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Heinrich Bölls ʼ68: Eine Annäherung in sechs Lektüren

Einleitung

Was ist, was war ‹1968›? Die Zahl der Deutungsversuche, die dem Jahr eine angemessene historische Einordnung geben wollen, ist groß. Reich an historischen Ereignissen war dieses Jahr gewiss: Außerparlamentarische Opposition, Studentenrevolte und Hippie-Bewegung, Notstandsgesetze und Springer-Konzern, Vietnam und Dritte Welt, «Prager
Frühling», Kalter Krieg, die päpstliche Enzyklika «Humanae vitae» – um nur die wichtigsten zu nennen. Und ebenso gewiss ist es eine Chiffre für die Modernisierung der westlichen Gesellschaften und so zu einem Mythos geworden.

Ob Ereignisgeschichte, ob Chiffre oder Mythos – der Schriftsteller Heinrich Böll (1917-1985) hatte an allen drei Kategorisierungen seinen eigenen, unverwechselbaren Anteil. Einige der wichtigsten der genannten Ereignisse und Entwicklungen hat er zum Gegenstand seiner Interventionen gemacht. Sie besitzen in seiner Biographie markante Korrespondenzpunkte: Erfahrungen, die zurückreichen bis in seine Jugend, ins Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg. Zugleich finden sich in seiner schriftstellerischen Entwicklung thematische Verwandtschaften, die ihrerseits auf bemerkenswerte Kontinuitäten deuten. Sein gesellschaftspolitisches Engagement gegen restaurative Tendenzen im Westen, sein entschiedenes, zu keinem Zeitpunkt kompromissbereites Eintreten für Dissidenten im Ostblock – all seine Äußerungen aus dem Jahr 1968 sind in einem breiten Spektrum von Arbeiten aus der Nachkriegszeit und den 1950er Jahren vorbereitet.

Böll kommt im Zusammenhang mit ‹1968› eine herausragende Rolle zu: als politisches Vorbild, als öffentliche Figur und als charismatische Persönlichkeit. Der spätere Literaturnobelpreisträger (1972) war zu diesem Zeitpunkt bereits ein international bekannter Autor, Verfasser teils einmütig gerühmter, teils heftig umstrittener Romane wie Und sagte kein einziges Wort (1953), Das Brot der frühen Jahre (1958), Haus ohne Hüter (1960), Billard um halbzehn (1959) und Ansichten eines Clowns (1963). Er galt als Satiriker von hohen Graden, dessen Briefen aus dem Rheinland das Wochenmagazin Die Zeit in den Jahren 1962 und 1963 wiederholt breiten Raum gegeben hatte. Und er war ein prominenter Zeitgenosse, dessen Interventionen bisweilen heftige Kontroversen auszulösen pflegten, in der Bundesrepublik Deutschland wie in der DDR, auch in der Sowjetunion und selbst im damaligen Jugoslawien. Sein 100. Geburtstag hat Person und Werk im vergangenen Jahr
ins kulturelle Bewusstsein der Bundesrepublik Deutschland zurückgerufen. Publikationen würdigten Leben und Wirkung. Fernsehen, Rundfunk und Presse gedachten seiner. Durch Ringvorlesungen und auf Tagungen wurden ihm akademische Ehren erwiesen. Und selbst der Bundespräsident ließ es sich nicht nehmen, Heinrich Böll zwei Soirées zu widmen.

Was also war, was ist ‹1968› im Hinblick auf den Schriftsteller und Intellektuellen Heinrich Böll? An sechs Texten Bölls aus dem Jahr 1968 soll diese Frage im Folgenden erörtert werden.[1] Sie befassen sich mit unterschiedlichen Themen und Problemen, doch sie stehen, vermittelt über die Person ihres Autors, in enger Verbindung zueinander. Es geht um die Studentenbewegung, um Dissidenten in der Sowjetunion und um die katholische Kirche, um den Einmarsch der Ostblockstaaten in die Tschechoslowakei, um die Verabschiedung der Notstandsgesetze in der Bundesrepublik Deutschland – und es geht um ein kleines Gedicht.

Produktdetails
Veröffentlichungsdatum
August 2018
Herausgegeben von
Heinrich-Böll-Stiftung
Seitenzahl
21
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