Der arabische Nahe Osten im „globalen 1968“

Analyse

Gab es ein „arabisches 68“, oder ist schon die Frage falsch gestellt? Wofür kämpften libanesische Studierende? Warum interessierten sich arabische Kulturzeitschriften auch „68“ eher für „67“? Die in Beirut lebende Arabistin und Böll-Stipendiatin Yvonne Albers nimmt die aktuelle Konjunktur des 50. Jahrestages zum Anlass für Einblicke in die politischen und intellektuellen Debatten im arabischen Nahen Osten der ausgehenden sechziger Jahre.

Wer in Deutschland oder Frankreich an die „Ikonen“ der Protestbewegungen von 1968 denkt, wird an Daniel Cohn-Bendit denken. Und doch überrascht es, seinen Namen auch in einer arabischen Zeitschrift aus dieser Zeit an prominenter Stelle zu finden. Im November 1968, ein halbes Jahr nach dem Pariser Mai, druckt die führende Beiruter Literaturzeitschrift al-Adab die Übersetzung eines Interviews mit Cohn-Bendit ab (Al-Adab vom November 1968, S. 42-45). Hierin beantwortet der Studentenführer Fragen zur von ihm mitbegründeten „Bewegung 22. März“. Dabei ist die Überschrift der arabischen Übersetzung Programm: „Daniel Cohn-Bendit: Mythos und Wahrheit“. Ganz offensichtlich fühlte sich der Übersetzer Wahid Naqqash verpflichtet, einige Missverständnisse über Cohn-Bendit aus der arabischen Welt zu räumen. Zwar, so das Vorwort, sei er Jude und einige seiner Gegner unterstellten ihm zionistische Interessen – ein Vorwurf, der breiten Zuspruch beim arabischen Publikum gefunden habe. Das Interview aber beweise deutlich, dass Cohn-Bendit „Israel und den Zionismus“ als Formen des Imperialismus „direkt angreife.“

Das Gespräch mit Dany le Rouge und dessen Kontextualisierung bieten sich aus mehreren Gründen an, um in das „arabische 1968“ einzuführen. Erstens verdeutlicht es die arabische Perspektive auf die europäischen Studentenproteste: Die Ereignisse in Europa wurden hier vor allem durch den Filter der eigenen jüngsten historischen Erfahrung gelesen und bewertet. Wenigstens mit Blick auf den Nahen Osten stand dabei keineswegs 1968 im Zentrum, vielmehr war 1967 das entscheidende und die Rezeption prägende Jahr. Es symbolisiert den arabischen Krisenmoment, der, in dieser Hinsicht vergleichbar dem „europäischen 68“, bereits länger währende Entwicklungen innerhalb der arabischen Linken beschleunigte.  

Zweitens spielt die Auswahl des Beispiels mit einem gewissen Eurozentrismus in der Erinnerung an „68“, von dem auch der 50. Jahrestag weiterhin nicht frei ist. Denn bei allem Respekt: Cohn-Bendit war für das arabische Publikum eine Randfigur – und blieb es trotz des Interviews in Al-Adab. Studentenproteste und Generationskonflikte gab es 1968 auch in der arabischen Welt. Doch wie in anderen asiatischen und afrikanischen Städten des globalen Südens, wo 1968 Studenten auf die Straße gingen, bezogen sich Auslöser und Motive der Proteste letztlich vor allem auf lokale Belange. Die Proteste in Europa spielten dabei eine Nebenrolle, auch wenn man sich als Teil einer globalen Revolution mit gemeinsamer Ikonografie (Che!) und gemeinsamen Bezugssystem (Palästina, „Dritte Welt“) erlebte.

Die Produktivität der Krise: 1967, 1968

Im Juni 1967 unterlag das arabische Militärbündnis von Ägypten, Syrien und Jordanien der israelischen Armee im Sechs-Tage-Krieg. Nach mehreren Provokationen durch Ägypten hatte der Krieg am 5. Juni mit einem Präventivschlag der israelischen Armee gegen Ägypten begonnen und bereits am 10. Juni geendet. Israel war von arabischer Seite unterschätzt worden, die Niederlage kam völlig überraschend und wurde zum militärischen und psychologischen Debakel. Die syrischen Radiosender besangen noch den nahenden Sieg, da flogen israelische Kampfflieger schon über syrischem Luftraum und zerstörten deren komplette Flotte, bevor sie überhaupt abgehoben hatte. In nur sechs Tagen hatte Israel seine Staatsgrenzen um das Dreifache auf die Gebiete der Golan-Höhen, der Sinai-Halbinsel, des Gaza-Streifens, des Westjordanlands und Ostjerusalems vergrößert. Mehr als eine Viertelmillion weiterer Palästinenserinnen und Palästinenser flohen in die Nachbarstaaten. Die arabische Bevölkerung war fassungslos: Die arabische umma (Gemeinschaft) war offensichtlich nicht so unbesiegbar, wie es der arabische Nationalismus über Jahrzehnte propagiert hatte. Der Stern des charismatischen ägyptischen Präsidenten und panarabischen Führers Gamal Abdelnasser sank in Folge der Niederlage.

