„Man muss sich im Leben behaupten und durchbeißen“

Erzählcafé

Beim Erzählcafé im Stadtteil- und Begegnungszentrum „Börgerhus“ in Rostock - Groß Klein tauschten sich zehn Frauen über ihre Lebensgeschichten nach der Wiedervereinigung aus.

Teilnehmerinnen beim Erzählcafé in Rostock

Das Jahr 1989 stellt einen großen Einschnitt im Leben von Erika Frehse dar. Im Mai stirbt ihr Mann. Und dann kommt die Wende. „Ich habe verstanden, dass ich mich immer wieder einbringen muss“, sagt die heute 80-Jährige. Aber das habe sie bereits als Kind gelernt, als sie mit ihrer Familie 1944 aus Ostpreußen nach Mecklenburg geflohen ist. Die Finanzökonomin arbeitet in der DDR als Abteilungsleiterin Finanzen in einem Betrieb, nach dem Umbruch landet sie beim Traditionsschiff in Rostock-Schmarl. Als sie in Rente geht, bleibt sie weiter aktiv und hilft einem westdeutschen Unternehmer bei der Vermarktung von Wohnungen. „Da waren die Goldgräber unterwegs“, lacht die rüstige Warnemünderin. Mit Stolz berichtet sie von ihrem Sohn, der sich in den alten Bundesländern „durchgeboxt“ habe. In der DDR wurde man gut ausgebildet, meint sie, „um diese Kader haben sich westdeutsche Unternehmer gerissen.“

Sie ist eine Teilnehmerin des Erzählcafés, das die Heinrich-Böll-Stiftung MV gemeinsam mit dem Regionalzentrum für demokratische Kultur Hansestadt und Landkreis Rostock der Evangelischen Akademie der Nordkirche im Börgerhus, dem Stadtteil- und Begegnungszentrum Groß Klein, organisiert hat. Auch aus Hamburg ist eine Teilnehmerin angereist. Insgesamt sind zehn Frauen zwischen 52 und 80 Jahren dabei. „Mit diesem Format im Jubiläumsjahr der friedlichen Revolution wollen wir einen Blick auf ostdeutsche Transformationserfahrungen nehmen.“ erläutert Susan Schulz von der Heinrich-Böll-Stiftung MV. Die „neuen Bundesländer“ haben eine spezifische Erfahrung als Kollektiv, das sie von den „alten Bundesländern“ unterscheidet: Der Systemwechsel 1989/90, der Niedergang des Sozialismus, aber auch die ökonomische, soziale und kulturelle Transformation, das waren ostdeutsche Erfahrungen. „In unserem Erzählcafé wollen wir den Frauen eine Stimme geben, ihre Lebensgeschichten und Erfahrungen miteinander austauschen. Das Erzählen soll eine Brücke zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsvision schlagen.“ hofft Susan Schulz.

„Es war bereichernd“, sagt Erika Frehse. „Ich werde die Dinge im Nachhinein verarbeiten, die mich angeregt haben.“ Ein bisschen Angst habe sie schon gehabt, als sie zum Erzählcafé gekommen ist, gesteht Barbara Witkowski. „Angst, dass die Vergangenheit wieder hochkommt“, so die 70-Jährige. Für sie stellt das Jahr 1989 eine Zäsur dar. Sie verlor ihre Arbeit als Lehrerin und konnte trotz vieler Versuche und Qualifizierungen nie mehr auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen. „Ich habe 15 Jahre lang geweint.“ Erst mit psychologischer Hilfe gelingt es ihr, wieder Lebensfreude zu entwickeln. Sie ist Mitglied der Partei Die Linke, aber dort nicht aktiv, weil ihr „das alles zu sehr weh tut“. Den Themen der DDR-Aufarbeitung verschließt sie sich, weil sie das nicht ertragen kann. „Jetzt lebe ich gerne“, sagt die Rostockerin. Aktiv nutzt sie die Angebote im Börgerhus. Flöte und Tanz stehen regelmäßig auf dem Programm.

