Antisemitismus und Moderne

Rede

Antisemitismus ist der Hass auf das Universale und auf das Partikulare der modernen menschlichen Existenz, analysiert der Tel Aviver Soziologe Natan Sznaider – und rät zu kühlem Blick und jüdischem Selbstbewusstsein. Wir veröffentlichen eine aktualisierte Fassung seines Vortrags in der Heinrich-Böll-Stiftung.

Viele Menschen laufen über eine Straße

Antisemitismus und Distanz

Kann, ja darf es einen distanzierten soziologischen Blick auf Antisemitismus geben?[1] Kann das Thema überhaupt jenseits politischer Zuschreibungen erörtert werden? Im politischen Blick sind Antisemiten immer die Anderen, dient der Antisemitismusvorwurf oft als politischer und ideologischer Blitzableiter. Das haben die Reaktionen auf den antisemitischen Anschlag in Halle im Oktober 2019 noch einmal deutlich gezeigt. So schnell wird der soziologische Blick mit der Sache nicht fertig. Er ist zugleich weiter weg und näher dran, er konfrontiert uns mit der Mannigfaltigkeit der verschiedensten Beschreibungen derselben Wirklichkeit.

Worauf also lassen wir uns ein, wenn wir Antisemitismus begreifen wollen? Meinen wir ein Gefühl, ein Ressentiment, eine Haltung, ein Gerücht oder gar nur ein Vorurteil über eine bestimmte soziale und kulturelle Gruppe, die Juden genannt wird? Und wer sind diese Jüdinnen und Juden, denen so vieles übelgenommen wird? Von wem reden und theoretisieren wir also, wenn wir über Juden sprechen und nachdenken?

Als Mitherausgeber eines Sammelbandes, der die globale Debatte über Antisemitismus zu bündeln versucht hat, fiel mir auf, dass wir es mit einem programmatischen Selbstbedienungsladen zu tun haben. Autoren und Autorinnen, die über den Antisemitismus schreiben, suchen sich den Antisemitismus aus, der politisch am besten passt. Da kann der Antisemitismus rechts, links, islamisch sein, aus der Mitte oder von sonst woher kommen. Trotzdem ist gerade in der letzten Zeit nicht zu leugnen, dass der Antisemitismus täglich sein hässliches Gesicht zeigt: Kippaträger (also sichtbare Juden) fühlen sich in Deutschland und nicht nur dort zusehends unsicher, jüdische Kinder werden nicht nur in den Schulen gemobbt.

Im Netz hasst sowieso jeder jeden, aber Juden werden dort ziemlich schlecht behandelt. Und natürlich der schon erwähnte Versuch eines rechtsradikalen deutschen Terroristen am höchsten Feiertag der Juden, am Yom Kippur, ein Massaker an Juden anzurichten. Natürlich kann man den Anschlag in Halle in erster Linie im Lichte des Versagens der Sicherheitskräfte in Halle und Sachsen-Anhalt behandeln: Die Synagoge war polizeilich nicht geschützt, obwohl sie es gerade am höchsten jüdischen Feiertag sein sollte. Eine Debatte um Sicherheitsfragen und den Schutz jüdischer Institutionen in Deutschland musste beginnen, und sie begann. Aber es geht darum, das Phänomenon jenseits von Sicherheitsfragen zu fassen zu bekommen.

Alarmisten und Leugner

Wie untersucht man Antisemitismus, wenn man zwar nicht gleich alle durchaus berechtigten Sturmglocken läuten lassen möchte, als wäre er ein metaphysischer Ungeist, der über uns kommt und verschwindet, doch andererseits auch nicht mit denen übersteinstimmen will, die da sagen, dass alle Ängste eigentlich übertrieben seien und der Judenhass ständig abnehme. Es lassen sich Statistiken zu beiden Ansichten finden. Wer über Antisemitismus spricht, sieht sich zumeist in einer fatalen Dichotomie zwischen Alarmisten und Leugnern gefangen. Alarmisten sehen das hässliche Gesicht des Antisemitismus wieder auferstehen und sehen fast jeden gegen Israel gerichteten Ausdruck politischer Kritik als Fortsetzung des Antisemitismus mit anderen Mitteln.

