Wirtschaftswachstum war gestern - Donut ist heute

Buchrezension

Im April 2018 hat Kate Raworth in der Heinrich-Böll-Stiftung ihr Buch „Die Donut-Ökonomie“ präsentiert. Ihre Idee ist so genial einfach, dass man sich fragt, wieso niemand früher darauf gekommen ist. Eine Rezension von Jonathan Barth.

Kate Raworth in der Heinrich-Böll-Stiftung

Das hätte niemand erwartet - über 600 Menschen jeden Alters finden sich vor dem verlängerten Maiwochenende in der Heinrich-Böll-Stiftung ein. Der Saal ist bis zum Bersten gefüllt. Auf die Treppenstufen zur Live-Übertragung quetschen sich die letzten Gäste, gespannt erwarten sie den Beginn der Veranstaltung. Und das bei einem Thema, das nicht trockener hätte sein können: Die Zukunft der Wirtschaftswissenschaft. Doch die Besucher/innen sollten nicht enttäuscht werden. Kate Raworth schafft es, ein abstraktes und komplexes Thema spannender darzustellen als einen Science-Fiction Thriller. 

Die Idee ist denkbar einfach und doch kontraintuitiv: Ein Donut. Der Donut spielt die Hauptrolle in ihrem gleichnamigen Buch „Die Donut-Ökonomie“ und steht für nichts weniger als für das neue wirtschaftspolitische Ziel des 21. Jahrhunderts: „Die Bedürfnisse aller Menschen innerhalb der Grenzen des Planeten zu erfüllen.“ Wirtschaftswachstum war gestern. Donut ist heute. Der äußere Kreis des Donuts markiert die ökologischen Grenzen, die wir nicht überschreiten dürfen: Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Bodenerosion. Der innere Kreis steht für das soziale Fundament: Zugang zu Nahrung und Wasser, politische Teilhabe, ein Dach über dem Kopf. Hier darf es nicht zu wenig geben. Mit dem Donut gelingt es Kate Raworth, ein einprägsames und starkes Bild zu erzeugen das konsequent zusammen denkt, was zusammengehört: Mensch und Natur, Soziales und Ökologisches. 

Doch ein neues Ziel reicht kaum für die Veränderung. Auf den 351 Seiten legt die Autorin deshalb ein umfassendes Programm vor, wie sich die Wirtschaftswissenschaft und die Wirtschaft als Ganzes verändern muss. Ihre Stärke ist die Kraft der Bilder: Eins nach dem anderen nimmt sie die Bilder der heutigen Wirtschaftswissenschaft auseinander: Exponentielles Wachstum, die Kuznets Kurve, den Homo oeconomicus, das Gleichgewicht. Doch eine neue Kritik der Wirtschaftswissenschaft hätte wohl kaum jemanden interessiert. Die Leute sind gekommen, weil das Buch Alternativen aufzeigt, neue Fragen stellt und theoretisch wie praktisch untermauert. Doch es ist nicht nur spannend. Für die Reform der Wirtschaftswissenschaft ist das Buch notwendig, weil es im Kern nach drei fundamentalen Anpassungen der Wirtschaftswissenschaft ruft.

1. Ziele und Motivationen an den Anfang stellen

Es ist eigentlich sehr verwunderlich: Trotz der Kritik an den Verkürzungen der ökonomischen Modelle und ihrer offensichtlichen Schwäche im Verstehen von ökonomischen Krisen, hat sich die Wirtschaftswissenschaft bisher vehement einer Reform entgegengestellt. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Politik, weil nach wie vor fraglich ist, wie gut die ökonomischen Modelle die Wirtschaft tatsächlich beschreiben. Die verpassten Reformen schlagen sich gerade auch im Studium nieder. 

Oft kommen Studierende hoch motiviert an die Universität, um den Klimawandel, die herrschende Ungleichheit oder die Finanzkrise besser zu verstehen. Was sie dann vorfinden ist ein Demotivationsprogramm für eine ganze Generation: Anstatt über die Probleme und mögliche Lösungen zu sprechen, werden Modelle hoch und runter gebetet. Fragen die Studierenden nach deren Relevanz oder Anwendungsbezug, werden sie auf den Master oder die Promotion vertröstet. Das Problem: Bis dahin halten es – bis auf wenige Ausnahmen – nur die aus, die die Annahmen und die einseitige Betrachtungsweise der VWL widerspruchslos akzeptieren. Viele andere wechseln zur Politikwissenschaft, Soziologie oder in ganz andere Disziplinen. Damit geben sie ihre politische Gestaltungsmacht auf, denn offiziell heißt es: „Nur wer Ökonomik studiert hat, versteht die Wirtschaft.“

Mit dem „Donut“ verlangt Kate Raworth hingegen die Frage nach der persönlichen Motivation der angehenden Ökonom/innen und dem gesellschaftlichen Ziel von Ökonomik an den Anfang zu stellen. Natürlich brauchen die Studierenden das methodische und theoretische Werkzeug, um die Prozesse des Wirtschaftens zu verstehen. Doch ohne einen normativen Kompass ist jedes Werkzeug wertlos, weil offenbleibt, wofür man es einsetzt. Ein Pflug erfüllt erst dann seinen Zweck, wenn damit ein Feld bestellt wird. Umgedreht kann das Ziel, ein Feld zu bestellen, erst mit einem Pflug erreicht werden. Ziele und Werkzeuge, Werte und Verständnis sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich gegenseitig. 

