Eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik – die Zukunft der europäischen Sicherheit?

Bericht

Ein Bericht der Fachgruppe Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der im Rahmen der internationalen Fachkonferenz „Europa im Aufbruch? Ideen für eine progressive Politik“ der Heinrich-Böll-Stiftung am 18. Mai 2018 entstand

Zusammenfassung:

Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU wurde seit 2016 grundlegend reformiert. Zwischen den teilnehmenden Mitgliedstaaten wurde eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im militärischen Bereich begründet, bi- und multinationale Rüstungsprojekte werden gefördert. Für die zivilen Aspekte der GSVP gibt es bisher jedoch keine vergleichbare Dynamik. Vor allem Deutschland könnte 2018 eine Schlüsselrolle für einen Pakt für die zivile GSVP spielen – geschehen ist bisher allerdings nur wenig. Zudem fehlen gemeinsame europäische Normen für die Waffenexportkontrolle. Dies kann zu einer zunehmenden Aufweichung der Standards in europäischen Verteidigungsprojekten führen sowie potentiell zu einer permanenten Konfliktquelle werden. Trotz dieser Schwierigkeiten wird sich der Sicherheitsbereich immer stärker europäisieren, und das nicht nur in Bezug auf neue Bedrohungen und Herausforderungen in den Bereichen Cybersicherheit und künstliche Intelligenz. Wir brauchen daher in den Parlamenten und in der (europäischen) Öffentlichkeit dringend einen verbindlichen Austausch darüber, wie wir diese neue Sicherheitsarchitektur gestalten wollen. Es folgt eine Zusammenfassung der Aussagen, die in der Fachgruppe vorgebracht wurden. Sie gibt nicht unbedingt den Standpunkt der Autorin oder des Veranstalters wieder.


GASP, GSVP & PESCO – Abkürzungen und Strategien

In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU sind sämtliche außenpolitisch relevanten Bereiche und Themen der EU zusammengefasst: Diplomatie, Handels- und Wirtschaftspolitik, Nachbarschaftspolitik sowie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Die GASP wurde durch den Vertrag von Lissabon (unterzeichnet 2007) und die Verabschiedung einer neuen Globalen Strategie (2016)[1], in die die Ergebnisse eines umfassenden EU-weiten Konsultationsprozesses einflossen, schrittweise gestärkt.
Seither sind wesentliche Bestandteile der GSVP Gegenstand umfassender Reformbemühungen gewesen, die auf dem Grundsatz eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten beruhen. So wurde ein Europäischer Verteidigungsfonds (EVF) eingerichtet (mit dem Ziel der Koordinierung und Erhöhung der nationalen Investitionen in verteidigungsbezogene Forschung und der Verbesserung der Interoperabilität zwischen den nationalen Streitkräften), die Kooperation im Bereich der Cybersicherheit verstärkt und Ende 2017 die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) begründet (25 der 28 nationalen Streitkräfte bemühen sich dabei in Gemeinschaftsprojekten um strukturelle Integration). PESCO und EVF bilden zusammen mit der Koordinierten Jährlichen Überprüfung der Verteidigung (CARD; Prozess der Beobachtung der nationalen Verteidigungspläne der EU-Mitgliedstaaten für eine bessere Koordination der Ausgaben und die Identifizierung möglicher Kooperationsprojekte) und dem Militärischen Planungs- und Durchführungsstab (MPCC; ständiges operatives Hauptquartier auf militärisch-strategischer Ebene) das neue Verteidigungspaket der EU.[2]

Resilienz statt Erweiterungsperspektive – ein Paradigmenwechsel

Neue Bedrohungen – wie die illegale Annexion der Krim durch Russland, die Krise in Syrien und die Migrations- und Flüchtlingsströme, die in der Folge ihren Höhepunkt erreichten, der Austritt Großbritanniens aus der EU und der drohende Rückzug der USA aus Europa – setzen die EU unter Druck, ihre interne und externe Sicherheitspolitik neu auszurichten, hin zu einem Europa, das „schützt, stärkt und verteidigt“, wie es Kommissionspräsident Juncker ausgedrückt hat. Dies führte zu einem Paradigmenwechsel in der EU-Außenpolitik: Der Schwerpunkt liegt nun nicht mehr auf der Erweiterung (wie noch in der ersten Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003)[3], sondern auf einer auf Resilienz und Schutz der europäischen Bürger/innen und Grenzen ausgerichteten Politik (beschrieben in der Globalen Strategie von 2016)[4]

