Die Ukraine unter Präsident Selenskyj

Interviews

Im Frühjahr gewann der frühere Fernsehstar und politische Newcomer Wolodymyr Selenskyj die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine. In vorgezogenen Parlamentswahlen erreichte die nach seiner Fernsehserie benannte neue Partei "Diener des Volkes" eine absolute Mehrheit. Wie geht Selenskyj mit dieser gewonnenen Machtfülle um? In Kurzinterviews nehmen drei Expert/innen Stellung.

Die Ukraine unter Präsident Selenskyj - Majdan, Kiew
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Der Majdan ist der zentrale Platz der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Nicht weit davon entfernt sitzt der neu gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj.

» 1) Interview mit Volodymyr Yermolenko
» 2) Interview mit Yevhen Hlibovytsky
» 3) Interview mit Hanna Shelest


1) Interview mit Volodymyr Yermolenko - Ukraine: Ein „Popstar-Präsident“ verändert die Politik

Wie hat Präsident Selenskyj seit seinem Amtsantritt die Politik und die politische Kultur im Land verändert?

Porträt - Volodymyr Yermolenko
Volodymyr Yermolenko: Analytischer Direktor Internews Ukraine, Chefredakteur UkraineWorld.org und Journalist für Hromadske.ua

Mit Selenskyj ist ein Außenseiter in die politische Klasse eingetreten. Wie auch in vielen anderen Ländern der Welt erleben wir in der Ukraine ein starkes Misstrauen gegenüber den Institutionen und dem politischen Establishment. Und wir stellen fest, dass Unterhaltungskünstler mit Politikern im politischen Spiel konkurrieren können. Aber Selenskyj hat natürlich in seinem Beraterkreis Leute, die die politischen, juristischen und rechtlichen Spielregeln beherrschen. Dennoch ist dieses Phänomen beispiellos in der Ukraine.

Im Unterschied zu seinem Vorgänger versteht Selenskyj, wie er die ukrainische Bevölkerung im Osten und im Süden, die traditionell eher pro-russisch eingestellt war, erreichen kann. Das ist eine ganz wesentliche Verschiebung. Die Wähler, die 2013/14 pro-russische und antieuropäische Parteien gewählt haben, wählten nun Selenskyj. Wir wissen zwar nicht wirklich, was Selenskyj will, aber seine Rhetorik ist pro-westlich, liberal und pro-europäisch.

Das dritte Merkmal der neuen Präsidentschaft ist die politische Unerfahrenheit. Selenskyj möchte weiterhin ein Popstar sein, er sucht den Applaus und die öffentliche Unterstützung. Das wirft die Frage auf, ob sein Team einen eigenen Plan verfolgt oder nur auf Umfragen reagiert, um die Bevölkerung zufriedenzustellen.

Wie ist das Verhältnis des Präsidenten zu den Oligarchen einzuschätzen?

Sein Verhältnis zu den Oligarchen ist eindeutig. Es gibt eine starke Verbindung zu Ihor Kolomoiskyj, einem der mächtigsten ukrainischen Oligarchen, der Selenskyjs Kampagne unterstützte und ihm eine Bühne gab in seinem TV Sender 1+1. Eine Gruppe innerhalb der Selenskyj-Unterstützer im Parlament steht unter Kolomoiskyjs Kontrolle. Er hat seine Leute im Umfeld des Präsidenten. Dennoch sehen wir bei spezifischen Themen Differenzen. Kolomoiskyj sagt zum Beispiel, dass er die (von der vorherigen Regierung verstaatlichte) Privatbank zurückhaben will. Das hat Selenskyj bislang ausgeschlossen.

Kolomoiskyj verlangt auch ein Ende der Zusammenarbeit mit dem IWF – Selenskyj sagt das Gegenteil, er will die Verhandlungen mit dem IWF weiterführen. Möglicherweise wird es einen Punkt wachsender Spannung oder sogar ein Zerwürfnis zwischen beiden geben. Gleichzeitig öffnet sich Selenskyj gegenüber anderen Oligarchen wie beispielsweise Pinchuk, der ebenfalls über Einfluss in Selenskyjs Umfeld verfügt. Laut Medienrecherchen soll er auch Kontakte zu Khoroshkovsky haben, einem anderen Oligarchen, der nach Jahren im Ausland in die Ukraine zurückgekehrt ist.

