Britischer Aufbruch im Umbruch

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Die Ergebnisse der Kommunalwahlen in England und Nordirland am 2. Mai 2019 zeigen das Portrait eines enttäuschten, genervten Landes. Die zwei großen Parteien Labour und Conservative wurden abgestraft; kleine Parteien mit einer klaren und eindeutigen Meinung zum Brexit, insbesondere die Liberalen und die Grünen, gewannen an Stimmen. Auch die Europawahl am 23. Mai 2019 wird ein weiteres Abrechnen der Brit/innen mit den beiden Parteien bedeuten, die für die Misere in Parlament und Regierung bezüglich des Brexit verantwortlich gemacht werden.

Unterhaus

Die aktuellen Verhandlungen: Ein Stimmungsbild

Zurecht vertreten viele europäische Stimmen die Meinung, dass das Vereinigte Königreich derzeit ein Exempel statuiert, wie parlamentarische Demokratie gerade nicht funktionieren sollte: mit rollenden Köpfen in der Regierung, Stillstand im Parlament und Handlungsunfähigkeit in allen anderen politischen Bereichen. Seit Wochen versuchen die Premierministerin Theresa May und Jeremy Corbyn, Parteivorsitzender der Labour Partei, einen parteiübergreifenden Kompromiss zu finden. Nun hat Finanzminister Philipp Hammond vor wenigen Tagen erklärt, dass er aufgrund des unklaren Brexit-Ausgangs seine Haushaltsüberprüfung der letzten drei Jahre nicht fertigstellen könne. Damit würde auch die geplante Rede der Königin vorläufig abgesagt – eine Rede, in welcher die Königin die Gesetzgebungsagenda der nächsten Jahre darlegt und welche im britischen Kontext politisch wie symbolisch von großer Bedeutung ist.

Doch dieser Perspektive kann entgegengehalten werden, dass das britische Parlament die Stimmung und Gespaltenheit des Landes widerspiegelt: Denn der Brexit trifft sowohl auf ein gespaltenes Land mit abweichenden Mehrheiten in Regierung, Parlament und der Bevölkerung, als auch auf ein parlamentarisches System, welches die verhältnismäßige Repräsentation von kleineren Oppositionsparteien erschwert. In Gesprächen mit Londoner Bürger/innen scheint das Stimmungsbild im Land gemischt. Ich spreche mit Katharina Massmann, Deutsch-Britin und Politikstudentin an der Universität Bath: „Es gibt Remainer, die das Thema nicht mehr hören können. Es gibt Remainer, die sich über die Debatten im Parlament freuen. Es gibt Leavers, die endlich ihren ‚versprochenen Brexit‘ haben wollen, und genauso gibt es Brexiters, die die derzeitigen Entwicklungen im Parlament unterstützen.“ Laut aktuellen Umfragen von What UK Thinks EU lehnen etwa 48 Prozent der britischen Bevölkerung die Art und Weise des Umgangs des Unterhauses mit dem Brexit ab. In der Diskussion um den Brexit-Deal sind die Brit/innen gespalten: 23 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, dass das Unterhaus den diskutierten Brexit Deal definitiv weiterhin ablehnen solle. Bislang wurde das vorgeschlagene Abkommen zwischen Theresa May und der Europäischen Kommission sowohl von moderaten Brexiters, die einen harten Brexit befürworten, als auch von verschiedenen Remain-Lagern insgesamt drei Mal abgelehnt.

Die Blockade ist ein strukturelles Problem des britischen Wahlsystems

Dabei sei die Handlungsunfähigkeit des britischen Parlaments nicht Symptom eines demokratischen Defizits, sondern strukturellen Ursprungs, sagt Massmann. Das britische Mehrheitswahlsystem sei nicht in der Lage, diejenigen politischen Entwicklungen etwa in der Parteienlandschaft aufzufangen, die seit dem Brexit-Referendum 2016 angestoßen wurden. Längst ist das Bild eines Mehrheitsparlaments mit klaren Mehrheiten aufgebrochen; Fraktionszwänge wurden von Abgeordneten im House of Commons in keinem anderen Politikfeld so häufig ignoriert wie bei den Brexit-Abstimmungen – mit den politischen Konsequenzen.

Aufgrund des Mehrheitswahlsystems in Einer-Wahlkreisen sind die direkt gewählten Abgeordneten ihren Wähler/innen gegenüber Rechenschaft schuldig. Obwohl ein großer Teil (eine Mehrheit?) der Abgeordneten im Parlament einen Verbleib in der EU befürwortet, spiegelt diese Meinung häufig nicht die Mehrheit ihrer Wähler/innen im Wahlkreis wieder – ein parteiübergreifender Kompromiss im Parlament würde jedoch ihre eigene politische Karriere gefährden. Dieser Druck wird bei Abstimmungen noch medial verstärkt.
Durch die lange Tradition des bundesdeutschen Verhältniswahlrechts, der traditionellen Konsensorientierung sowie der Koalitionsregierungen in Deutschland und einigen anderen Ländern der EU fehle vielen europäischen Medien der Blick auf die kulturellen und strukturellen Gegebenheiten des Landes, so Massmann. Denn auch kulturell schafft das britische Parlament keine Anreize, Konsens zu ermöglichen. Etwa die Tatsache, dass sich das Parlament in zwei „Lagern“ gegenübersitzt, erschwert einen Konsens zwischen Opposition und Regierung bereits physisch; direkte Ansprachen zwischen Abgeordneten im Plenum sind nicht möglich.

Eine gute Sache am Brexit: Ein mächtiges Parlament

Dennoch resümiert Katharina Massmann: „Es gibt eine positive Entwicklung, die der Brexit dem Land gebracht hat: Ein mächtiges und trotzdem respektvolles Parlament in den Verhandlungen. Die Aktivistin Gina Miller - welche durch eine Klage beim Oberen Zivilgericht Großbritanniens erreicht hatte, dass das Brexit-Abkommen der Regierung von der Zustimmung des Parlaments abhängig ist - und die vielen Änderungsanträge haben die Macht des Parlaments gestärkt. Erst so ist es möglich geworden, dass das Parlament an Entscheidungsmacht gewonnen hat und ein harter Brexit politisch abgewählt wurde. Gleichzeitig haben die Abgeordneten einen respektvollen, unkomplizierten und humorvollen Umgang miteinander bewahrt. In diesen Zeiten ist das nicht selbstverständlich.“
Letztendlich wird das britische Parlament nicht umhin kommen, sich auf einen Kompromiss zum Brexit zu einigen. Doch die Gründe des Deadlocks haben vor allem eines deutlich gemacht: Es gibt, wenn überhaupt, nur eine hauchdünne Mehrheit für den Brexit. Diese Sicht sollte auch in den Medien anderorts deutlich werden.


What UK thinks EU - If the House of Commons were to vote again, do you think MPs should vote for or against the Brexit deal that has been agreed by the Government with the EU?

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Nina Locher

Nina Locher ist die Autorin des Brexit-Blogs der Heinrich-Böll-Stiftung und schreibt über die aktuellen Entwicklungen in Großbritannien. 

Derzeit absolviert sie den Master of Public Administration an der London School of Economics and Political Science (LSE). Von 2016 bis 2018 war sie in der Berliner Zentrale der Heinrich-Böll-Stiftung für Projekte zur Türkei und zu Griechenland, sowie zur Europäischen Energiewende zuständig.

Im Brexit-Blog thematisiert sie aktuelle Entwicklungen in Großbritannien sowie übergreifende Themen wie Gender und LGBTQ+, Bregret und die Generation-Brexit.