Fünf Mini-Silicon-Valleys im hohen Norden

Kommentar

Kanada hat starke Forscher, aber schwache Technologiekonzerne. Die Heimat des Deep Learning sucht nach Wegen, ihr wissenschaftliches Kapital zu kommerzialisieren. Die Innovationsagenda der Trudeau-Regierung lieferte bisher nur einen Teil der Antwort.

Toronto Skyline bei Nacht

Für Kanadas Technologie-Sektor ist der Wahlkampf ein lukratives Zeitfenster. Vor den Parlamentswahlen am 21. Oktober lässt die Trudeau-Regierung einen kleinen Geldregen über die Branche niedergehen. Von Vancouver am Pazifik über Edmonton in der Prärie bis Halifax am Atlantik investiert sie kleinere Millionenbeträge in Programme, die Start-up-Unternehmen beim Wachsen helfen sollen.

Die Nachrichten klingen wie ein Echo der „Innovations-Agenda“, mit der Trudeau vor vier Jahren angetreten war. Im Wahlkampf versprach er damals dreistellige Millionensummen für die Förderung von Gründern und Forschern sowie für ein Programm, das etablierten Unternehmen Zugang zu neuen Technologien ermöglicht. Unter der konservativen Regierung von Stephen Harper sei Kanada als Innovationsland zurückgefallen, schimpfte der Vorsitzende der Liberal Party damals.

Im globalen Wettbewerb um digitale Technologien ringt Kanada mit ähnlichen Problemen wie andere mittelgroße Industrienationen. Der Digitalsektor bedroht die traditionellen Industrien und wenige Technologiefirmen sind groß genug, um es mit der US-amerikanischen sowie der wachsenden chinesischen Konkurrenz aufzunehmen. Immerhin zeigt der Trend aktuell nach oben: Technologiewerte waren in diesem Jahr die Stars am kanadischen Aktienmarkt.

Big Data im Westen, Roboter im Osten, Proteine in der Mitte

Ein wichtiges technologiepolitisches Markenzeichen der Trudeau-Jahre ist die Superclusters-Initiative. Die Regierung in Ottawa stellt dafür bis zu 950 Millionen kanadische Dollar (zum Zeitpunkt der Ankündigung im Mai 2017 mehr als 620 Millionen Euro) bereit, wobei der private Sektor den gleichen Betrag aufbringen soll. Das Ziel ist die Schaffung von fünf kanadischen Mini-Silicon-Valleys. Die Provinz British Columbia an der Westküste soll ein Zentrum für Big Data und digitale Technologien werden, während Quebec sich auf KI und Robotik spezialisiert. In Ontario soll der Fokus auf der kanadischen Variante von Industrie 4.0 liegen. Zwei weitere Cluster beschäftigen sich mit Proteinforschung und mit innovativen Technologien für Kanadas See- und Küstenindustrien.

Mit besonderem Ehrgeiz betreibt die Trudeau-Regierung das Ziel, Kanada als führenden Forschungs- und Entwicklungsstandort für Künstliche Intelligenz (KI) zu etablieren. Damit knüpft sie an Kanadas eigene Geschichte an. Die Gurus des „Deep Learning“ erzielten ihren Durchbruch an kanadischen Universitäten.  Heutige KI-Anwendungen, etwa in der Sprach- oder Bilderkennung, bei denen so genannte „neuronale Netzwerke“ Muster erkennen und die Ergebnisse abstrahieren lernen, basieren auf den Forschungsergebnissen von Geoffrey Hinton, Yoshua Bengio und Yann Lecun in Toronto und Montréal.