Die Zäsur des Sechs-Tage-Kriegs und seine Nachwehen machten das Jahr 1967 zur historischen Chiffre. Und zwar nicht erst im Rückblick arabischer Historikerinnen und Historiker, sondern bereits für die Zeitgenossen. Kurz nach dem Juni 1967 fand sich in der arabischen Welt wohl keine Zeitung oder Zeitschrift, die nicht auf die ein oder andere Weise versucht hätte, Antwort auf die Frage zu geben: „Warum sind wir gescheitert?“ Das als naksa (dt.: Rückschlag) oder als hazima (dt.: Niederlage) bezeichnete Ereignis traf vor allem diejenigen hart, die sich als geistige Vordenker begriffen und diese Niederlage nicht hatten kommen sehen, oder sehen wollen. „Es traf uns wie ein Blitz,“ erinnerte sich etwa Sadiq Jalal al-Azm. Der syrische Philosoph hat wie viele seiner Zeitgenossen den Juni-Krieg als politisches und intellektuelles Erweckungserlebnis beschrieben. Er selbst gehörte zu den ersten Stimmen, die forderten, das militärische Debakel als Anlass zu nehmen, den Blick endlich auf die selbstverursachten sozialen Missstände der arabischen Länder zu richten, wozu er in seinem Essay „An-Naqd adh-dhati ba’d al-hazima" („Selbstkritik nach der Niederlage“) aufrief. Der Essay von 1968 ging in den Kanon der modernen arabischen Ideengeschichte ein, die von Historiografen noch immer mehrheitlich in ein vor und nach 1967 unterteilt wird.

Man darf behaupten: Im kollektiven arabischen Gedächtnis ist „1968“ kaum mehr als das Jahr, das auf „1967“ folgte. Das ist nicht falsch und greift dennoch zu kurz.

Denn zum einen war 1968 das Jahr, in dem, nach dem Ende der Schockstarre, eine produktive, selbstkritische Aufarbeitung und politische Mobilisierung in der arabischen Öffentlichkeit begann: Hier erschien besagter Text von Sadiq Jalal al-Azm neben anderen Analysen arabischer Intellektueller, Symposien wurden abgehalten, neue Zeitschriften gegründet. Die Stimmung war alles andere als deprimiert, sie war elektrisiert. Vor allem im progressiven Lager standen 1968 alle Zeichen auf Revolution. Ähnlich wie in Europa, vollzog sich eine Kräfteverschiebung in der politischen Linken: Die beiden Pole des panarabischen Nationalismus und des klassischen Marxismus verloren an Anziehungskraft, Kritik an den linken Staatsideologien Nasserismus (Ägypten) und Baathismus (Syrien, Irak) wurde laut. Dieser Prozess hatte allerdings schon in den frühen sechziger Jahren eingesetzt. Internationalistische und marxistisch-leninistische Strömungen hatten sich bereits vor 1967 im arabisch-nationalistischen Lager ausgebildet. Das Krisenereignis von 1967 aber verhalf diesen Gruppen zu einem zentralen Platz in der politischen Arena. Vor allem im Libanon, dem politischen und kulturellen Hotspot des Nahen Ostens in den sechziger Jahren, formierte sich die Neue arabische Linke. Die Gruppen, die unter diesen Oberbegriff fielen, begriffen den nationalistischen Kampf nicht mehr als rein arabisches Anliegen, sondern als Teil einer globalen, antiimperialistischen und antikapitalistischen Revolution, in deren Zentrum die „Befreiung Palästinas“ stehen sollte. Auch sie lasen den „alten“ Marx neu. Selbstverständlich war für sie die Solidarisierung mit den anderen revolutionären Befreiungsbewegungen dieses Jahrzehnts: Algerien, aber auch Kuba und Südvietnam. Das mit dem Radikalisierungsprozess einhergehende und von palästinensischen Widerstandsgruppen propagierte Konzept der „Direkten Aktion“, einschließlich des späteren Umschlagens von Widerstand in Terror, spielte auch in der Neuen arabischen Linken eine zunehmende Rolle. Spätestens seit dem Desaster von 1967 hatten sich die Palästinenser von der seit 1948 gehegten Hoffnung verabschiedet, die arabischen Staaten würden ihnen das Land bald zurückerobern. In diesem Prozess gewann die PLO (Palestinian Liberation Organisation), die als Dachverband verschiedener nationalistischer Gruppen bereits 1964 gegründet worden war, massiv an politischer Bedeutung. Ihr Aufstieg wurde begleitet von der Figur des „fida’i“ (dt.: „Widerstandskämpfer“; „Märtyrer“), der die Vorstellungswelt der revolutionären arabischen Jugend und der Intelligenzija bis Ende der Siebzigerjahre maßgeblich prägte.