Wie geht Selenskyj das Thema Korruption an?

Seine Haltung zu Korruption ist zweideutig. Einerseits gibt es ernsthafte Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, andererseits sehen wir eine gefährliche Tendenz, Antikorruptionsmaßnahmen für laufende politische Auseinandersetzungen einzusetzen. Selenskyj hat die Wahlen mit der Botschaft gewonnen, dass er gegen Poroschenko ist, und dies scheint zum Programm zu werden. Aber auch hier haben wir noch kein klares Bild und noch keine prominenten Fälle, so dass wir noch nicht beurteilen können, ob wir uns eher auf einem guten oder einem schlechten Weg befinden.

In welchem Ausmaß sind die ukrainischen Medien frei und unabhängig und können ihre Rolle als “vierte Staatsgewalt” erfüllen, indem sie staatliche Institutionen kontrollieren?

Alle wesentlichen Fernsehsender gehören verschiedenen Oligarchen. Wenige unabhängige Sender wie Hromadske, bei dem ich arbeite, sind viel kleiner und haben nicht das Budget für eine größere Reichweite. Und es gibt noch den öffentlich-rechtlichen Sender, der reformiert wird. Es gibt zum Glück bislang keine Anzeichen dafür, dass Selenskyj diese Reform stoppen will.

Wir haben auch eine ziemlich selbstbewusste Journalisten-Community. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: In einem Präsidialerlass zu einem Rahmengesetz für Medien gab es eine Formulierung zur Definition von Nachrichtenstandards. Dies verursachte großen Aufruhr unter den Medienleuten, da die Regierung natürlich keine Standards für Nachrichten festlegen sollte. Das sollte von Journalist/innen selbst festgelegt werden. Der zuständige Minister reagierte sofort und sagte, es sei ein Fehler im Präsidentenerlass, der Wortlaut sei nicht korrekt, also korrigierte der Minister den Erlass des Präsidenten.

Dies zeigt beispielhaft, wie Zivilgesellschaft und Medien in der Lage sind, ihre Frieheiten gegen staatliche Einmischung zu verteidigen. Die Top-Fernsehsender sind zwar zwischen finanziellen und politischen Oligarchengruppen aufgeteilt. Aber es gibt keine staatliche Zensur, alle diese Kanäle haben Talkshows, in denen Politiker aus verschiedenen Fraktionen auftauchen und sich äußern können.

2) Interview mit Yevhen Hlibovytsky - Dezentralisierung macht Kommunalwahlen 2020 spannend

Die Ukraine bereitet sich auf die Kommunalwahlen im Oktober 2020 vor. Inwiefern wird Präsident Selenskyj mit seiner neuen Partei auch die politische Landschaft auf der lokalen Ebene umkrempeln?

Porträt - Yevhen Hlibovytsky
Yevhen Hlibovytsky: Nestor Group, Ukraine

Es ist noch zu früh, über die Popularität des Präsidenten im nächsten Oktober zu spekulieren. Die Situation entwickelt sich sehr dynamisch. Das Besondere an diesen Kommunalwahlen ist ja, dass dies die Ebene ist, auf der die Menschen eine konkrete Verbesserung ihrer Lebensqualität sehen wollen. Sie erwarten konkrete Lösungen und Maßnahmen im jeweiligen lokalen Umfeld.

Für Parteien ohne etablierte lokale Basisstrukturen ist es schwer, die Menschen hier abzuholen. Die parteipolitischen Projekte bei uns in der Ukraine basieren aber eher auf Präsenz im nationalen Fernsehen und auf Führungspersönlichkeiten, die irgendwelche internationalen Partner treffen. All das ist jedoch für die Kommunalwahlen nicht hilfreich. Einige Parteien arbeiten mehr auf der lokalen Ebene und ich denke, sie werden besser abschneiden als viele erwarten. Erstmals können Kommunalwahlen in der Ukraine wirklich einen Unterschied machen.

