Menschenrechte, autoritärer Populismus und „Asiatische Werte“

Hintergrund

In diesem Jahr 2018 begehen wir den 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) – einem Jahr, in dem zwei politische Themen die Region Südostasien beherrschen: der aufkommende „autoritäre Populismus“ eines Rodrigo Duterte auf den Philippinen und die Rückkehr zu den „Asiatischen Werten“, forciert durch Mahathir bin Mohamad in Malaysia.

President Rodrigo Duterte meets with Filipino community in Indonesia during his working visit in the country on September 9

Die jüngsten Erfolge Dutertes und Mahathirs sind bemerkenswerte Ergebnisse der repräsentativen Demokratie in ihren jeweiligen Ländern. Aber diese Entwicklungen künden von einer unbequemen Wahrheit – dass Demokratisierung sowohl zur Legitimierung von Autoritarismus als auch wie zu seiner Überwindung führen kann.

Auf den Philippinen findet Dutertes undemokratische Politik legitimierenden Zuspruch von einer gefühlten Mehrheit der Bevölkerung, in Malaysia zeugt Mahathirs historischer Wahlsieg von seiner anhaltend großen Popularität trotz oder gerade wegen seines allseits bekannten illiberalen Demokratieverständnisses und soziokulturellen Konservatismus.

Die Demokratisierungsprozesse in beiden Ländern haben unterschiedliche Tendenzen, doch die Machthaber, die siegreich aus ihnen hervorgingen haben ihre schlechte Menschenrechtsbilanz gemein. Die meisten Politiker würden in ihren Regierungsgrundsätzen der AEMR zumindest ein Lippenbekenntnis ablegen. Doch Duterte und Mahathir fordern die grundlegenden Ideale der UN-Menschenrechtscharta offen heraus. Ein herausragendes Merkmal ihrer Politik ist, dass sie sowohl die Institutionen als auch die Grundsätze der Menschenrechte attackieren.

Dutertes autoritärer Populismus  

Seit die von Duterte geführte populistische Bewegung am 30. Juni 2016 an die Macht kam, wird ein Kampf um die politische, gesellschaftliche und ideologische Vorherrschaft geführt. Abweichenden Meinungen begegnet das Duterte-Regime neben den üblichen systematischen Anfeindungen mit dem kreativen Gebrauch legalistischer Maßnahmen, um Oppositionsgruppen zu disziplinieren und zu bestrafen. Dies geschieht häufig im Namen der „Rechtsstaatlichkeit“, stabiler gesellschaftlicher Verhältnisse oder des nationalen Interesses.

Zentral für den Populismus Dutertes ist jedoch seine Strategie offensiver Massenmobilisierung. Das Hauptziel ist, dem Regime in der Bevölkerung die nötige kritische Masse zu verschaffen – sie soll die Institutionen, Grundsätze und Persönlichkeiten der liberalen Demokratie und der Menschenrechte kritisieren und untergraben.       

So ist beispielsweise Dutertes weltweit umstrittener „Krieg gegen Drogen“ im eigenen Land durchaus populär. In zwei Jahren seiner Präsidentschaft hat dieser Krieg je nach Quelle zwischen 4000 und 22.000 Menschenleben gekostet – getötet durch Milizen ebenso wie bei legalen Polizeieinsätzen. Duterte streitet ab, diese außerrechtlichen Tötungenzu dulden. Doch selbst wenn diese Tötungen von der Regierung nicht unterstützt oder arrangiert sind: Die Duterte-Administration behauptet nicht einmal, etwas gegen sie zu unternehmen.

Dutertes populistische Bewegung verschärft die bewusste Irreführung weiter Teile der einfachen Bevölkerung über Menschenrechtsgrundsätze. Menschenrechtsaktivist/innen und –Verteidiger/innen werden in die Defensive gedrängt, selbst rhetorisch. Die Idee der Menschenrechte wird manipulativ als die Verteidigung von Kriminellen dargestellt, statt mit dem Schutz der Schwachen, der Schutzlosen und der Opfer vor staatlichem und anderem Machtmissbrauch.

Um dem Einsickern von Dutertes menschenrechtsfeindlichen Vorstellungen in Herz und Verstand Einhalt zu gebieten, ist es wichtig, sich der Anfangsgründe dieses speziellen populistischen Phänomens zu erinnern. Der wachsende öffentliche Zuspruch für autoritäre Maßnahmen rührt nicht bloß von Dutertes Propaganda und ideologischer Manipulation her. Er ist auch Ausdruck der berechtigten Empfindungen einer „verunsicherten“ Bevölkerung, die sich aus eigenen Erfahrungen und dem gemeinsamen Wunsch nach gesellschaftlichen Veränderungen speisen. Wichtiger noch: Er ist eine Reaktion auf die Defizite und Heucheleien der liberalen Eliten, von denen in den letzten dreißig Jahren erwartet wurde, das Land demokratisch in Richtung auf gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt zu lenken.