2. Komplexität verstehen

An diesen Aufruf zu einem Mehr an normativer Reflexion schließt die Autorin mit der Forderung an, die Wirtschaft endlich als das zu betrachten, was sie ist: Ein komplexes dynamisches System. 

Sie beginnt mit der Kritik der Systemgrenzen. Die Volkswirtschaft ist heute auf multiple Weise mit der Umwelt und der sozialen Sphäre verwoben und kann deshalb nicht mehr als alleinstehendes geschlossenes System betrachtet werden. Die Studierenden müssen lernen, die Ökonomie wieder als eingebettet in Umwelt und Gesellschaft zu betrachten. Neu ist, dass Raworth gleichzeitig auch die Teilbereiche der Volkswirtschaft selbst und ihre Wechselwirkungen zueinander in den Blick nimmt. Wirtschaft lässt sich fassen als das Zusammenwirken von Markt, Staat, privaten Haushalten, Allmenden und Finanzwirtschaft. 

Statt die Bereiche wie in der heutigen Lehre auszublenden oder gegeneinander auszuspielen, fragt die Autorin, wie sich diese Bereiche zusammenhängen ergänzen können: Der private Haushalt garantiert durch Reproduktionsarbeit die Verfügbarkeit von Arbeitskraft für den Markt und ist deshalb essenzieller Teil der Ökonomie. Der Staat steckt das Revier des Marktes ab, so dass er nicht über die Maße die Umwelt belastet oder Ungleichheit hervorbringt. Die Allmende komplementieren als Organisationsform ohne private Eigentumsrechte den Markt und müssen keineswegs immer „tragisch“ enden, wie Elinor Ostrom eindrücklich gezeigt hat. Zwischen diesen Bereichen steht die Finanzwirtschaft, die durch Kreditschöpfung und Geldtransfer einen wichtigen „Dienst“ leistet, aber eben nicht – wie es heute der Fall ist– zum Selbstzweck verkommen darf. 

Doch nicht nur das Bild der Wirtschaft insgesamt, auch das Bild von menschlichem Verhalten muss sich radikal ändern. Die Ökonomik hat Menschen zu lange als isolierte Individuen betrachtet, die egoistisch und rational ihren Nutzen maximieren. Was dem Nicht-Ökonomen wohl schon lange klar war, hat nun endlich auch die Verhaltensökonomik empirisch bestätigt: Menschen sind soziale Wesen, die voneinander abhängen und deren Präferenzen und Wertvorstellungen veränderlich sind. Zwar wägen wir Optionen zueinander ab, aber dadurch maximieren wir keinesfalls unseren Nutzen, sondern erreichen maximal eine Annäherung daran. Die Wirtschaftswissenschaft hat dagegen jegliche menschliche Interaktion abseits des Tausches aus ihren Modellen verbannt. Doch es ist eben gerade genau diese Interaktion, die uns Menschen, unsere Wertvorstellungen und Entscheidungen prägt und deshalb so wichtig für die Frage nach einer zukunftsfähigen Wirtschaftsordnung ist. 

Es wird schnell deutlich, dass die einfachen Gleichgewichtsmodelle, wie sie an den Universitäten gelehrt werden, kaum in der Lage sind diesen „Problemen organisierter Komplexität“ gerecht zu werden. Was die Studierenden deshalb brauchen sind andere Methoden und Werkzeuge. Sie müssen zu „Systemdenker/innen“ werden, indem sie die die Bedeutung von Rückkopplungsschleifen und Wechselwirkungen zwischen Prozessen verstehen und anzuwenden wissen. 

3. Andere Fragen stellen

In ihrem Zusammenspiel können der Donut als normativer Kompass und das komplexe Systemdenken als Werkzeug die Studierenden befähigen an eben jenen Problemen zu arbeiten, die heute zur Erreichung der globalen Entwicklungsziele beantwortet werden müssen: Ungleichheit, ökologische Zerstörung, der Zwang des Wachstums. 

