„Die CHP bietet keine echte wirtschaftspolitische Alternative für die Türkei an“

Interview

Fikret Adaman, einer der führenden kritischen Ökonomen der Türkei, sieht noch größere Probleme für die türkische Wirtschaft als die aktuelle Währungskrise. Im Interview kritisiert er die einseitige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf Wachstum um jeden Preis.

Markt in Kadikoy, Istanbul
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Markt in Kadikoy, Istanbul

Oliver Müser: Sehr geehrter Herr Professor Adaman, Wirtschaftsexperten weltweit kritisieren den türkischen Präsidenten Erdogan dafür, dass er immer mehr Geld in eine Wirtschaft pumpt, die bereits unter einem starken Wertverlust der türkischen Lira leidet. Wie sehen Sie die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei unter der AKP-Regierung?

Fikret Adaman: Ich stimme dieser Analyse zum Teil zu. Die Entwicklung der Türkei in den letzten zwei Jahrzehnten basiert vor allem darauf, spekulatives Kapital von den Finanzmärkten in London zu nehmen und den Großteil davon in den Bausektor zu stecken, um Wohnungen und Bürotürme zu bauen, aber auch Brücken, Flughäfen, Autobahnen und so weiter. Das hat die Wirtschaft belebt und auch in anderen Sektoren die Nachfrage gestärkt, somit Arbeitsplätze geschaffen und den Wohlstand für viele Menschen in der Türkei spürbar erhöht.

Das klingt nach einer großartigen Strategie…

Nun ja, es ist sicherlich gut, neue Infrastruktur zu haben, aber der Bausektor bringt darüber hinaus keine große Wertschöpfung. Letztendlich muss man also immer wieder an zusätzliches Geld kommen, um die Schulden bezahlen zu können und diesen Weg weiterzugehen. Das war und ist teilweise immer noch das Wirtschaftsmodell der AKP und funktioniert so lange, bis dieser externe Kapitalzufluss nachlässt. Dann bekommt man ernsthafte Probleme, was die aktuelle Situation der türkischen Wirtschaft widerspiegelt.

Und wo sind Sie nun anderer Meinung als viele ihrer Kollegen und Kolleginnen?

Ich bin nicht unbedingt anderer Meinung, aber aus meiner Sicht ist das Bild größer als die aktuelle Krise. Die Situation, die ich gerade beschrieben habe, ist nur ein Aspekt. Es gibt aber noch mindestens zwei weitere Komponenten, die Teil eines größeren Problems der Entwicklung in der Türkei sind. Eine davon ist ökologisch:  Die meisten Aktivitäten im Bausektor sind mit erheblichen ökologischen Belastungen verbunden, was den CO2-Ausstoß, die Umweltverschmutzung, Land Grabbing und die Entwaldung betrifft. Die andere Komponente sind die sozialen Kosten: etwa ein Drittel der Beschäftigung ist Schwarzarbeit ohne soziale Absicherung wie zum Beispiel angemessene Renten. Und auch ohne physische Sicherheit, jeden Tag sterben etwa fünf bis sechs Menschen in der Türkei bei Arbeitsunfällen auf Baustellen, in Bergwerken oder im Transportsektor. Während ich der Analyse der monetären Probleme der türkischen Wirtschaft zustimme, sehe ich aber die beiden gerade genannten Komponenten als mindestens ebenso ausschlaggebend an.

Fikret Adaman

Fikret Adaman ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Boğaziçi Universität in Istanbul und ist Experte für soziale Integration bei der Europäischen Kommission. Er hat an der Universität Manchester promoviert. Das von ihm mitherausgegebene Sammelwerk “Neoliberal Turkey and its discontents” wurde 2017 veröffentlicht.

Man sagt, dass Krisen auch Chancen bergen können. Eine gewagte These: Die Regierung überdenkt derzeit ihre Wirtschaftspolitik?

(lacht) Das bezweifle ich stark. Erstens bestreitet Erdogan natürlich, dass es eine ernste Krise gibt. Und zweitens funktioniert das aktuelle Entwicklungsmodell im Allgemeinen für ihn. Er scheint in der Lage zu sein, die Lira halbwegs stabil zu halten und politisch stark zu bleiben.

Sind die verlorenen Wahlen in Ankara und Istanbul nicht Anzeichen dafür, dass viele ehemalige AKP-Wähler und Wählerinnen nicht nur das politische Klima satthaben, sondern auch vom wirtschaftlichen Abschwung frustriert sind?

Sicher, aber insgesamt steht immer noch eine Mehrheit des Landes hinter Erdogans Regime. Das ist es, was für ihn zählt. Der Großteil der AKP-Wähler und Wählerinnen hat keine direkten Verbindungen nach Europa: sie reisen nicht ins Ausland, haben keine Wirtschaftsinteressen im Ausland, sie sind nicht wirklich von importierten Waren abhängig...

.. Aber steigende Preise, insbesondere Lebensmittelpreise, treffen seine Basis doch sicherlich hart...

Bisher ist er in der Lage, vieles davon durch eine Reihe von Subventionen für Bedürftige abzufedern.

In ihrem 2017 veröffentlichen Sammelwerk bezeichnen Sie den Entwicklungspfad der Türkei als "neoliberal". Wie passt die Unterstützung der Armen in diese Bewertung?

Das Ensemble der sozialpolitischen Maßnahmen, die die AKP verfolgt (hat), ist ein Paradebeispiel für neoliberale Politik. Das Sozialsystem wurde von einem rechtebasierten automatischen Unterstützungssystem zu einer Basishilfe umgebaut, bei der Betroffene Bittsteller sind. Darüber hinaus ist es ein Patronage-System, das der AKP dient. Wenn du Unterstützung brauchst, musst du die richtigen Verbindungen herstellen und der Großteil der Gelder wird von den Gemeinden vergeben, die wiederum oft von der AKP kontrolliert werden. Das Sozialsystem ist also eine Mischung aus neoliberaler Forderungshaltung und Klientelismus.