Von Tunis bis Beirut: Studentische Mobilisierung nach 1967

Die Studierenden blieben von diesen Entwicklungen nicht unberührt: Auch in verschiedenen arabischen Ländern kam es 1968 zu studentischen Protestwellen, in denen Fakultäten besetzt und innerhalb und außerhalb der Campus demonstriert wurde.
In Tunesien begannen, nach ersten Demonstrationen im Vorjahr, großflächige antiimperialistische Studentenproteste im März 1968, anlässlich des Staatsbesuchs des US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey. Ab Mai 1968 standen die tunesischen Aktivistinnen und Aktivisten zudem in engen Austauschbeziehungen mit Studierendengruppen in Frankreich, mit dem Tunesien durch seine Kolonialgeschichte eng verbunden war.

In Ägypten schlossen sich Studierende im Februar 1968 einem Streik der Stahlarbeiter in Helwan an, die gegen ein geringes Strafmaß für die verantwortlichen Luftwaffen-Offiziere des Juni-Kriegs protestierten. Der Protest weitete sich auf das ganze Land aus. Studentische Forderungen beinhalteten bald auch Forderungen nach Meinungs- und Pressefreiheit und einem nicht nur dem Namen nach repräsentativen Parlament, neben der Kritik an massiv erhöhten Studiengebühren. Der ägyptische Staat reagierte hart, einige Demonstranten wurden getötet, viele inhaftiert.

Auch im Libanon führte die Enttäuschung über die militärische Niederlage, das Versagen der politischen Führung und das Schicksal der Palästinenser zur erneuten Politisierung der libanesischen wie auch der vielen anderen arabischen Studentinnen und Studenten, die an den Universitäten des Libanon eingeschrieben waren. Die libanesische Hauptstadt hat eine bis in das späte 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition antiimperialistischer studentischer Proteste. In den Protestzyklus der 1960er Jahre klinkte sie sich Ende 1967 ein, als es an verschiedenen Universitäten zu ersten Mobilisierungen kam. 1968 verstärkten sie sich nach der israelischen Luftattacke auf den Beiruter Flughafen und den Einsätzen des libanesischen Militärs gegen die im Libanon aktiven palästinensischen Guerillakräfte. Das aggressive Vorgehen des libanesischen Staates bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die eigene Bevölkerung vor Angriffen Israels zu schützen, führte dazu, dass die Studierenden sowohl „dem Staat“ als auch „dem Imperialismus“ den Kampf erklärten – sowie „der Universität“, die in ihren Augen beide Mächte repräsentierte. In die Kritik gerieten darüber hinaus die konfessionalistische Gesellschaftsstruktur des Landes, die sich im Universitätssystem widerspiegelte, und die hieraus erwachsende Ungleichheit von Bildungschancen. Forderungen wurden laut nach studentischen Mitbestimmungsrechten, einer demokratischen Universitätsstruktur und einem nationalen Stipendiensystem, um auch benachteiligten Schichten den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen.