Alarmisten stellen auch unsere Alltagssicherheit in Frage und lassen uns daran zweifeln, dass wir in einer existentiell sicheren Welt leben. Leugner dagegen versuchen, die Angriffe auf Israel als politisch gerechtfertigt zu verteidigen. Sie bestreiten, dass es eine neue Welle des Antisemitismus gibt, sie behaupten, dass die Islamophobie eigentlich schlimmer sei. Beide Seiten verlieren sich häufig in einer Debatte über die Legitimität der Kritik an Israel. Es ist am Ende eine Diskussion, die die politischen Einstellungen der Sprecher (man ist entweder für oder gegen Israel) verstärkt. Wenn überhaupt, sprechen sie eher über aktuelle Manifestationen der Islamophobie, indem sie ein Gefühl gegen das andere ausspielen. Leugner zweifeln auch die gefühlte Alltagserfahrung von Juden und Jüdinnen an. Man soll nicht übertreiben, sagen sie, wir leben in der für Juden besten Welt, die es je gab.

Antisemitismus und Israel

In der Debatte über diesen neuen Antisemitismus wird auch der Vorwurf erhoben, dass die Kritik an Israel in einigen Fällen weit über eine sachlich gerechtfertigte Kritik hinausgehe und dass ihr wahres Motiv antisemitisch sei. Als Zentren dieses neuen Antisemitismus werden die islamische Welt, aber auch Europa ausgemacht, als ihre Träger werden einerseits islamistische Kräfte gesehen, zum anderen aber auch Teile der weltweiten Linken, deren Antizionismus sich nur allzu oft als Antisemitismus entlarve. Seinen Ausdruck finde der neue Antisemitismus einerseits in einer neuen verbalen Radikalität gegenüber Israel und den Juden insgesamt, andererseits in einer neuen Gewaltsamkeit, die sich in der gestiegenen Zahl der Übergriffe gegen Juden manifestiere.

Die Gründung des Staates Israel als Ausdruck jüdischer politischer Souveränität macht es uns in der Tat nicht einfacher, über Antisemitismus nachzudenken. Warum gibt es so viel Kritik an Israel? Ist die Kritik berechtigt? Ist es zu viel Kritik und die Motivation der Kritiker fragwürdig, also antisemitisch? Damit wird deutlich, dass sich mit der Gründung des Staates Israel die Umrisse dieser Debatte völlig geändert haben. Nach 1945 schien es mehr als natürlich, dass nur der Zionismus das für die Juden von den Nazis Zerschlagene wieder zusammenfügen kann. Ein mystisches Grundereignis, das politisch übersetzt wurde, nämlich den Juden einen Staat zu geben. Israel ist ein theologisches und ein politisches Projekt zugleich. Ein Beispiel: Gleich nach der Staatsgründung 1948 hatten die Oberrabbiner Israels ein neues Gebet in die Welt gerufen: „Das Gebet für den Frieden des Staates Israel“. Darin heißt es: „Unser himmlischer Vater, Fels Israels und sein Erlöser, segne den Staat Israel, den Anfang der Blüte unserer Erlösung.“ Wenn Israel in der Tat der Anfang der jüdischen Erlösung war, dann muss die Kritik an der politischen Existenz Israels gleichzeitig auch Kritik an dieser Erlösung sein.

Die Kritiker des Begriffs des „neuen Antisemitismus“ sehen darin hingegen nur ein politisches Instrument mit durchsichtigen Zielen. Zum einen gehe es um den Versuch, Kritik an israelischer Politik gegenüber den Palästinensern zu unterbinden, ja, Israel immun gegen Kritik zu machen, so sagen die einen. Mehr noch: Just die Abkehr von der nazistischen Ideologie speist den Groll der Einen gegen die Juden oder Israel, nährt zugleich das Misstrauen der Anderen, hinter den Anschuldigungen gegen jüdische, zionistische oder israelische Politik verberge sich nichts als das alte Ressentiment.

Die zwei moralischen Narrative des 20. Jahrhunderts

Wir sind also festgefahren. Auf beiden Seiten arbeiten die Beteiligten der Debatte mit einer Rhetorik des Verdachts: Der Antisemitismusvorwurf gründet auf der Vermutung, dass das Gesagte nicht das Gemeinte ist, obwohl gerade in der letzten Zeit das Gesagte und Gemeinte sehr wohl übereinstimmen. Wie lässt sich diese Konstellation sinnvoll entschlüsseln? Geht es am Ende doch nur um Weltanschauungen, also um die Weltanschauung?