Mahathirs Asiatische Werte

Mahathir kam am 10. Mai 2018 – nachdem er bereits 1981 bis 2003 als Premierminister Malaysias amtiert hatte – erneut an die Macht. Ihm gelang ein unwirklich anmutendes politisches Comeback, indem er die Führung der oppositionellen Koalition aus Gegner/innen seiner früheren Regierung übernahm und die sechzigjährige Herrschaft der Barisan Nasional (malaiisch für Nationale Front) und ihrer größten politischen Partei, der United Malays National Organisation, beendete.

Nach ihrer Wahl wiederholte die neue Regierung Mahathir ihre Wahlslogans für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, institutionelle Reformen und verschiedene beliebte wirtschaftspolitische Konzepte. Insbesondere in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 28. September 2018 bekräftigte Mahathir, „dass die neue Regierung Malaysias sich verpflichtet, alle bisher noch nicht unterzeichneten UN-Abkommen zum Schutz der Menschenrechte zu ratifizieren“. Er bemerkte jedoch, dass dies „nicht leicht sein wird …, weil Malaysia multiethnisch, multireligiös, multikulturell und multilingual ist“ – weshalb die Regierung „allen Menschen Raum und Zeit gewähren wird, um auf demokratischer Grundlage frei zu beratschlagen und zu entscheiden“.

Es ist zwar noch verfrüht, die Leistung der neuen Reformregierung zu beurteilen, doch man sollte sich an die menschenrechtsfeindlichen Altlasten aus Mahathirs 22jähriger Amtszeit erinnern – von der Durchsetzung des drakonischen Gesetzes zur inneren Sicherheit über die Unterdrückung von Kritikern bis zur Verletzung des Grundsatzes der richterlichen Kontrolle und zur Einführung diskriminierender sozial- und wirtschaftspolitischer Maßnahmen.

Mahathir ist einer jener originär rechten Populisten, deren Art politischen und wirtschaftlichen Nationalismus‘ vom Gedanken ethnischer Zugehörigkeit geprägt ist. Er ist der führende Verfechter so genannter „asiatischer Werte“, die unter anderem Ausdruck einer Kritik westlicher Vorstellungen von liberaler Demokratie und einer intellektuellen Rechtfertigung der „wohlwollenden“ autoritären Herrschaft sind.    

Mahathir sagt seine Meinung unverblümt und schert sich dabei nicht um politische Korrektheit. Aber er beherrscht auch meisterhaft eine politische Doppelzüngigkeit, vor allem wenn es um Demokratie geht. So deutet er beispielsweise an, der malaiische Pluralismus sei per se ein großes Hindernis – und nicht der Sinn und Zweck – für das Vorhaben seiner Regierung, alle UN-Menschenrechtsabkommen zu unterzeichnen, insbesondere das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung. Und wenn er von „Rechtsstaatlichkeit“ spricht, darf man nicht vergessen, dass viele der in Malaysia unter seiner derzeitigen Administration gültigen Verfassungs- und Strafrechtsbestimmungen sowie die Sicherheitsgesetze rassistisch, menschenrechtsfeindlich und für Oppositionspolitiker/innen repressiv sind.

Duterte-Mahathir-Menschenrechtsdiskurs – kritisch hinterfragt

Das Jahr 2018 bringt auch die Asiatische Menschenrechtscharta (Bangkok Declaration) zu ihrem 25. Jahrestag in Erinnerung; sie gilt als Meilenstein einer speziell asiatischen Sicht auf die UN-Menschenrechtscharta. Die Bangkok Declaration wurde lange im Menschenrechtsdiskurs als asiatische Relativierung der Menschenrechtsgrundsätze verstanden. Und während sie zwar eine deutliche Kritik am zweierlei Maß westlicher Werte ist, bekräftigt sie aber auch die Grundsätze der AEMR. Deshalb verlassen Duterte und Mahathir mit ihrer Missachtung und Geringschätzung der UN-Menschenrechtscharta sogar auch den Rahmen der Bangkok Declaration.

Ihre Diskursstrategie gegen die Menschenrechte folgt einer Taktik der verbrannten Erde. Im Kern zielt ihre Kritik auf die Zerstörung der Grundlagen der Menschenrechte: Universalität, Unveräußerlichkeit, Unteilbarkeit und Interdependenz.
Erstens richtet sich die Behauptung, die Wahrung der Menschenrechte sei „länderspezifisch“ (und als solche abhängig von Entwicklungsstand und soziokultureller Orientierung eines Landes), gegen den Grundsatz, dass Menschenrechte universell und somit allgemein gültig sind. Praktisch bedeutet dies die Leugnung der Tatsache, dass jeder Mensch, ungeachtet seines Geschlechts, seiner gesellschaftlichen Herkunft oder Status, seiner ethnischen Herkunft und Religion, Opfer von Misshandlung und Grausamkeit sein kann. Das Argument Dutertes und Mahathirs, die Freiheitsrechte seien auf die Bedingungen von Entwicklungsländern nicht anwendbar, blendet bewusst die historischen Gründe dafür aus, weshalb die Philippinen und Malaysia sich der UN-Menschenrechtscharta und den internationalen Bemühungen um eine friedlichere, humanere und entwickelte Welt anschlossen.  