Die politische Forderung, die EU solle ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, ist nicht neu. Doch abgesehen von symbolischen Projekten ist in den vergangenen Jahren wenig geschehen. Es brauche also weniger Diskussionen und mehr konkrete Maßnahmen, argumentierten einige Teilnehmende der Fachgruppe. Andere rieten der EU, zunächst einmal über ihre bestehenden Fähigkeiten nachzudenken und diese zu festigen. Denn eine zu ehrgeizige Strategie, von der niemand erwartet, dass sie auch umgesetzt wird, würde die europäische Sicherheit eher behindern als verbessern.

Im weiteren Verlauf wurden die Folgen dieses Paradigmenwechsels für die direkte europäische Nachbarschaft diskutiert. Auf dem Balkan könnten dadurch, dass die Erweiterungspolitik zunehmend auf ein Nebengleis geschoben wird, alte Konflikte wieder aufflammen. Die Perspektive, eines Tages Mitglied der EU zu werden, reduziert dort noch immer Spannungen und stärkt rechtsstaatliche Reformen und den Kampf gegen Korruption. Schließlich gab es eine lebhafte Debatte darüber, ob der neue Fokus auf Resilienz und Schutz der Bürger/innen das europäische Pendant zu Trumps „America First“-Politik ist. Eine Politik, die nicht auf einem multilateralen und offenen Ansatz beruht, stehe möglicherweise im Widerspruch zur kosmopolitischen Philosophie und Basis der Europäischen Union und zum Geist des Vertrags von Lissabon.

Zwischen Nationalismus und strategischer Autonomie – der Status quo

Die Vision einer europäischen Armee – der (vermeintlich) ultimative Ausdruck der strategischen Autonomie der Europäischen Union in Sicherheitsfragen – wird trotz der zuletzt intensiveren Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich noch lange Zukunftsmusik bleiben.

Gleichwohl hat die Debatte über den Grad der strategischen Autonomie der EU – inwieweit sich die EU zu einem von einzelnen Mitgliedsstaaten oder internationalen Verbündeten unabhängigen Sicherheitsgarant für ihre Bürger/innen entwickeln soll – an Dynamik gewonnen.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als stehe die Forderung nach strategischer Autonomie der EU im Widerspruch zu dem in vielen europäischen Mitgliedstaaten zu beobachtenden wachsenden Nationalismus und dem Versprechen größerer nationaler Autonomie. Gleichzeitig sind die nationalen Regierungen jedoch mit einem multipolaren Sicherheitsumfeld und komplexen Sicherheitsrisiken konfrontiert, die von der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Cyberangriffen bis hin zu Piraterie und Bedrohung der Energie- und Umweltsicherheit reichen und in der Mehrzahl nicht mehr auf einzelne Staaten oder Regionen beschränkt sind. In der Globalen Strategie der EU heißt es dazu: „In einer immer komplexeren Welt müssen wir zusammenstehen.“ Umso mehr, als die Ausgaben für moderne Waffensysteme steigen und die Skepsis der Öffentlichkeit gegenüber Militäreinsätzen zunimmt. Infolgedessen haben die meisten EU-Mitglieder ihre Militärausgaben jüngst eingefroren oder sogar gesenkt. Vielen Staaten erscheint eine Zusammenarbeit auf europäischer Ebene in diesem Zusammenhang vielversprechend, denn dadurch ließen sich über gemeinsame Projekte die Militärausgaben senken und gleichzeitig durch das vereinte Gewicht der 27 Mitgliedsstaaten die politische und militärische Macht stärken.