Es gibt zwei große moralische Narrative des 20. Jahrhunderts. Israel und die Juden befinden sich im Brennspiegel von beiden. Das eine ist der Holocaust mit allen historischen Konsequenzen – für die Juden, dass sie in Israel den Garanten ihrer Sicherheit sehen und die Gründung des Staates Israel in der Tat als Erlösung. Aber es gibt auch ein anderes moralisches Narrativ des 20. Jahrhunderts, in dem der Holocaust keine zentrale Rolle spielt. Hier stehen die Grausamkeiten des Westens gegen die Welt im Vordergrund, die außerhalb des Westens liegt. Nicht Holocaust, sondern Kolonialismus und Imperialismus sind in diesem Narrativ die semantischen Markierungen. In diesem Narrativ sind Israelis weiße Siedler, Israel eine Siedlergesellschaft, die die eingeborene Bevölkerung unterwirft und die als Handlager des Westens gesehen wird.

Sicher sind diese beiden moralischen Narrativen nicht klar voneinander zu trennen, sie sind sowohl politisch als auch historiographisch miteinander verknüpft. Gerade im Nahostkonflikt überlagern sie sich.[2] Dieses kolonialistische Narrativ ist gerade in den letzten Jahren durch Einwanderung und globale Medien wieder in Europa angekommen und konkurriert mit dem Narrativ des Holocaust.

Zu einer Soziologie des Antisemitismus

Also wie über Antisemitismus reden und denken? Wie soll Antisemitismus definiert werden? Mit Israel oder ohne Israel? Mit Juden oder ohne Juden? Juden sind eigentlich Fremde, weil sie so vertraut sind. Das ist eine alte soziologische Binsenwahrheit, die von dem jüdischen Soziologen Georg Simmel schon 1908 formuliert wurde. Er hatte am eigenen Leib erfahren, worüber er schrieb: Es ist ihre Vertrautheit, die sie zu Fremden macht.[3] Der jüdische Zustand macht den menschlichen Zustand der Fremdheit für andere sichtbar. Und es geht dabei gerade um den Topos der Sichtbarkeit. Damit lässt sich die Debatte über den Antisemitismus immer noch beginnen. Es geht darum, komplexe soziale Zusammenhänge wieder zu vereinfachen.

Ein weiterer jüdischer Soziologe, Karl Mannheim, nannte diesen Prozess 1930 „Re-Primitivisierung“.[4] Diese Tendenz der Reduzierung von Komplexität kann von rechts oder links kommen, von anderen religiösen Tendenzen, die Welt mit einfachen Augen zu sehen, wie zum Beispiel sich den Nationalstaat in Zeiten der Globalisierung einzubilden. Re-Primitivisierung kann sehr komplex sein. Aber auch der Begriff von „Re“ in Reprimitivisierung war Mannheim wichtig; es war eine reflexive Haltung von Menschen, die die Moderne schon erfahren haben und sich zurücksehnen an die Einfachheit, was in unserem Fall heißen mag, eine Welt ohne Fremde, ohne Juden. Das heißt dann auch, dass diese soziologische Frage auch gleichzeitig eine jüdische Frage ist. Gibt es jüdische Antworten auf solche soziologischen Fragen? Das sind beileibe keine Randfragen, sondern Schlüsselfragen, die das Tor zu den Rätseln und Unbegreifbarkeiten des Antisemitismus aufstoßen können.

Wir sind als Historiker und Theoretiker des Antisemitismus immer im Netz des Gegenstandes selbst gefangen. Wenn der Antisemitismus bedeutet, negative Gefühle und Meinungen gegen ein Kollektiv zu hegen, dann muss der Antisemitismus-Analytiker auf die kollektiven Grundannahmen des antisemitischen Gefühls teils eingehen, um sie zu decodieren. Antisemitismus und Anti-Antisemitismus gehen in diesem theoretischen Unternehmen immer wieder unwillkürlich Hand in Hand. Was soll man als Analytiker des Antisemitismus gegen diesen Befund tun? Sollen wir eine Theorie von antisemitischen Einstellungen konstruieren, die völlig unabhängig von jüdischem Verhalten oder Handeln ist? Müssen die Juden als nur passive Opfer von Groll und Hass gegen sie gesehen werden, um zu einer „richtigen“ Theorie zu gelangen? Kann so eine Konstruktion überhaupt funktionieren?

