit vier Jahren die Kampagne „Freiheit für die 17“ und die neue Kampagne „Freiheit für die 17 plus“ von Deutschland aus. Bitte beachten Sie auch den Spendenaufruf für die Kampagne Freiheit für die 17 plus.


[1] Dieser Artikel basiert auf der journalistischen Recherche, die ich gemeinsam mit Malú Nochez und Víctor Peña durchgeführt habe und die in der salvadorianischen Internetzeitung elfaro.net erschienen ist. 

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers Geschlechterdemokratie in Lateinamerika