Ein soziales Europa - Ein Europa für alle?

Bericht

Ein Bericht der Fachgruppe Europäische Sozialpolitik, der im Rahmen der internationalen Fachkon-ferenz „Europa im Aufbruch? Ideen für eine progressive Politik!“ der Heinrich-Böll-Stiftung am 18. Mai 2018 entstand

Zusammenfassung:

Mit der Schaffung der europäischen Säule sozialer Rechte im November 2017 und der Forderung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dass Europa seine „Bürger/innen schützen müsse“ („une Europe qui protège) sind die Diskussionen über ein „soziales Europa“ nach einer lan-gen Phase der Stagnation wieder in Gang gekommen. Dennoch gibt es einige Herausforderungen, die der Entwicklung eines europäischen Sozialsystems im Wege stehen. Historisch betrachtet, war die Integration der EU auf die Wirtschaft ausgerichtet. Die Sozialpolitik wurde dabei auf der nationalen Ebene belassen. Das führte dazu, dass sich die EU den Kräften der Marktliberalisierung hinge-geben hat, so dass es bei Akteur/innen wie beispielsweise den Gewerkschaften einen immer größeren Widerstand dagegen gibt, die EU mit weiteren Kompetenzen auszustatten. Darüber hinaus zeigen auch die meisten Parteien, die gegenwärtig in den Mitgliedstaaten der EU und auf EU-Ebene regieren, kaum Interesse an einem „sozialen Europa“. Stattdessen verfolgen die konservativen und populistischen Kräfte das Ziel, Kompetenzen der EU wieder auf die nationale Ebene zurückzuholen. Das wiederum stellt die EU vor eine doppelte Herausforderung: Einerseits das unter Druck geratene Solidaritätsprinzip zu verteidigen und andererseits dafür zu sorgen, dass wirtschaftlicher Fortschritt mit sozialem Fortschritt einhergeht. Langfristig sollte die EU daher zweigleisig verfahren: Zum einen nationale Besonderheiten respektieren und gleichzeitig die Anstrengungen für eine Erweiterung der Kompetenzen auf EU-Ebene erhöhen. Benötigt wird ein Paradigmenwechsel hin zu einer EU, die ihre Bürger/innen angesichts einer globalisierten Wirtschaft schützt und stärkt, um die Zukunft des europäischen Projekts zu gewährleisten.


Mit dem französischen Präsidenten Macron, der „ein Europa, das seine Bürger schützt“ („une Europe qui protège“) in den Mittelpunkt gerückt hat, sind die Diskussionen über das Fehlen einer Sozialpo-litik auf EU-Ebene und dessen politische Auswirkungen auf die politische Agenda Europas zurückgekehrt. Auf dem Gipfel in Göteborg im November 2017 hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die europäische Säule sozialer Rechte proklamiert[1] - ein erstes Anzeichen dafür, dass sich eine europäische Sozialpolitik mit neuer Kraft entwickeln könnte. Dennoch gibt es eine Reihe von Hindernissen, die einer wahrhaft integrierten Sozialpolitik auf EU-Ebene im Wege stehen, damit letztlich ein stärkeres und gerechteres Europa in der Zukunft entstehen kann.

Das soziale Europa: Ein komplexes Vorhaben

Beim Aufbau eines „sozialen Europas“ hat es in der Vergangenheit eine Reihe von Schwierigkeiten gegeben. Zunächst einmal bezieht sich dieser Überbegriff auf eine ganze Reihe von politischen Bereichen: Sozial- und arbeitsrechtliche Bestimmungen, Gesundheitswesen, Bildungs- und Ausbildungspolitik, Mindestlöhne und Arbeitsstandards, sozialer Dialog und gleicher Lohn etc.[2] Zum Zweiten handelt es sich beim Thema Sozialpolitik um ein vielschichtiges Gebilde, weil diese eng mit Wirtschafts-, Kohäsions- und Strukturpolitik verflochten ist. Schließlich stellt die Vielfalt der Sozialmodelle in den EU-Mitgliedsstaaten eine Herausforderung dar, denn ein europäisches Sozialmodell sollte keine Einheitslösung für alle sein, sondern in einem Harmonisierungsprozess von unten nach oben entwickelt werden. Die Schaffung einer umfassenden und konsequenten Sozialpolitik auf EU-Ebene ist daher ein komplexes Vorhaben.