Die historischen Momente der Moderne und des Antisemitismus

Ich möchte von drei historischen Momenten der Moderne sprechen, die das Thema meiner Meinung nach etwas besser beleuchten können und in denen Juden eine zentrale Rolle spielten. Da sind zum Ersten die Aufklärung und die sogenannte Judenemanzipation mit dem Versprechen der auf Gleichheit beruhenden Staatsbürgerschaft im 18. Jahrhundert. Des Weiteren die revolutionäre Tradition, die im 19. Jahrhundert den Juden Gleichheit als Menschen versprach und die jetzige Formation, die sich zwischen Nationalismus und Post-Nationalismus bewegt und die Gründung Israels als Ausübung jüdischer politischer Souveränität im Staate Israel nach der Shoah.

Beginnen wir mit der Emanzipation und der Aufklärung. Für Juden hieß das Motto: Sei Ein Jude zu Hause und ein Mensch in der Welt.[5] Die Emanzipation verlangte die öffentliche Unsichtbarkeit der Juden.[6] Es war auch nach der Emanzipation nicht einfach für Juden, sich dem Vorwurf zu entziehen, eine „Nation innerhalb einer Nation“ zu sein. Die Emanzipation ist der Beginn des „unsichtbaren“ Juden, der durch das Versprechen der Staatsbürgerschaft wie alle anderen Menschen sein konnte. In einer Zeit, in der Modernität auch den Übergang von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“ bedeutete, wurde dies zu einer Anklage gegen Juden. Sie waren immer noch eine enge Gemeinschaft und unterminierten damit die allgemeinen Ansprüche der Staatsbürgerschaft, nutzten jedoch gleichzeitig die zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft, das war die Meinung derjenigen, die in den Juden Feinde der Nation sahen.

Juden waren in einer Doppelbindung gefangen. Sie wurden als zu partikular angesehen, um universelle Bürger zu sein, und als zu universell, die Grenzen der Staatsbürgerschaft überschreitend, eigentlich zu kosmopolitisch, um partikulare Bürger zu sein. Juden wurden von französischen Revolutionären beschuldigt, das Projekt der Revolution zu verhindern, und gleichzeitig vom konterrevolutionären katholischen Klerus für die Revolution verantwortlich gemacht. Damit begann die „Schuld“ der Juden an der Moderne.

Einige Jahrzehnte nach der Französischen Revolution reflektierte Karl Marx in seiner Schrift „Über die Judenfrage“ (1843) über die politische Emanzipation der Juden und warum sie versagen musste. Marx glaubte nicht, dass das jüdische Problem mit rechtlichen Mitteln gelöst werden könne. Gleiche Staatsbürgerschaft war nicht das Problem; Kapitalismus war es. „Die soziale Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum“, schrieb Marx, und diese Aussage wurde nicht nur für die Feinde der Juden zu einem Schlachtruf, sondern auch für die Juden selbst, die im Sozialismus eine jahrhundertealte jüdische Sehnsucht zur Errettung sahen, jetzt als „menschliche Emanzipation“ bezeichnet.

Juden als Juden unterminierten diesen universellen Anspruch. Damit hat Marx die Juden in den Mittelpunkt des europäischen Dramas der Moderne gestellt. Die Juden wurden zum Symbol aller modernen Paradoxien. Als Figuren der Partikularität unterminierten sie den universellen Anspruch der Aufklärung. Sie wurden zu Außenseitern der Aufklärung und lebten immer noch in Fantasiewelten eng verwurzelter Gemeinschaften. Gleichzeitig waren Juden auch das Symbol für das Gegenteil der Gemeinschaft: Transnationalismus, heimat- und wurzellos, mehrfache Loyalität und Geldwirtschaft. Dies definiert die paradoxe Situation der Juden in der Wahrnehmung vieler Nichtjuden: Ihr Kosmopolitismus war partikular und ihre Partikularität kosmopolitisch. Also sehen wir hier nochmals das Drama der Emanzipation neu gespielt.