Die kanadische KI-Landschaft kann sich auch heute sehen lassen. Große US-Konzerne von Google bis Uber investieren in KI-Forschung in Kanada. Das Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Wirtschaftsentwicklung zählt in dem Land mit 37 Millionen Einwohnern 800 Start-up-Unternehmen, 60 öffentliche Labore und 75 Inkubatoren und Akzeleratoren in dem Bereich, sowie 91.000 qualifizierte IT-Arbeitskräfte und 9.000 Studenten, die auf KI und Datenverarbeitung spezialisiert sind. Die KI-Szene konzentriert sich in Toronto, Montréal, und Vancouver, aber sie ist auch in Edmonton, der Hauptstadt der ölreichen Prärieprovinz Alberta, stark vertreten, sowie im kleinen Städtchen Waterloo in Ontario, der Heimat von Blackberry.

Trumps restriktive Einwanderungspolitik: ein Segen für Kanada

Bei dem Jobzuwachs hat die amerikanische Politik unfreiwillig mitgeholfen. Als die US-Regierung nach dem „Buy American and Hire American“-Dekret von Präsident Donald Trump im Jahr 2017 das H-1B Visaprogramm für Fachkräfte zurückfuhr, steuerte Kanada in die entgegen gesetzte Richtung. Unter dem Global Talent Stream Programm wurde die Bearbeitungszeit für Arbeitsvisa für Computer- und Naturwissenschaftler von zehn Monaten auf zwei Wochen reduziert. Nach Angaben der kanadischen Regierung haben seit dem Start im Januar 2019 mehr als 1000 Technologiefirmen von dem Programm Gebrauch gemacht und 4000 Jobs für internationale Arbeitskräfte geschaffen. Die offene Einwanderungspolitik ist einer der Gründe, warum viele Tech-Riesen aus dem Silicon Valley neue Standorte in Kanada eröffnet haben.

Auch international hat Trudeau dafür gesorgt, dass sein Name mit dem Thema KI verbunden wird. Gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron stieß er im Rahmen der G7 die Gründung der „Global Partnership on Artificial Intelligence“ an. Das neue globale Expertennetzwerk soll einen Rahmen für eine verantwortliche Nutzung von KI entwickeln. In diesem Zusammenhang soll in Montréal, der Hauptstadt der französischsprachigen Provinz Quebec, für 15 Millionen kanadische Dollar ein Zentrum für die Forschung zu Künstlicher Intelligenz entstehen.

Doch auch wenn in Kanada so viel geforscht und gegründet wird, hat das Land den ersehnten Durchbruch in die erste Tech-Liga bisher nicht geschafft. Was fehlt, sind die viel beschworenen „Unicorns“, Technologie-Start-ups, die aus eigener Kraft zu einer Macht am Markt werden statt irgendwann von US-amerikanischen Platzhirschen aufgekauft zu werden. „Wir sind eine Start-up-Nation, keine Scale-up Nation,“ klagt der kanadische Kolumnist David Crane. Zu den wenigen Ausnahmen zählt Shopify. Das Online-Handelsunternehmen wurde von dem Deutschen Tobias Lütke gegründet – und hat sich zu einem ernst zu nehmenden Rivalen für Amazon gemausert.

Eine Start-up Nation, keine Scale-up Nation

Die Trudeau-Regierung habe ihre Innovations-Agenda gut vermarktet, sagt Crane, der in Publikationen wie der Hill Times und IT World Canada über Technologiethemen schreibt. „Aber sie hat keinen analytischen Rahmen geschaffen, sondern ihre Politik auf Einzelmaßnahmen aufgebaut.“ Im Wahlkampf spiele das Thema Technologie bisher weder beim Team von Trudeau noch bei dessen konservativem Gegner Andrew Scheer eine große Rolle, so Crane.

Die mangelnde Kommerzialisierung von Innovationen ist die größte Achillesferse der kanadischen Tech-Industrie. Die Unfähigkeit, mit Steuergeld geschaffene Vermögenswerte in Wertschöpfung im eigenen Land zu übersetzen, sei ein „Versagen der Innovationspolitik“, heißt es in einer Studie des Thinktanks Public Policy Forum. Die Förderprogramme der Regierung seien zu einseitig auf kleinere Unternehmen ausgerichtet, statt darauf, größeren Firmen an der Schwelle zur globalen Expansion zu helfen, klagt Benjamin Bergen, der Direktor des Council of Canadian Innovators. Dieser Gruppe mangelt es an Risikokapital. Deshalb fordern Experten in solchen Fällen langfristige Hilfen der öffentlichen Hand.