Ungleichheit ist nach Raworth eine Frage der Verteilung von Reichtum und Macht. Damit zielt sie direkt auf den Kern des Problems. Dem fiktiven „Marktgleichgewicht“, das häufig eher zu Markt-Konzentration als zu Diversität führt, stellt Kate Raworth das „subtile Gleichgewicht“ von Effizienz und Resilienz gegenüber: Zu viel Konzentration bedeutet Instabilität, zu wenig führt zu Ineffizienz. Ihr Plädoyer: Die Konzentration des Reichtums verhindern, indem Eigentumsverhältnisse diversifiziert werden – von Land, Geldschöpfung, Arbeit, Robotern und Ideen. Die Forderung könnte radikaler nicht sein, hat doch die Wirtschaftswissenschaft Land und Geld seit langem aus ihrer Theorie verbannt, die Digitalisierung auf nicht mehr als einen weiteren Innovationsschub reduziert und die Verteilungseffekte mit der Begründung der Effizienz an den Rand gedrängt. 

Der Wandel zu einer regenerativen und ökologischen Wirtschaftsweise beginnt nach Raworth dagegen mit einem Paradigmenwechsel: Unternehmen müssen den Zweck ihres Wirtschaftens neu definieren. Das Streben nach Gewinn muss der Verantwortung „einen positiven Beitrag zur lebenden Welt zu leisten“ weichen. Damit trotzdem die Profitabilität sichergestellt wird, schlägt die Autorin zwei Reformen vor. Die Geldströme des Finanzsektors müssen auf die Unterstützung von Unternehmen gerichtet werden, die sich dem neuen Leitbild von Distribution und Regeneration verschreiben. Die Einrichtung von langfristig handelnden öffentlichen Investitionsbanken wäre dafür ein erster Schritt. Während die Unternehmen so kreditfähig werden, erlangen sie ihre Wettbewerbsfähigkeit durch ein neues Steuerregime: Die Besteuerung von Arbeit muss der Besteuerung von Ressourcen weichen. 

Die wohl radikalste Frage findet sich jedoch am Ende des Buches: Wie können wir „agnostisch gegenüber dem Wachstum werden“. Wie auch in den anderen Kapiteln, vermeidet Raworth hier die direkte Konfrontation. Es geht ihr nicht um Degrowth oder Post-Wachstum als Gegenmodell zum Wachstumskapitalismus. Stattdessen heißt „agnostisch sein“, eine Egal-Haltung einnehmen. Für Raworth ist es nicht entscheidend, ob wir wachsen oder nicht, solange wir innerhalb des Donuts wirtschaften und die Ökonomie „floriert“. Für sie ist die Frage des Wachstums wenn überhaupt funktional relevant: Wir müssen den Zwang des Wachstums überwinden, damit wir wieder Handlungsspielräume haben, um die Donut-Ökonomie Wirklichkeit werden zu lassen. Wie das gelingen kann bleibt die größte offene Frage.

Die Fallstricke der Transformation ernstnehmen

Das Buch gefällt, weil es Reformvorschläge unterbreitet. Es ist ein Buch zu dem man leicht „ja“ sagen kann. Dadurch lädt es ein, Brücken zu bauen - doch das ist gleichzeitig seine größte Schwäche. Auch wenn die Reformvorschläge für die Wirtschaftswissenschaft und die Wirtschaft als Ganzes konkret sind, wird die Frage ihrer Umsetzung nur am Rande berührt. 

Faktisch haben wir es in der Realität nicht mit Win-Win Situationen zu tun, zu denen alle einfach „ja“ sagen. Reformen müssen gegen Interessen durchgesetzt werden. Das Buch setzt auf die Kraft von Studierenden, progressiven Politiker/innen und von zukunftsfähigen Unternehmen, in denen bereits heute eine neue Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaft betrieben wird. Doch vernachlässigt es die Gegenseite, die Profiteure des Systems. Das gilt für die Wissenschaft und die Wirtschaft gleichermaßen: Seien es Professor/innen, die mit den Theorien des 20. Jahrhunderts Karriere gemacht haben, oder Großkonzerne, die ihre Macht durch eine auf fossilen Rohstoffen aufbauende Infrastruktur sicherstellen. 

Am Ende hängt der Wandel nicht nur von den Fürsprechern ab, sondern auch von der Kraft der Gegenspieler. Wie die Umverteilung von Macht in der Praxis umgesetzt werden kann, bleibt offen. Auch das Publikum stellt am Ende diese Frage. Kate Raworth antwortet darauf „Das ist ein anderes Buch, das jemand anderes schreiben muss“. Also liebe Leser/innen: Machen Sie sich an die Arbeit. 

Kate Raworth stellt am 27. April 2018 ihr Buch „Die Donut-Ökonomie“ vor und spricht darüber wie eine andere, bessere und gerechtere Wirtschaft möglich ist. Mitschnitt der Veranstaltung in der Heinrich-Böll-Stiftung.