Die Emanzipation und der Sozialismus begannen mit großen Versprechen an die Juden: Das Exil kann in der Tat beendet werden. Die Emanzipation, die bürgerliche Gleichstellung sind der erste Schritt dafür. Juden sind nicht mehr die Wanderer, sie können gleichberechtigte Mitglieder einer vermeintlichen Volksgemeinschaft sein, so wie alle anderen auch. Und in diesem Versprechen machte sich gerade der Widerspruch zwischen Nationalismus als homogenisierender Kraft einerseits und der Zerstreuung andererseits geltend. Im allgemeinen Willen der Nation darf es keinen partikularen Willen mehr geben. Ein wahrhaft revolutionärer Gedanke. Aber gleichzeitig der Beginn der Gewalt gegen diejenigen, die sich dem universalen Angebot widersetzen wollten. Partikulare Juden gehörten der Vergangenheit an, mussten „verbessert“ werden, um zu Menschen zu werden.[7]

Wie jedes Erlösungsversprechen war es ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite brachte die Emanzipation die sogenannte „Jüdische Frage“ erst ins Bewusstsein, aber gleichzeitig war die jüdische Emanzipation für viele Juden in der Tat Befreiung. Dies bedeutete, dass die Ablehnung der Gleichberechtigung für Juden nicht länger toleriert werden sollte und dass Juden als Menschen eines bestimmten Glaubens (oder überhaupt eines Glaubens) in eine Gesellschaft gleicher Bürger integriert werden sollten. Die ständischen Beschränkungen sollten aufgehoben werden. Juden konnten theoretisch „gleich“ werden. Aber der Preis für Gleichheit war Unsichtbarkeit.

Israel und der Antisemitismus

Israel ist unter anderem auch eine Konsequenz des Scheiterns dieser Versprechen. Aber die Dilemmas sind auch nach der Gründung des jüdischen Staates geblieben. Kann es sein, dass dieses von der Französischen Revolution ins Leben gerufene Dilemma nun heutzutage auch für Israel gilt? Ein partikularistischer Staat par excellence (ein Staat der Juden oder sogar ein Judenstaat), der sich jenseits des postnationalen Zeitgeistes eines bestimmten Milieus definiert. Israel definiert sich natürlich ethnisch, und die Kriterien für die Staatsbürgerschaft sind ebenso partikular wie die Kriterien für das kollektive Gedächtnis (was etwa konkret bedeutet, dass man des Holocausts als eines Verbrechens gegen das jüdische Volk und nicht als eines Verbrechens gegen die Menschheit gedenkt). Andere Vorstellungen von Staatsbürgerschaft und auch Gedächtnis würden verlangen, dass Israel die ethnische Grundlage aufgibt, nach der es seine Staatsangehörigen definiert.

Menschenrechtsorganisationen, die Israel strenger als andere betrachten, können natürlich mit dem Begriff des „Antisemitismus“ sofort ins moralische Abseits gedrängt werden. Das mag sogar angebracht sein, wenn wir uns nur um die Motivation der Kritiker kümmern. Aber wenn wir uns außerhalb der Motivation des Gesagten dem Gesagten selbst zuwenden, wird ein anderes Fenster geöffnet und das gilt vor allem für die Menschenrechtsorganisationen in Israel selbst. Die Selbstbegrenzung der staatlichen Souveränität, die die Menschenrechtler und Kritiker Israels fordern, diese Verweigerung der Sorglosigkeit ist aber auch eine Neuauflage des Konfliktes zwischen Königen und Propheten, die man aus der Schrift kennt, dass die sorglose Souveränität ihre Grenzen haben muss. Weh den Sorglosen auf dem Zion und den Selbstsicheren auf dem Berg von Samaria“ (Amos 6,1), heißt es da so treffend im Buche Amos.

Kritiker Israels erinnern also an die jüdische prophetische Tradition jenseits der Souveränität. Sie erinnern an die letztlich universale Tatsache, dass Machtausübung einen Preis hat, konkret: dass es in Israel Rassismus und Grausamkeit gibt so wie in anderen Ländern auch, dass der Staat mit seiner ständigen Kampfbereitschaft und deren Folgen auf vielen Ebenen teuer für die Freiheit zahlt – dass insgesamt die Ausübung politischer Souveränität auch um den Preis des Verlusts der Unschuld erfolgt. Dabei ist die Ausübung dieser Souveränität in Israel eben auch Staatsräson. Es geht also um den uralten Konflikt zwischen Politik und Ethik.