Eine stärker an Kanadas nationalem Interesse ausgerichtete Industriepolitik fordert Dan Ciuriak, Experte für Innovationspolitik am Center for International Governance Innovation (CIGI). In einem Gastbeitrag für die Zeitung Globe and Mail erinnerte er an den Zusammenbruch des kanadischen Telekommunikationskonzerns Nortel Technologies im Jahr 2009, den größten Unternehmensbankrott der kanadischen Geschichte. Die Harper-Regierung entschied sich damals gegen ein Bailout für das schlecht geführte Unternehmen – und Wettbewerber wie Ericsson und Hitachi kauften die Technologie-Assets auf. Aus heutiger Sicht sei das ein Fehler gewesen, schreibt Ciuriak. Mit einem geretteten Nortel könnte Kanada bei der Suche liberaler Demokratien nach Alternativen zu dem chinesischen Netzwerkanbieter Huawei Technologies heute ein Teil der Lösung sein.

Kartellrecht und Datenschutz: Kanadas spätes Erwachen

Andere Beobachter werfen der Regierung eine Vernachlässigung des Wettbewerbsrechts vor. Während die EU-Behörden die Tech-Monopole aus den USA schärfer ins Visier genommen hätten, habe Kanada das Budget für sein Kartellamt in den letzten fünf Jahren gekürzt, hielt Grant Bishop, Experte für Regulierung und Wettbewerbsrecht, am C.D. Howe Institute im April fest. Die Innovations-Strategie der Regierung aus dem Jahr 2017 erwähne Wettbewerbsfragen mit keinem Wort.

Das Thema kam dann aber doch auf, als Kanadas Minister für Innovation, Wissenschaft und Wirtschaftliche Entwicklung Navdeep Bains im Mai eine „Digital-Charta“ vorstellte. Das Dokument enthielt einen Brief des Ministers mit der Bitte an Kanadas obersten Wettbewerbshüter, bei Datenmonopolen genauer hinzusehen. Die Zehn-Punkte Charta enthält die Forderung nach Kontrolle über die eigenen Daten, das Bekenntnis zum Kampf gegen extremistische Online-Inhalte sowie das Versprechen, Kanadas Datenschutzgesetz aus dem Jahr 2000 zu aktualisieren.

In der politischen Debatte spielt Datenschutz eine kleinere Rolle als in der EU oder aktuell in den USA. Dabei ist er auch in Kanada ein heikles Thema. Im vergangenen Jahr sorgte ein Plan des nationalen Statistikamtes, Bank-Informationen aller Kanadier zu sammeln, für Aufregung. Das entsprechende Gesetz soll jetzt überarbeitet werden.

Und dann wäre da noch Sidewalk Toronto, das Symbolprojekt für Kanadas digitale Zukunft. In einem am Ufer des Ontario-Sees gelegenen Stadtteil von Toronto will die Google-Schwester Sidewalk Labs eine Smart City entwickeln. Auf öffentlicher Seite sind die nationale Regierung, die Regierung der Provinz Ontario und die Verwaltung von Toronto zu gleichen Teilen an dem Projekt beteiligt. Nun steht es womöglich vor dem Aus, nachdem Datenschutz-Experten Alarm geschlagen haben und die Gefahr sehen, dass die schlaue Stadt gläserne Bürger produzieren wird. Die entscheidende Sitzung über den Fortbestand des Projektes soll am 31. Oktober stattfinden. Die Zukunft der Smart City hängt damit ebenso in der Luft wie Trudeaus Wiederwahl.