Die UN-Menschenrechtscharta bot den Philippinen unmittelbar nach der Unabhängigkeit von den USA 1946 ein System von Grundsätzen für die Staatenbildung. Die aktive Mitwirkung der Philippinen an der Formulierung der AEMR war teils motiviert durch die zahlreichen Lehren aus der an Brutalität und Unterdrückung reichen Kolonialgeschichte, also durch die Erfahrungen mit den Kolonialmächten Spanien, Japan und USA. Die Ideale der AEMR beflügelten auch den Kampf des kolonialen Malaya um wirkliche Unabhängigkeit von Großbritannien 1957. Menschenrechtsgrundsätze – das Selbstbestimmungsrecht der Völker eingeschlossen – waren ein Grundpfeiler der darauf folgenden Entkolonialisierung und Staatenbildung im multiethnischen Malaysia.

Zweitens soll mit der Dichotomisierung von „guten Bürger/innen“ und „bösen Verbrecher/innen“ geleugnet werden, dass Rechte unveräußerlich sind. Zudem wird Kritiker/innen harter Strafmaßnahmen das Stigma aufgebrannt, Wegbereiter/innen von Chaos und Kriminalität zu sein. Wahr aber ist: Menschenrechtsverletzungen sind willkürlich.

Zu den Grundlagen der Staatslehre und politischen Philosophie gehört die Vorstellung, dass Regierungen notwendig sind, weil Menschen keine Engel sind und nicht jede/r Bürger/in von sich aus gesetzeskonform handelt. Das bedeutet: Als gewählte Staatschefs haben Duterte und Mahathir die Pflicht, in ihren Ländern nicht nur gesetzestreue Bürger/innen, sondern auch sozial unangepasste Menschen zu regieren. Die Regierungsaufgabe verlangt von Machthabenden menschliches Handeln in der Gesellschaft so zu lenken, dass das gesamte menschliche Zusammenleben besser wird, nicht nur das eines Individuums.Es ist nicht unüblich,  Armen selbst die Schuld für ihr Leid zu geben, Drogenabhängige für ihre Sucht zu verabscheuen oder Kriminelle für ihr Handeln zu verurteilen. Doch eine ganzheitlich denkende, weitsichtige Regierung muss die Empörung auf die gesellschaftlichen Bedingungen lenken, die jemanden unter Armut leiden lassen oder dazu beitragen, dass er/sie drogenabhängig oder straffällig wird. Humanes Regieren beinhaltet die Aufgabe, gesellschafts- und wirtschaftspolitische Politik und Institutionen zu schaffen, die ein Absinken in tiefste Armut, Drogensucht und Kriminalität am ehesten verhindern.

Drittens: Die Absicht hinter dem abgedroschenen Argument Dutertes und Mahathirs, „westliche“ Vorstellungen von Menschenrechten auf der Grundlage des Liberalismus seien für das Regieren asiatischer Gesellschaften und vorindustrieller Volkswirtschaften unbrauchbar, ist klar – es soll die Grundsätze der Unteilbarkeit und Interdependenz der -Menschenrechte unterminieren. Sie argumentieren , dass in den Philippinen und Maaysia und im kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Kontext Asiens das Recht auf Sicherheit und Entwicklung wichtiger ist als bürgerliche und politische Rechte, die der europäische und amerikanische Liberalismus privilegiert.

Aufgrund bestimmter Eigeninteressen hat die Betonung politischer Freiheiten im westlichen Liberalismus tatsächlich andere konstitutive Elemente der UN-Menschenrechtscharta in den Hintergrund gedrängt – insbesondere die Artikel 22 und 25 über den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und des Rechts auf persönliche Entwicklung. Ebenso hat die Doktrin der humanitären Intervention über die letzten fünfundzwanzig Jahre gezeigt, wie Menschenrechte als Instrument zur Verfolgung partikularer nationaler und Klasseninteressen genutzt werden können. Die im Namen der Humanität in der arabischen Welt geführten Interventionskriege haben vor allem zu Massenmord, zur Untergrabung der Souveränität und zur Zerstörung alter Zivilisationen und der Zukunft ihrer jungen Generationen geführt.  Die Kritik der Missetaten und des Moralisierens der liberalen Eliten ist zwar berechtigt, doch rechtfertigt sie wiederum nicht den Verstoß gegen die unteilbaren und einander bedingenden Werte der Menschenrechte.         

Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Sticker.