Im Zuge der Dezentralisierungsreformen wurden Kompetenzen und Budgets auf die lokale Ebene transferiert, Steuereinnahmen verbleiben zu einem größeren Teil am Ort. Es hängt sehr viel mehr als früher von den Kommunen ab, welche öffentlichen Dienstleistungen angeboten werden und wie sich die Lebensqualität entwickelt. Städte und Gemeinden stehen im Wettbewerb miteinander. Wenn die Verwaltung an einem Ort besser funktioniert, so werden die Investitionen in diesen Ort kommen. Aber es werden die ersten Wahlen unter diesen neuen Bedingungen sein und deshalb sind Prognosen sehr schwierig.

Die Veränderungen vollziehen sich v.a. auf der administrativen Ebene. Nehmen das die Menschen trotzdem wahr? Hat sich das Interesse für Kommunalpolitik erhöht?

Es hängt sehr davon ab, ob die Menschen Veränderungen spüren. Was oft vergessen wird ist die fehlende Tradition lokaler Selbstverwaltung in der Ukraine eigentlich schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis zur ukrainischen Unabhängigkeit im späten 20. Jahrhundert. Man konnte nicht einmal auf der Ebene eines Dorfes jemanden frei wählen.

Die politischen Führungskräfte wurden zumeist einfach ernannt. Die fehlende Erfahrung macht demokratische Entscheidungsfindung zu einer schwierigen Herausforderung, es macht die Dinge kompliziert und irritierend. Wahrscheinlich werden wir erst ein Jahr nach den Wahlen sehen, wie gut oder schlecht es läuft. Dann werden wir entscheiden müssen, wie wir die Kommunen weiter stärken, ihnen helfen und manche vielleicht retten können.

Inwiefern tragen die Lokalwahlen zum Elitenwechsel auf der lokalen Ebene bei? Haben Vertreter/innen der lokalen Zivilgesellschaft und unabhängiger Gruppen Chancen, in die Stadträte einzuziehen?

Allgemein sind Lokalwahlen ein wichtiger Beitrag zur Erneuerung der Eliten. Da ist die Ukraine keine Ausnahme. Es werden neue Leute in die Politik kommen, aber es werden auch alte verbleiben. Eines der Probleme mit den neu zusammengeschlossenen Gemeinden besteht darin, dass Gemeindegrenzen oft nicht auf Grundlage von Kriterien guter Regierungsführung neu gezogen wurden und also nicht unbedingt natürliche Zusammenhänge von Nachbargemeinden und Umlandbeziehungen berücksichtigen.

Maßgeblich waren oft v.a. Landbesitzfragen und Wirtschaftsinteressen. In diesen Fällen können Verantwortlichkeiten nicht so leicht zugeordnet werden und es wird auf der lokalen Ebene wenig Alternativen zur Auswahl geben. Die Situation der Kommunen wird sehr verschieden sein. Es wird erfolgreiche und nicht erfolgreiche Fälle geben. Wir müssen uns auf eine große Differenz in der Leistungsfähigkeit der Kommunen einstellen.

3) Interview mit Hanna Shelest – Donbass: Illusion einer schnellen Lösung

Wie hat sich die Haltung der ukrainischen Führung in Bezug auf die Schritte zur Regulierung des Donbass-Konflikts seit der Amtsübernahme von Präsident Selenskiy verändert?

Porträt - Hanna Shelest
Hanna Shelest: PhD, Member of the Board at the Foreign Policy Council “Ukrainian Prism” and Chief Editor at UA: Ukraine Analytica

Es sind zwei maßgebliche Veränderungen festzustellen. Die erste ist Selenskyjs offenere Haltung gegenüber den Menschen in den nicht kontrollierten Gebieten, bei denen er Sympathien für die neue Ukraine gewinnen möchte. Man könnte es auch eine „softe“ Strategie der Reintegration nennen, zunächst die Köpfe zu gewinnen, nicht primär die Territorien. Aber jetzt müssen wir abwarten, wie er das umsetzen möchte. Das ist bislang leider noch nicht zu verstehen.

Die zweite Veränderung ist die Eile, mit der Selenskyj vorgeht und ganz schnell Erfolge erzielen will. Die vorherige Führung war mehr an längerfristigen Strategien orientiert, sie hatten verstanden, dass dieser Krieg nicht an einem Tag plötzlich beendet werden kann. Poroshenko war dabei auch klar in der Benennung Russlands als Aggressor. Selenskyj will schnelle Erfolge, Kompromisse, die er gegenüber der Öffentlichkeit und der internationalen Gemeinschaft als Fortschritt verkaufen kann, aber er scheint längerfristige Konsequenzen leider nicht in Betracht zu ziehen.