Darüber hinaus gibt es von Seiten der Mitgliedstaaten und anderer betroffener Akteur/innen Widerstände gegen die Schaffung einer gemeinsamen Sozialpolitik auf EU-Ebene. Grund dafür ist, dass der Sozialstaat ein zentraler Bestandteil des Nationalstaats ist und eng mit der nationalen Identität und Staatsbürgerschaft verbunden ist. Tatsächlich ist die Solidarität der Bürger/innen untereinander eine notwendige Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit von Sozialpolitik. Unter den Europäer/innen hat sich dieses Zusammengehörigkeitsgefühl bzw. eine europäische Identität bislang jedoch (noch) nicht in ausreichendem Maß gebildet. Von Einigen wird daher argumentiert, dass für die Schaffung eines „sozialen Europas“ eine europäische Öffentlichkeit und eine gemeinsame europäische Staatsbürgerschaft vorhanden sein müssten, um eine derartige Politik überhaupt erfolgreich umsetzen zu können.

Andere vertreten die Auffassung, dass es vor allem am politischen Willen mangelt, ein sozialeres Europa zu schaffen. Die Idee, ein soziales Europa zu entwickeln, ist tatsächlich nicht neu. Jedoch wurde dieses Anliegen seit den Versuchen von Jacques Delors in den 1990ern bis Jean-Claude Juncker von keinem Entscheidungsträger auf EU-Ebene mehr aufgegriffen. Auch trauen es einige Akteur/innen der EU nicht zu, soziale Standards zu schützen, da sie sich in der Vergangenheit den freien Kräften des Marktes überlassen hat und nach wie vor in erster Linie auf Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum setzt. Die Wahrnehmung, dass EU-Institutionen Teil eine Abwärtsspirale in Gang halten, ist einer der Gründe dafür, weshalb manche Akteur/innen nicht unbedingt eine Harmonisierung der Sozialpolitik auf EU-Ebene befürworten.

Der Status quo in Europa: Mehr wirtschaftlich als sozial orientiert

Historisch betrachtet ist die EU durch die Integration von nationalen Märkten entstanden. Das euro-päische Vertragsrecht war daher immer stark auf die Schaffung eines Binnenmarktes ausgerichtet und weniger auf die Bildung einer „Sozialunion“. Wirtschaftlicher Fortschritt sollte dann sozialen Fortschritt ermöglichen. Daher sind die Kompetenzen der EU im Bereich Sozial- und Arbeitsrecht eher schwach ausgeprägt; ihr Schwerpunkt liegt eher auf Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum.

Dennoch verfolgte die europäische Sozialpolitik in der Vergangenheit vor allem zwei Ziele: Zum einen, die Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Territorien durch ein Bündel von regionalpolitischen Maßnahmen zu reduzieren. Zum anderen, die unterschiedlichen sozialpolitischen Ansätze in den einzelnen Mitgliedstaaten einander anzugleichen, mit dem Ziel, die Funktionsweise des Binnenmarktes zu verbessern. Darüber hinaus stand und steht nach wie vor die Mobilität der Beschäftigten im Mittelpunkt, also die Freizügigkeit innerhalb des Binnenmarktes, aber auch die Investitionen in die Kompetenzen und die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen.

Allerdings haben die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die auf EU-Ebene seit der Finanzkrise und der darauf folgenden Eurokrise durchgesetzt wurden, in vielen Ländern zu sozialen Verwerfungen geführt. Das zeigt sich an der Zunahme von Ungleichheit, Erwerbstätigenarmut, einem wachsenden Prekariat und der steigenden Arbeitslosigkeit. Überdies wirkt sich die Freizügigkeit auf bestimmte Regionen auch negativ aus, indem sie die Entvölkerung in diesen Regionen beschleunigt hat (z.B. in Polen, der Slowakei und Bulgarien). Dies führt zu strukturellen Problemen, aber auch dazu, dass gering qualifizierte Menschen mit wenig Geld „abgehängt“ werden, was wiederum bei Teilen der Bevölkerung die Zustimmung zur EU untergräbt, weil sie durch eine derartige Politik benachteiligt werden.