Der 1967/68 an libanesischen Universitäten einsetzende Protestzyklus beschränkte sich nicht, wie in Frankreich, auf einen „langen Sommer“, sondern setzte sich mit verschiedenen Höhepunkten bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1975 fort. Das politische Spektrum der beteiligten studentischen Gruppen war zum größten Teil pro-palästinensisch und gegen das bestehende Bildungssystem gerichtet, spiegelte dabei aber in vielerlei Hinsicht bestehende Positionen der im Libanon etablierten politischen Fraktionen wider und reichte von moderat-reformistischen bis hin zu radikal linken und militanten Positionen. Es war somit keinesfalls so unison linksrevolutionär, wie das Label „1968“ suggerieren mag. Nichtsdestotrotz fühlte sich die etablierte Linke und ihre Intellektuellen von der Neuen arabischen Linken herausgefordert. Zwar war die Grundhaltung der linken Intelligenz gegenüber den protestierenden Studierenden, wo nicht von deutlicher Solidarität, so wenigstens von Sympathie gezeichnet: zahlreiche Vordenker der arabischen Linken hatten selbst Dozenturen an einer der betroffenen Universitäten, und einige wurden aufgrund eines direkten Konflikts mit der Universitätsleitung sogar selbst zum Verhandlungsgegenstand der Proteste, darunter der erwähnte syrische Philosophieprofessor Sadiq Jalal al-Azm. Und doch changierte die Haltung dieses Milieus gegenüber den „jungen Wilden“ zwischen Begeisterung und Befremden.

Clash der Generationen: Reaktionen linker arabischer Intellektueller

Dass „1968“ somit auch im arabischen Fall einen Moment des Clashs der Generationen markiert, zeigen nicht zuletzt die Reaktionen auf die Studentenproteste in Beiruts führenden linken Kulturzeitschriften. Dort finden sich auch vereinzelt Beiträge und Analysen, die sich direkt mit dem Mai 1968 in Frankreich befassen, wohingegen die Ereignisse in anderen europäischen Ländern kaum rezipiert werden.

In der bereits erwähnten al-Adab, die politisch dem Nasserismus nahestand, herrschte im Sommer 1968 noch immer Katerstimmung. Die Enttäuschung über die militärische Niederlage hielt an, wurde jedoch verstärkt von der Enttäuschung über die französische Linke, zu der die Zeitschrift einst enge Beziehungen gepflegt hatte. Doch nachdem sich maßgebliche französische Intellektuelle, darunter der von den Arabern bis dato als antikolonialer Intellektueller gefeierte Jean-Paul Sartre, im Sechs-Tage-Krieg auf die Seite Israels gestellt hatten, war es mit der Liebe von al-Adab vorbei. Ein Beitrag aus dem Juni 1968 empörte sich, noch vor kurzem habe Frankreichs Linke Palästina und Vietnam als Teil desselben Befreiungskampfes verstanden, inzwischen jedoch sei in Paris nur noch von Vietnam die Rede. Erst in der Juli-Ausgabe äußerte sich al-Adab in seiner internationalen Sparte erstmals zu den Pariser Studentenprotesten, positiv zwar, aber reserviert: Für eine wahrhafte Revolution, die Bourgeoisie und Kapitalismus aus dem Inneren angreife, könnten diese Proteste nur der Anfang sein. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verlor die große Zeitschrift kaum ein Wort über die studentischen Anliegen im eigenen Land. Man war 1968 noch in erster Linie mit der eigenen Rolle nach 1967 beschäftigt.

Stärker betroffen zeigte man sich in der von der Kommunistischen Partei herausgegebenen Zeitschrift al-Tariq. In der Regel beschränkte sich deren internationale Kulturberichterstattung auf die Länder des Ostblocks, hauptsächlich die Sowjetunion und die DDR. Sie war 1968 auch die einzige unter den genannten Zeitschriften, die dem „Prager Frühling“ einen Artikel widmete. Beiträge zu Ereignissen in Ländern des kapitalistischen Westens waren eher spärlich gesät, mit der großen Ausnahme des Pariser Mai. In einer längeren Analyse warf der Autor Ibrahim Pasha die Frage auf, welche Lehren die Studentenbewegung im Libanon aus der Situation in Frankreich ziehen müsse. Wie zu erwarten begrüßte er den antiimperialistischen, revolutionären Eifer der Pariser Studenten. Doch er sah auch Anlass zur Warnung. Der Antiautoritarismus der Pariser Bewegung war dem libanesischen Autor sichtlich suspekt, die Orientierung der Neuen Linken an Herbert Marcuse, dem „Denker der Studenten“, hielt er für fatal. Deutlich spricht aus seiner Analyse, wie stark sich auch die traditionelle arabische Linke während des Jahres 1968 um den Verlust ihrer ideologischen und praktischen Führungsposition sorgte.