Hat sich Selenskyjs veränderte Haltung für die Menschen an der so genannten Kontaktlinie schon irgendwie bemerkbar gemacht?

Nein, im Großen und Ganzen hat sich die Lage nicht verändert. Der Waffenstillstand wird regelmäßig verletzt, es gibt sicherere und unsicherere Zonen, bessere und schlechtere Tage. Die Entscheidung, die Truppen in drei Städten zurückzuziehen, wird sehr kontrovers bewertet. Zum einen wurde sie schlecht gegenüber der ukrainischen Öffentlichkeit und v.a. mit der lokalen Bevölkerung kommuniziert.

Außerdem bin ich nicht sicher, ob die Risiken des Rückzugs wirklich kalkuliert sind. Wir beobachten, dass die Separatisten ihrerseits die Entflechtung nicht konsequent umsetzen. Sie verlangen, dass sich nicht nur die ukrainische Armee zurückzieht, sondern auch die Polizei, was aber zu einem Sicherheitsvakuum führt. Sie wollen ihre Flaggen an den Brücken installieren und laden russische Parlamentarier in die Zonen ein. Sie spielen mit der Situation und präsentieren sie als ukrainische Schwäche und Unfähigkeit, die eigenen Gebiete zu schützen.

Warum ist die Idee eines Sonderstatus für die heute nicht ukrainisch kontrollierten Donbass-Gebiete in der Ukraine so umstritten und was würde es für die Ukraine bedeuten?

Die Ukraine war immer ein Einheitsstaat, es gibt keine Erfahrungen mit einem föderalen System. Jegliche Form von Sonderstatus irgendeines Territoriums – mit Ausnahme des lange praktizierten Autonomiestatus der Krim – würde Separierungstendenzen stärken. Wenn Sie bedenken, dass für die Ukraine um den Bestand eines integrierten ukrainischen Staates überhaupt geht, dann ist jede Idee eines Ausbrechens einer Region riskant. Behält ein Sonderstatus einen eher temporären Charakter, wie in dem bislang bestehenden Gesetz über einen Sonderstatus, dann ist das Risiko überschaubarer.

Selenskyj könnte jedoch ein neues Sonderstatus-Gesetz beschließen lassen. Wir wissen bisher nicht, welche Prinzipien der Präsident dafür zu Grunde legen will und welche „rote Linien“ es dabei für ihn gibt. Wie weit wird er zu gehen bereit sein? Die Führungen Russland und der Separatisten wollen eben nicht einfach nur mehr Kompetenzen in die Hände der lokalen Bevölkerung legen, sondern sie wollen Einfluss auf die Zentralregierung in Kiew und sie wollen mit eigenen bewaffneten Einheiten und eigener Justiz das Gewaltmonopol der ukrainischen Regierung brechen.

Das nächste Problem eines Sonderstatus für diese Gebiete ist natürlich die Frage, warum nicht andere Gebiete, etwa die Ungarn an der westlichen Grenze in der Karpaten-Region, die gleichen Rechte beanspruchen sollten. Denn wir sprechen ja nicht einmal über Sonderrechte für eine ganze Region, sondern sogar nur für einzelne Bezirke der Donezker und Luhansker Regionen. Die staatlichen Institutionen wären kaum darauf vorbereitet, damit würden neue Konflikte in die Gesellschaft getragen.

Mit der aktuellen Dezentralisierungsreform werden viele Kompetenzen auf die lokale Ebene übertragen, Selbstverwaltung wird deutlich gestärkt. Hier kann man sicher im Detail über das Maß der Dezentralisierung diskutieren. Im vorliegenden Fall geht es aber offensichtlich nicht um zusätzliche Kompetenzen für die Bezirke, sondern um Kontrolle dieser Bezirke durch eine dritte Seite. Deshalb ist schon das Konzept eines Sonderstatus an sich so problematisch, selbst wenn wir noch gar nicht über konkrete Details sprechen.


Die Interviews wurden ins Deutsche übersetzt von Ulla Niehaus und Robert Sperfeld.