Allen Frauen gemeinsam ist, dass sie in der DDR ein sicheres Arbeitsleben führten, aus dem sie ihre Anerkennung zogen. Der Wegfall von Arbeitsplätzen nach 1990, die Umorientierung mit weiteren Ausbildungen trotz Kind waren meist der entscheidende Umbruch, die Herausforderung. Eine Teilnehmerin nennt es „von Sicherheit zum Chaos“. Eine Teilnehmerin, die in der DDR als Ingenieurin arbeitete, wickelte sich nach der Wiedervereinigung quasi selbst ab, räumte ihr Büro aus und war gezwungen, alles auf den Müll zu werfen. Dieser Einschnitt bildet bis heute einen Bruch in ihrem Leben. Viele der anwesenden Frauen waren 1989/90 im Alter von 40 bis 50 Jahren und hatten das Gefühl, dass ihre Generation zumindest beruflich mehr verloren als gewonnen hat. Trotz prekärer Phasen haben viele Frauen durchgängig in ganz verschiedenen Bereichen gearbeitet.

Der Aspekt der verlorenen Sicherheit und Fürsorge zog sich durch weitere Lebensbereiche: Die Frauen mussten sich daran gewöhnen, für alles selbst verantwortlich zu sein, von der Pflege einer behinderten Schwester bis hin zur Beantragung der Übernahme medizinischer Kosten durch die Krankenkasse, dem Planen des Lebenslaufes der Kinder usw. Die gewonnene vollständige Eigenverantwortung war ihnen anfangs fremd und forderte sie heraus.

Die Zeit nach 1990 ist deshalb für viele Frauen kein Grund der Euphorie. Viele waren gegen die Wiedervereinigung, hofften auf einen dritten Weg. An ihrem Leben in der DDR schätzten sie den Zusammenhalt. So erinnern sich einige an gemeinsame Feiern im Trockenraum des Hauses. Als typisch ostdeutsch beschreiben sie zudem die Fähigkeiten, aus dem Nichts etwas zu machen und pragmatisch Entscheidungen zu treffen – sei es beim Job oder der Kindererziehung.

 „Ost“ und „West“ sind in den Augen der Frauen nach 30 Jahren kaum zusammen-gewachsen, auch, weil es immer noch unterschiedliche Löhne und Renten gibt. Die alten Bundesländer kennen viele von ihnen nicht besonders gut. Zur „Westverwandtschaft“ haben sie heute nahezu keinen Kontakt. Der brach nach ihren Aussagen nach 1990 ziemlich schnell ab. Auf die Politik blicken sie eher skeptisch und mit großer Enttäuschung.

Bei allen geäußerten Problemen erkennen die Frauen auch Positives an. Dazu zählen für sie die gewonnene Meinungs- und Reisefreiheit. Trotz der Auffassung, sich emanzipierter als Frauen im Westen zu fühlen, sind sie sich sicher, dass es egal ist, in welchem System man lebe. „Man muss sich als Frau behaupten und im Leben was machen und sich durchbeißen.“

Mittlerweile beschreiben sie sich fast alle als glücklich. In der Regel haben sie engen Kontakt zu ihren Nachbar*innen, feiern zusammen, „passen aufeinander auf“ und das „Kollektiv“ von früher leben sie in ihren heutigen Hausgemeinschaften weiter. Zu diesem „Kollektiv“ gehört für sie auch das Engagement im Börgerhus. Mit ihren früheren Arbeitskolleginnen treffen sie sich nach wie vor regelmäßig. Die Vereinzelung bzw. Individualisierung anderer Menschen ist ihnen fremd. Viele Teilnehmerinnen wohnen schon lange und sehr gern in Groß Klein, schätzen vor allem die guten Wohnbedingungen, Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte, das Börgerhus, die Nähe zur Ostsee. Für das Viertel wünschen sie sich eine bessere Anbindung an den ÖPNV und Gastronomie.

Das Erzählcafé war für alle Teilnehmerinnen eine neue Erfahrung, der sie sich erst stellen mussten. Am Ende sind sie erleichtert, sich gemeinsam mit ihrer eigenen Geschichte so offen und wertschätzend auseinandergesetzt zu haben.

Autorinnen: Renate Heusch-Lahl, Dr. Steffi Brüning, Susan Schulz, Christine Decker