Eine nochmals andere Reaktion auf die Studentenbewegung zeigte die im Herbst 1968 gegründete Kulturzeitschrift Mawaqif, die sich seit ihrer ersten Ausgabe als intellektuelles Krisenmittel gegen das Drama von 1967 inszenierte und sich in den Folgejahren mit Positionen der Neuen arabischen Linken identifizierte. Die Herausgeber erkannten in den Studentenbewegungen ein Zeichen der Zeit und integrierten sie in die eigene revolutionäre Agenda: Bereits in ihrer ersten Ausgabe betteten sie die Beiruter Studentenproteste, die zum selben Zeitpunkt einen Höhepunkt erreichen, prominent in ihr Projekt einer Kritik der arabischen Gegenwartsgesellschaft ein. Genau wie in al-Adab und al-Tariq kamen aber auch hier nicht etwa die jungen Protagonistinnen und Protagonisten selbst zu Wort. Stattdessen analysierten und kritisierten drei Hochschuldozenten das libanesische Universitätssystem. Einer der Autoren, Sami Abou, begrüßt das systemerschütternde Potenzial der Proteste, wollte aber einen wichtigen Unterschied zwischen Pariser und Beiruter Studierenden ausgemacht haben: „Seit Mai, also seit der Studentenrevolution, die die Grundfesten des französischen Systems erschüttert hat, fragen sich mit Furcht einige libanesische Verantwortliche in Regierung und Universität, ob diese Infektion sich auch auf unsere Studenten überträgt (…) Es ist zwar sehr wahrscheinlich, dass das Jahr 1968/69 im Libanon mehr Streiks mit sich bringen wird als die Jahre zuvor – aber eine Infektion wird es kaum geben (…) Die europäische Studentenrevolution, insbesondere die französische, beherbergt hinter ihren praktischen Forderungen ein metaphysisches Element, eine Art radikale Infragestellung des zivilisatorischen Paradigmas, das die industrialisierte Konsumgesellschaft bestimmt. Wir im Libanon aber sind weit davon entfernt. Was unsere Studenten wollen ist, in aller Einfachheit, eine Universität, die ihren Namen verdient.“ Die meisten Beiruter Studierenden würden diesem wohlmeinenden aber paternalistischen Kommentar wohl kaum zugestimmt haben. Vor allem, da er einmal mehr die kulturelle Überlegenheit des Westens beschwor, diesmal gar in Bezug auf die revolutionäre Idee. Allerdings wird der Autor in einem Punkt recht behalten: Die Studentenproteste allein waren nicht imstande, das libanesische System zu erschüttern. Die Zeitschrift beschloss ihren Schwerpunkt zur Studentenbewegung mit einem übersetzten Manifest des Pariser studentischen Aktionskomitees „Nous sommes en Marche“. Der Text wurde dabei auf eine Weise gekürzt, die es auch erlaubte, ihn als Teilprojekt einer arabischen Kulturrevolution nach 1967 zu lesen, so wie sie von Mawaqif propagiert wurde.

Die Durchsicht der maßgeblichen libanesischen Zeitschriften des Jahres 1968 verdeutlicht die unterschiedlichen Strategien, mit denen die Intellektuellen der arabischen Linken versuchten, ihre Deutungs- und Definitionsmacht über die politischen Ereignisse und die „wahre“ Revolution zu behalten. Dafür wussten sie nicht zuletzt das Kapital der revolutionären Jugend zu nutzen, um ihre eigenen Projekte zu verjüngen und zu modernisieren. In diesen intergenerationellen Reibungen liegt vielleicht eine der deutlichsten Gemeinsamkeiten im „globalen 1968“.

Abschließend sei der Hinweis auf eine andere europäisch-arabische Verschränkung erlaubt, diese allerdings in der Gegenwart. Ob in Berlin oder Beirut, es zeigt sich seit einigen Jahren ein nostalgisches Gedenken an die Sweet Sixties in den unterschiedlichsten Bereichen von Diskurs-, Pop- und Konsumkultur. Auch arabische junge Linke versuchen sich derzeit an einer Aktualisierung des letztlich gescheiterten Projekts der sechziger Jahre und an dem Versuch, es mit der eigenen Protestgeschichte seit dem „arabischen Frühling“ zusammenzubringen. Trotz aller Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten, die in diesem kurzen Überblick Thema waren, stehen die Sixties auch im arabischen Nahen Osten für eine Hochphase des linken Kosmopolitismus, vor allem in Libanons Hauptstadt Beirut, wo der Bürgerkrieg diesen Hoffnungen ein Ende setzte. Zum Gedenken an das „globale 1968“ gehört heute, im Jahr 2018, so auch die globalisierte Nostalgie einer utopischen Verheißung und ihres verlorenen Lebensgefühls.