Bisher wurde jedoch nie offen diskutiert, welchen Grad an strategischer Autonomie die EU eigentlich anstreben soll. Somit reichten die Einschätzungen zum Status quo in der Diskussion von „Solange sich die nationalen Regierungen nicht ändern, werden europäische Strategie und Gesetzgebung keine Rolle spielen“ über „Wir werden die nationale Autonomie behalten und mit einem gewissen Maß an europäischer Zusammenarbeit verbinden“ bis hin zu „Bei vielen Schutzmaßnahmen in den Bereichen Migration, digitale Bedrohungen und Terrorismusbekämpfung haben wir bereits strategische Autonomie“. Viele der 2017 angestoßenen Initiativen (PESCO, EVF, CARD) könnten tatsächlich zu mehr strategischer Autonomie führen. Inwieweit dieses Potenzial dann auch umgesetzt wird, bleibt jedoch abzuwarten. So wurden zum Beispiel die gemeinsamen Gefechtsverbände noch nie eingesetzt, obwohl der Mechanismus seit 2005 besteht. Dies gelte auch für andere Aspekte der Petersberg-Aufgaben [5], wie ein Teilnehmender hervorhob.

Von Worten zu robusten Kapazitäten – damit die zivile GSVP funktioniert

Mit PESCO und EVF wurden in jüngster Zeit entscheidende Schritte hin zu einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit im militärischen Bereich unternommen. Die zivilen Aspekte der Sicherheitskooperation hinken jedoch hinterher, und zivile GSVP-Missionen erhalten nach wie vor kaum politische Aufmerksamkeit. Das ist umso bemerkenswerter, als sich die EU nicht als Verteidigungsverbund, sondern als zivile Kraft definiert. So werden zivile Missionen in der Globalen Strategie als „Markenzeichen der GSVP“ und als wesentlicher Bestandteil des neu entwickelten integrierten Ansatzes beschrieben. Um diese Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen, ist für 2018 ein neuer „Pakt für die zivile GSVP“ in Vorbereitung.

Allerdings haben sich bisher nur wenige nationale Regierungen dieses Thema zu eigen gemacht. Eine positive Dynamik, ähnlich der von PESCO im Jahr 2017, fehlt nach wie vor, obwohl es um zentrale Fragen geht: Nichtverbreitung von Waffen, Verhinderung von Völkermord, wirtschaftliche Entwicklung, Rechtsstaatlichkeit, Vermittlung und Versöhnung, Achtung der Schifffahrtsfreiheit und territoriale Integrität.

Die Fachgruppe unterstrich daher nachdrücklich die Bedeutung der zivilen Dimension der GSVP. Ihrer Einschätzung nach wird der zivile Aspekt der Sicherheit immer dringender gebraucht, damit der Einsatz des Militärs auch wirklich das letzte Mittel bleibt. Die zivile Seite sollte nicht nur ein Instrument zur Ergänzung des Militärs sein; ihr eigener Mehrwert muss anerkannt werden. Trotz dieser Notwendigkeit gelten zivile Werkzeuge nicht als attraktiv und finden bei den politischen Eliten nicht genügend Beachtung. Folglich sind zusätzliche Initiativen erforderlich, um in der öffentlichen Debatte Aufmerksamkeit für den zivilen Aspekt als entscheidendes Element der Sicherheit zu schaffen. Außerdem müssen die zivilen Kapazitäten der EU verbessert werden. Insbesondere was die Auswahl und die Weiterbildung der Beschäftigten betrifft, werden auf der zivilen Seite bisher nicht die gleichen Maßstäbe an die Professionalisierung angelegt wie beim Militär. Mit einem europäischen Pendant zum Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) ließen sich gemeinsame Standards bei der Auswahl, Ausbildung, Unterstützung und Rückkehr von Zivilpersonal in allen europäischen Mitgliedstaaten sicherstellen.

Zudem liegt der Schwerpunkt der zivilen Kapazitäten der EU hauptsächlich auf Aspekten der Reform des Sicherheitssektors. Andere Aufgaben, wie Mediation und Versöhnung, Abrüstung, Demobilisierung und Wiedereingliederung, sind weniger gut entwickelt. Folglich „haben wir ein Werkzeug und versuchen, das passende Problem zu finden, anstatt nach einer umfassenden Lösung zu suchen“, wie es ein Teilnehmender formulierte.