Eine künftige europäische Sozialpolitik darf Sozialpolitik nicht als „Puffer“ betrachten, der dann ein-gesetzt wird, wenn wirtschaftlicher Wohlstand ausbleibt. Stattdessen sollte sie ein Instrument sein, mit dessen Hilfe wir unsere Gesellschaften kohärenter und fairer gestalten können. Diese Änderung der Ausrichtung verlangt nach einer neuen Rolle der Sozialpolitik. Mit der Bekanntmachung der europäischen Säule sozialer Rechte könnte der Schwerpunkt nun auf ein Europa gelegt werden, das seine Bürger/innen schützt, ihnen Möglichkeiten eröffnet und sie stärkt.

Allerdings gab es die übereinstimmende Auffassung, dass sich diese hochgesteckten Erwartungen nicht in den derzeitigen Kompetenzen der EU widerspiegeln: Die meisten Initiativen, die sich an Menschen außerhalb des aktiven Arbeitsmarktes richten, sind rechtlich nicht bindende, weiche Maßnahmen. Gegenwärtig sind die Initiativen zwar ehrgeizig, die zur Verfügung stehenden Instrumente für eine effektive Umsetzung sind jedoch zu schwach. Daher müssen sich die Mitgliedstaaten nun auf konkrete Schritte einigen, um die Europäische Union zu einer Institution zu machen, die soziale Rechte garantiert.

Ein schwieriges, aber notwendiges Projekt für die Zukunft

Grundsätzlich waren sich alle Teilnehmenden der Fachgruppe darüber einig, dass ein starker sozial-politischer Fokus die Voraussetzung für den Umgang mit zukünftigen Herausforderungen in der EU darstellt. Angesichts der hohen Geschwindigkeit, mit der sich Arbeitsmärkte und Gesellschaften auf grund von technologischem Wandel, Segmentierung und Globalisierung verändern,[3] ist ein sozialeres Europa unerlässlich, um das Missverhältnis zwischen integrierten Binnenmärkten auf EU-Ebene und sozialpolitischen Systemen auf nationaler Ebene auszugleichen. Dieses Ungleichgewicht verhin-dert derzeit eine angemessene Reaktion auf die Herausforderungen, die durch eine globalisierte und hochgradig wettbewerbsorientierte Wirtschaft entstehen.

Aber auch das Solidaritätsprinzip selbst hat an Attraktivität verloren. Nach Auffassung eines Experten aus der Gruppe ist es, „schwierig geworden, der Öffentlichkeit zu erklären, warum Steuern erhoben werden müssen, damit andere Menschen dieselbe Bildung bekommen wie das eigene Kind.“ Die EU steht also vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits das unter Druck geratene Solidaritätsprinzip zu bewahren und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass wirtschaftlicher Fortschritt mit sozialem Fortschritt einhergeht. Tatsächlich geht aus dem Vertrag von Lissabon eindeutig hervor, dass die EU trotz ihrer Marktorientierung Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verbinden hat. Er bekräftigt das Bekenntnis der EU zu sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit.[4]

Es wurden zahlreiche Vorschläge zur Zukunft einer europäischen Sozialpolitik vorgebracht. Ein früherer Kommissar vertrat die Auffassung, die EU solle „Solidarität, zwischenstaatliche Konvergenz und die Emanzipation aller Bürger/innen“ ermöglichen. Die zwei Hauptfunktionen des Sozialstaats - Schutz und Investitionen - sollten sich gegenseitig verstärken und sich nicht als widersprüchlich begreifen. Nach Einschätzung eines deutschen Gewerkschaftsvertreters sollte eine europäische Sozialpolitik vor allem ordnungspolitisch angelegt sein, weil sozialpolitisches Handeln auf der nationalen Ebene angesiedelt ist. Das könnte ein besseres Zusammenspiel zwischen der nationalen Ebene und der EU ermöglichen und eine vollständige Harmonisierung von oben vermeiden.

Von anderen Teilnehmenden wurde betont, dass die EU vereint hinter einer sozialpolitischen Gesamtkonzeption stehen müsse, die sich sowohl über Institutionen als auch über Politikfelder hinweg erstrecken sollte. Die in Bezug auf ein „soziales Europa“ vorhandenen Ansätze und Visionen werden nicht von allen Institutionen der EU gleichermaßen geteilt und widersprechen sich zum Teil sogar. Damit eine Agenda für ein „soziales Europa“ erfolgreich sein kann, bedarf es der breiten Unterstützung aller Bereiche. Und es muss sichergestellt sein, dass die Generaldirektion Beschäftigung der Europäischen Kommission ein starkes Mandat zur Umsetzung ihrer Politik erhält.