Was verstehen sie eigentlich unter „neoliberal“ und inwiefern beschreibt das die Entwicklung der Türkei?

Für mich bedeutet Neoliberalismus die Förderung der Marktideologie in allen Lebensbereichen. Das trifft auf die Türkei zu, Markt- und Wachstumsideologie waren und sind in der AKP-Politik sehr dominant. Gemeinsam mit einigen Kollegen und Kolleginnen stellen wir diese Art von Entwicklungspolitik aufgrund der genannten sozialen und ökologischen Kosten in Frage, aber das Paradigma ist so stark, dass wir die Menschen in der Türkei kaum erreichen, ob AKP-Anhänger und Anhängerinnen oder nicht.

Apropos Nicht-AKP-Wähler und Wählerinnen: Nach ihren Wahlerfolgen in Istanbul und Ankara gibt es viel Hoffnung rund um die CHP. Hat sie denn eine alternative Idee von Wirtschaftspolitik?

Nicht, dass ich wüsste und ich halte das für ein großes Problem. Nicht nur die CHP bietet keine wirkliche Alternative an, auch die HDP ist schon immer so sehr mit Identitätsfragen beschäftigt gewesen, dass sie der politischen Ökonomie des Landes nicht genug Aufmerksamkeit schenkt. Wir befinden uns also in einer Situation, in der mehr oder weniger alle Parteien den gleichen Entwicklungsplan haben und Erdogan es halbwegs gut macht. Also denken sich viele Leute: Es ist nicht perfekt, aber das ist halt das Leben. Und so kann sich das System erhalten. Es gibt beispielweise auch keine ernsthafte Diskussion über die strukturellen Gründe für die anhaltende Einkommens- und Vermögensungleichheit. Warum nicht? Vor allem, weil Großteile der Einkommensschwachen entweder der AKP oder der HDP nahestehen und in den letzten Jahren eher von nicht-wirtschaftlichen Überlegungen motiviert wurden. "Ja, wir sind arm, aber konzentrieren wir uns auf die kurdische Sache", "Ja, wir sind arm, aber mal sehen, ob wir mehr Moscheen bauen können."

Was ist - angesichts dieses Mangels an Alternativen in der Politik - Ihre Vision für die Entwicklung der Türkei?

Ich denke, die Türkei - und andere Länder natürlich auch - brauchen eine Politik, die ein Green-Jobs-Programm mit einer Reihe von steuerlichen Anreizen für ein Wachstum kombiniert, das von Forschung und Entwicklung angetrieben wird, nicht von immer mehr Ressourceneinsatz. Gleichzeitig sollten höhere Umweltsteuern eingeführt werden, begleitet von gezielten Sozialtransfers an einkommensschwache Haushalte, um negative Verteilungseffekte abzumildern. Diese Maßnahmen könnten sich zwar negativ auf das BIP-Wachstum auswirken, wie Studien der Weltbank gezeigt haben. Dieselben Studien zeigen jedoch auch, dass diese möglichen Wachstumseinbußen ausgeglichen werden können, etwa durch die wirtschaftlichen Gewinne einer gesünderen Bevölkerung dank geringerer Umweltverschmutzung, durch eine effizientere Ressourcennutzung und weniger Müllproduktion.

Zwei abschließende Fragen, Herr Professor Adaman, erstens: Was ist Ihrer Meinung nach das größte Missverständnis im "Westen" über die politische Ökonomie der Türkei?

Nun, ich denke, das größte Missverständnis war es, Erdogans frühe Schritte als aufrichtige demokratische Überzeugung zu betrachten. Man kann kein Doppelleben führen: Einerseits Menschenrechte und Demokratie fördern, wie Erdogan es in den ersten fünf bis sechs Jahren durchaus getan hat, und sich gleichzeitig auf informelle, undemokratische Netzwerke verlassen. Wenn man seine Macht auf solche Netzwerke stützt, können die Dinge leicht außer Kontrolle geraten, weil immer die Frage nach der Verteilung des Kuchens unter den Teilhabern im Raum steht...

…vor allem, wenn der Kuchen kleiner wird...

Genau, sobald es auch nur Anzeichen dafür gibt, dass der Kuchen vielleicht kleiner wird. Dann gehen plötzlich vielleicht sogar Verbündete aufeinander los. Und so würde ich den Putschversuch 2016 interpretieren, der wiederum der finale Auslöser war, Erdogan und seinen politischen „Stil“ zu dem zu machen, was er heute ist.

Und die allerletzte Frage: Was war oder ist Ihrer Meinung nach Erdogans größter wirtschaftspolitischer Fehler?

Der größte Fehler hat nichts mit Erdogan direkt zu tun, es ist eher ein generelles Problem. Ich sehe, wie gesagt, den Fehler bei der Sichtweise, Entwicklung synonym als Wirtschaftswachstum zu verstehen. Dieses Denken: "Nenn’ mir deine Wachstumsrate und andere Kennzahlen und ich sag’ dir, wie gut deine Politik ist". Diese vereinfachte Vision ist der größte Fehler, natürlich nicht nur in der Türkei. Sie schiebt alle ökologischen und sozialen Kosten beiseite und lässt marginalisierte Gruppen, die sich nicht wehren können, diese Kosten tragen. Oder verschiebt sie auf die nächste Generation.

Lieber Herr Professor Adaman, vielen Dank für dieses Gespräch.