Mein Argument ist durchaus ein zionistisches. Ich verstehe die zionistische Revolution als eine tatsächliche Revolution in der jüdischen Welterfahrung. Nun, der Antisemitismusvorwurf mag für ein Diaspora-Volk passen, aber passt es zu einem souveränen Staat? Ist es politisch sinnvoll, in diesen apokalyptischen Begriffen zu denken? Sicher hat Israel Feinde. Aber Feinde können auch politisch betrachten werden, nicht nur apokalyptisch. Und es ist gerade dieses Freund-Feind-Denken, wo der Feind nicht politisch, sondern apokalyptisch verstanden wird, die dann die politische Kritik als Antisemitismus verstehen will und muss. Denken wir auch daran, dass es dieser Tage 40 Jahre her ist, als der damalige Premierminister Menachem Begin und der ägyptische Präsident Anwar Sadat den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag unterschrieben. Dieser Friede mag zwar kein multikulturelles Straßenfest sein, aber er hält politisch und entspricht den Interessen beider Staaten. Und ironischerweise sind es gerade die Ägypter, die ständig zwischen der Hamas und Israel vermitteln. Das ist politisches Handeln.

Als man Juden vorwarf, eine Nation innerhalb einer Nation zu sein, waren sie nicht imstande, sich diesem Dilemma zu entziehen. Je mehr sich Juden assimilierten, desto „weniger“ waren sie Juden. Aber wenn man sich weiterhin als Jude fühlt und das trotz assimilierter Lebensweise, dann ist es ein Zeichen dafür, dass man doch nicht völlig assimiliert ist. Kein Jude kann sich diesem Dilemma der Assimilation entziehen. Man gehört dazu und gleichzeitig eben nicht, was ja auch die Problematik der Moderne ist. Das ist auch die Paradoxie der jüdischen Existenz.

Auf der einen Seite wird von der Mehrheitsgesellschaft gefordert, dass Juden sich assimilieren also der Mehrheit ähnlicher werden, aber in dem Moment, wo das tatsächlich passiert, löst das wiederum eine Gegenreaktion der Mehrheit aus. Deren Mitglieder fühlen sich bedroht und errichten noch höhere Barrieren, um sich zu schützen. Man ist sich selbst fremd, nur beim Juden ist dieses Dilemma im wahrsten Sinne verkörpert. Diese Problematik scheint auch für Israel zu gelten, das nicht imstande sein kann und auch nicht will, universale Kriterien der Zugehörigkeit zu schaffen. Israel definiert sich sowohl als demokratisch als auch als jüdisch, so dass seine Universalität inhärent begrenzt ist. Dazu kommt noch, dass Israel sich als politische Antwort auf den Antisemitismus versteht, was dann auch heißt, dass die Infragestellung dieser Selbstdefinition automatisch als antisemitisch gedeutet werden muss.

Schluss: Für eine jüdische selbstbewusste Haltung

Kommen wir wieder zu Simmel zurück, der schon 1908 die Moderne als eine Gesellschaft von Fremden beschrieb, die ihre Entfremdung oder Fremdheit nicht nur als Bedrohung empfand, sondern auch als Befreiung. Aber so einfach ist es nicht. Beim Fremden, der uns bekannt ist, gibt es immer eine Wechselwirkung zwischen Ferne und Nähe, Gelöstheit und Fixiertheit, Wanderung und Bodenhaftigkeit. Daraus folgt nun eine in der Tat wichtige soziologische Frage: Wie sollte es also keine Ressentiments gegen die Juden und ihre Verkörperung von solcher Ambivalenz geben? Wieso sollte es überhaupt verwundern, wenn das Jüdische, selbst dessen Nation, als Sinnbild westlicher Vormacht verteufelt wird, um zugleich auch – etwa in den Kampagnen gegen George Soros, doch ebenso durch rassistische Attentäter in den Synagogen von Pittsburgh und Halle – beschuldigt zu werden, der eigentliche Agent hinter Migration, den Fluchtwellen, ja der multikulturellen Wirklichkeit im Zeitalter der Globalisierung schlechthin zu sein? Man denke nur an die oft benutzte Metapher der „globalistischen Krake“.