Der Weg nach vorne: Strategien und Empfehlungen

Langfristig sollte die EU auf dem Weg zu einer europäischen Sozialpolitik zweigleisig vorgehen: Ei-nerseits gilt es, nationale Besonderheiten zu respektieren. Gleichzeitig müssen die Anstrengungen zur Erweiterung der Kompetenzen der EU erhöht werden. Zunächst und vor allem sollte in einem bottom-up-Prozess Konvergenz zwischen sozialen Schichten und Ländern hergestellt werden. Mit dieser über die nächsten Jahre zunehmenden Konvergenz zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten ließe sich eine Transferunion leichter realisieren. Aufgrund der gegenwärtigen institutionellen Struktur der EU ist es allerdings schwierig, Kompromisse für eine Harmonisierung von extrem diver-genten sozialpolitischen Systemen, wie z.B. denjenigen von Bulgarien und Schweden, zu finden.
In den Diskussionen wurden vier Ansätze genannt, wie ein „soziales Europa“ geschaffen werden könnte:

  • Erstens wurde die Idee geäußert, eine „Europäische Sozialunion“ als Ergänzung zur Wirtschaftsunion zu schaffen. Selbst als rein symbolischer Schritt könnte eine solche Reform das klare Bekenntnis der EU zur Sozialpolitik unterstreichen.
  • Zweitens sollte sich die EU auf die Bereiche konzentrieren, für die sie exklusiv zuständig ist, wie etwa Handel und Wettbewerb, um dort politische Strukturen zum Schutz der Menschen zu entwickeln.
  • Drittens könnte die EU in neue Branchen vordringen, in denen es die Mitgliedstaaten bis heute versäumt haben, ihre Beschäftigten zu schützen, wie z.B. in der digitalen Wirtschaft. Die EU sollte sich beteiligen, die Diskussion über die Zukunft der Arbeit gestalten und dazu beitragen, dass neue Ausbildungsmöglichkeiten und Kompetenzen entwickelt werden.

Schließlich muss den Asymmetrien, die in der Eurozone entstanden sind, mit kohärenten Umverteilungsmechanismen begegnet werden, und zwar nicht nur zu sozialpolitischen Zwecken, sondern auch, um den langfristigen Erfolg der Eurozone sicherzustellen (siehe Bericht der Fachgruppe „Zukunft der Eurozone“).

Die EU könnte also kurzfristig mit der Umsetzung von konkreten und praktikablen Maßnahmen be-ginnen, wie z.B. Richtlinien zur Reduzierung der Arbeitszeit, zum Recht auf Bildung und dem Recht auf Nichtverfügbarkeit. Darüber hinaus sollte sich die Kommission Initiativen wie einer europäischen Arbeitslosenversicherung[5] oder einem europäischen Kindergeldmodell widmen. Eine andere Möglichkeit wäre, die Struktur- und Kohäsionsfonds im Rahmen des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) an weitere Konditionalitäten zu binden, um auf diese Weise auf Reformen auf nationaler Ebene in der Arbeits- und Sozialpolitik zu drängen.

Langfristig könnte die EU darauf hinarbeiten, einen integrierten „europäischen Arbeitsmarkt“ zu entwickeln, um Beschäftigte und die Umwelt vor ökologischem und sozialem Dumping zu schützen. Außerdem müssen Tätigkeiten, die mit keinem direkten finanziellen Gewinn verbunden sind, wie die Versorgung von Kindern und älteren Menschen oder das lebenslange Lernen, auf EU-Ebene der Kommerzialisierung entzogen werden.

Schließlich sollten politische Parteien eine Strategie zur Mobilisierung progressiver Kräfte entwickeln, um jene Mehrheiten zu bilden, die zur Durchsetzung einer Agenda für ein soziales Europa, das inklusiver, gerechter und umweltfreundlicher ist, benötigt werden. Transnationale Bewegungen und grenzüberschreitende politische Koalitionen werden dabei eine entscheidende Rolle spielen.

1 https://ec.europa.eu/commission/priorities/deeper-and-fairer-economic-a…
2 https://www.etuc.org/european-social-model
3 https://inklusives-wachstum.de/ungleichheit-ist-die-soziale-frage-des-2…
4 In Artikel 3.3 EUV steht: „Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt (...) auf eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt (...). Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fordert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. (...) Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.
5 https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/i…

 


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