Zwischen nationalen Vorschriften und einem europäischen Markt – Rüstungsexportkontrolle

Angesichts der immer engeren Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten in der rüstungsbezogenen Forschung und Entwicklung ist eine kohärente und koordinierte Waffenexportkontrolle auf EU-Ebene erforderlich. Andernfalls würden ungleiche nationale Standards automatisch in eine Abwärtsspirale führen, und das Land mit der am wenigsten restriktiven Politik würde die Exportbestimmungen für die gemeinsam entwickelten Kapazitäten bestimmen. Bis jetzt bestehen die EU-Mitgliedstaaten jedoch auf ihrer Souveränität im Bereich der Waffenexportkontrolle. Dies bleibt eine zentrale Herausforderung für eine starke GASP, da sich die EU für den Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen, soweit diese die Herstellung von oder den Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial berühren, weiterhin auf die einzelstaatlichen (bisweilen widersprüchlichen) gesetzlichen Regelungen stützt.

Die Fachgruppe war sich jedoch einig, dass eine EU-weite einheitliche Waffenexportpolitik, für deren Durchführung das Europäische Parlament zuständig wäre, wohl (leider) unwahrscheinlich ist. Die wahrscheinlichere Option bei multinationalen Rüstungsprojekten ist ein flexibler Ansatz: Dabei würden die beteiligten Länder die Bestimmungen für Rüstungsexporte von Fall zu Fall entsprechend ihrer nationalen Regelungen festlegen. Die Alternative – ein europäischer Rüstungsmarkt ohne Waffenexporte – wäre nicht zwangsläufig die bessere Option. Dafür gibt es drei Gründe: Wettbewerb und damit Innovationen würden behindert; europäische Länder, deren Rüstungssektor ausschließlich auf Exporte angewiesen ist, (zum Beispiel die Tschechische Republik im Hinblick auf Handfeuerwaffen) würden dadurch extrem unter Druck gesetzt; und der europäische Einfluss darauf, wer wo Waffen besitzt, würde schwinden. Ähnlich problematisch wäre eine solche Entwicklung auch für sogenannte Train-and-Equip-Missionen (beispielsweise im Irak), zu denen immer eine Ausrüstungs- und damit eine Waffenexportkomponente gehört. In 10 bis 15 Jahren wird diese klassische Debatte über Waffenexportkontrolle, wie wir sie kennen, jedoch möglicherweise gar nicht mehr von Belang sein, wie ein Teilnehmender einwandte. Das, was wir kontrollieren wollen, wird sich vielleicht schon bald der Kontrolle entziehen. Denn Dinge wie Software oder künstliche Intelligenz sind zwar integraler Bestandteil des zivilen Lebens, lassen sich aber auch für militärische Zwecke missbrauchen. Hier könnte die EU sich zumindest darum bemühen, Normen und Standards festzulegen, wie sie es bereits im Bereich der Cybersicherheit versucht.

Wir brauchen mehr Auseinandersetzung!

Dass die europäische Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung in den kommenden Jahren zunehmen wird, ist eine Tatsache. Gerade vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen und Bedrohungen (wie hybride Bedrohungen und Cyberangriffe) werden die europäischen Nationalstaaten zur Zusammenarbeit gezwungen sein, da kein Land diese Dinge allein bewältigen kann. Die zunehmende wechselseitige Abhängigkeit wird jedoch nicht von den notwendigen öffentlichen und parlamentarischen Debatten begleitet, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern über unsere gemeinsamen Prioritäten, Interessen und Visionen geführt werden müssten. Das Ergebnis ist eine reaktive anstatt einer proaktiven GASP, die den künftigen Herausforderungen im Hinblick auf die Cybersicherheit und die Diversifizierung der Sicherheitsbedrohungen unter Umständen nicht gewachsen sein wird. Insbesondere Deutschland als stärkste Wirtschaftsmacht und politisches Zentrum der Europäischen Union muss seine Bemühungen intensivieren, in einen Dialog mit dem französischen Präsidenten Macron treten und seiner eigenen Ankündigung, mehr Verantwortung zu übernehmen, gerecht werden.


[1] https://europa.eu/globalstrategy/en/global-strategy-promote-citizens-in…

 

[2] Weiterführende Informationen
[3] https://europa.eu/globalstrategy/en/european-security-strategy-secure-e…
[4] http://eeas.europa.eu/archives/docs/top_stories/pdf/eugs_review_web.pdf
[5] Die sogenannten Petersberg tasks decken folgende Aufgaben der GSVP ab: humanitäre Aktionen oder Rettungseinsätze, Konfliktverhütung und Erhaltung des Friedens, Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung, gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, militärische Beratung und Unterstützung und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten.

 


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