Der Antisemitismus ist der Hass auf das Universale und auf das Partikulare der modernen menschlichen Existenz. Das ist in erster Linie ein jüdisches Problem, aber nicht nur. Der Traum von der perfekten Assimilation ist eine uneinlösbare Illusion. Dies definiert die paradoxe Situation nicht nur von Juden, sondern von allen modernen Menschen: Es ist Bürde und Würde zugleich. Deshalb sollte sich – wenn ich am Ende doch etwas normativ werden darf ­– der Anti-Antisemitismus sich nicht der gleichen monolithischen Argumente des Antisemitismus bedienen, Komplexität reduzieren und sich der Illusion der politischen Steuerbarkeit des Problems hingeben. Schließen wir diese Gedanken mit einem Zitat von Norbert Elias, der 1929 in einem kleinen Gemeindeblatt versuchte, eine Soziologie des deutschen Antisemitismus zu formulieren:

In jedem Fall ist die klare Einsicht in die eigene Lage besser als ein noch so trostloser Selbstbetrug. Eines ist dem deutschen Juden als Antwort auf den Antisemitismus immer noch möglich: sich an eine unaufdringliche, entschlossene und selbstbewusste Haltung zu gewöhnen, die allein seiner Lage angemessen ist.[8]

 

[1] Dieser Essay beruht auf einen Vortrag in der Heinrich-Böll-Stiftung am 29. August 2019. Er wurde vor dem Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 geschrieben. Aber es macht durchaus Sinn, die folgenden Gedanken auch unter dem Eindruck von Halle zu lesen. Der Vortrag wiederum knüpft an Überlegungen an, die der Autor zusammen mit seinen Mitherausgebern Christian Heilbronn und Doron Rabinovici im Vorwort des gemeinsamen Sammelbands „Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer Globalen Debatte“ entwickelt hat. Das Buch erschien im Februar 2019 bei Suhrkamp in Berlin. 

[2] Es war Hannah Arendt, die in ihrer Totalitarismus-Studie „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ (zuerst 1951 auf Englisch erschienen) auf diese Verknüpfung hingewiesen hat. Bis heute sind ihre Thesen heftig umstritten. Sie sah sowohl den Holocaust als auch den Kolonialismus (in ihrer Sprache: den Imperialismus) als Produkte des Westens, für den der Antisemitismus konstitutiv war. Nicht mehr die alte religiöse Judeophobia, sondern eine moderne Grundhaltung, die Juden als schuldig für die Krise der Moderne sieht.

[3] Georg Simmel, „Exkurs über den Fremden“ (1908).

[4] Der Begriff der „Re-Primitivisierung” wurde von Mannheim in seinen Vorlesungen zur Soziologie in Frankfurt angewandt. Diese Vorlesungen wurden veröffentlicht unter: Karl Mannheims Analyse der Moderne: Mannheims Erste Frankfurter Vorlesung von 1930, Springer, 2000.

[5] Dieses Motto stammt von dem russischen jüdischen Aufklärer Jehuda Leib Gordon, entnommen aus einem Gedicht aus dem Jahre 1866. Gordon wollte auch, dass Juden in Russland Russisch zu reden beginnen. Es war aber auch der Beginn des sich emanzipierenden Judentums, öffentlich unsichtbar zu werden.

[6] Im Mai 2019 riet der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Regierung Juden, keine Kippa mehr im öffentlichen Raum zu tragen. Damit wollte er zu ihrem Schutz, dass Juden in der Tat unsichtbar werden.

[7]     Bezeichnend dafür ist die Streitschrift eines der preußischen Befürworter der jüdischen Emanzipation, Christian Konrad Wilhelm von Dohm aus dem Jahre 1781 Über die Bürgerliche Verbesserung der Juden.

[8] Norbert Elias, „Soziologie des deutschen Antisemitismus” [1929], Gesammelte Schriften, vol. 1, Frühschriften (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002), 117–26. Der Aufsatz erschien zuerst in Israelitisches Gemeindeblatt der Gemeinden Mannheim und Ludwigshafen vom 13.12.1929.