Konnte es einen Dritten Weg für die DDR geben?

Reinhard Bütikofer, heute Mitglied des Europarlamentes, war als baden-württembergischer Grüner im November 1989 mit der Heinrich-Böll-Stiftung in Leipzig, zum Austausch mit den dortigen Bürgerbewegten.

Straße von Lützen nach Kaja
Teaser Bild Untertitel
Straße von Lützen nach Kaja

Wo ich war, als 1989 die Mauer geöffnet wurde, weiß ich nicht mehr. Es kann gut sein, dass ich als Landtagsabgeordneter irgendwo eine Veranstaltung hatte und erst am Folgetag richtig mitbekam was geschehen war. Ich gehörte nicht zu den wenigen Grünen, die intensive Kontakte in die DDR hatten. Solidarność in Polen und die rebellischen Studenten in Peking waren mir politisch näher als die Akteure der friedlichen Revolution in Ostdeutschland.

Nur einmal, Anfang Oktober 1989, war ich zusammen mit anderen Grünen aus Baden-Württemberg in Ostberlin gewesen, um dort mehr oder weniger heimlich Vertreter/innen der verschiedenen ostdeutschen Bürgergruppen zu treffen. Marianne Birthler war dabei, Wolfgang Rüddenklau, Jens Reich, die Poppes und etliche andere. Wir hatten über die Frage der Wiedervereinigung diskutiert. Die von einigen der Ostberliner Teilnehmenden vorbereitete Erklärung, mit der wir unsere gemeinsame Ablehnung einer Wiedervereinigung hätten ausdrücken sollen, blieb unverabschiedet, weil sie mich nicht überzeugen konnten, dass es real eine Alternative dazu gäbe. Über den sogenannten Dritten Weg hatte ich damals viel gelesen was tschechische und polnische Autoren geschrieben hatten, und bezweifelte, dass es einen solchen Dritten Weg für die DDR geben könnte.

Noch bevor Helmut Kohl am 28. November 1989 sein berühmtes 10-Punkte-Programm im Bundestag vorstellte, war es die Heinrich-Böll-Stiftung unter der Federführung von Lukas Beckmann, die zu einem Seminar nach Leipzig einlud, um dort im Neuen Rathaus westdeutsche Grüne und ostdeutsche Bürgerbewegte näher miteinander bekannt zu machen. Da hatte ich dann so viel Feuer gefangen, dass ich unbedingt hinfahren musste. Ich war danach vier Jahre lang fast jeden Monat mindestens einige Tage im Osten, insbesondere in Sachsen, um die dortigen Bürgerbewegten und Grünen zu unterstützen.

Ich lernte die „Gruppe der 20“ aus Dresden kennen, noch bevor Arnold Vaatz und seine Freunde wie Matthias Rößler, Erich Iltgen und Herbert Wagner Anfang 1990 bei der CDU eintraten. Ich meinte damals, sie hätten zu uns Grünen kommen sollen. Ich erlebte am 27. Oktober 1990 die Neukonstituierung des Sächsischen Landtages in der Dresdener Dreikönigskirche, bei der Antje Hermenau von den Abgeordneten der Grün-Bürgerbewegten Fraktion am meisten Aufmerksamkeit erregte. Ich machte zur Bundestagswahl 1990 fast mehr Wahlkampf in Sachsen als in Baden-Württemberg, weil wir im Westen ja ohnehin ein prima Ergebnis erzielen würden, und erlebte dabei, was für imposante Führungspersonen der neuen Demokratie in Sachsen Wolfgang Ullmann und Werner Schulz waren.

Mein bemerkenswertestes Erlebnis aus der Wendezeit geschah aber schon bei der Rückfahrt von der Leipziger Böll-Veranstaltung. Meine damalige Frau und ich hatten uns entschieden über Land nach Hause zu fahren, um ein bisschen was zu sehen von einem Land, das wir beide nicht kannten. Irgendwo in Sachsen-Anhalt traf mich der Anblick eines Straßenschildes, das den Weg nach Lützen anzeigte, wie ein Schlag. Lützen war mir ein historischer Begriff. In der Schlacht von Lützen hatte im Dreißigjährigen Krieg der schwedische König Gustav II. Adolf den Tod gefunden. In meiner evangelischen Familie galt der Wasa-König als eine der großen heroischen Gestalten des Protestantismus, aber dass es diesen Ort Lützen nicht nur im Geschichtsbuch gab, sondern auch tatsächlich, davon hatte ich mir keinen Begriff gemacht. Wir fuhren natürlich hin zu diesem mythischen Ort. Und wir besuchten dann auch noch andere Orte, die mir allesamt demonstrierten, wie sehr, jedenfalls für mich, die östliche Hälfte dieses geteilten Deutschlands fremdgeworden war.

In den 30 Jahren seither ist vieles zusammengewachsen. Es ist aber nicht verwunderlich, dass die tiefen Spuren einer langen Zerrissenheit noch nicht ganz verschwunden sind.