“Ich will, dass zunächst einmal dieser Staat erfolgreich ist”

Interview

Albin Kurti ist der führende Kopf der Vetëvendosje (Deutsch: Selbstbestimmungs-) Bewegung im Kosovo, die im Oktober mit ca. 26 Prozent der Stimmen die vorgezogenen Parlamentswahlen gewonnen hat. Die Wahl wurde notwendig, weil Premierminister Haradinaj zurücktrat, nachdem er vom Kosovo-Sondertribunal in Den Haag vorgeladen wurde, das die Kriegsverbrechen zwischen 1998 und 2000 untersucht. Nach dem Urnengang am 06. Oktober verursachten einige Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit den Diaspora-Stimmzetteln eine Verzögerung bei der Veröffentlichung der endgültigen Ergebnisse. In diesem Interview mit dem Belgrader Büro der Heinrich-Böll-Stiftung spricht der zukünftige Premierminister Albin Kurti über die Prioritäten der neuen Regierung, den Dialog mit Serbien, seine Umweltschutzagenda sowie das Problem der Ethnizität versus Staatsbürgerschaft auf dem Balkan.

Albin Kurti

Simon Ilse: Herr Kurti, was ist der derzeitige Stand hinsichtlich der Stimmen aus Serbien und der Nachzählung; sind Sie immer noch überzeugt, dass Sie eine Koalitionsregierung mit der LDK (Demokratische Liga in Kosovo) bilden können, wie es ursprünglich geplant war?

Albin Kurti: Wir waren immer der Meinung, dass es wichtig ist, zuallererst eine Koalition mit der LDK zu bilden; wir haben andere Parteien zwar nicht ausgeschlossen, sind aber auch nicht sofort auf sie zugegangen. Jetzt nach der Neuauszählung der Stimmen bekommen wir 29 Sitze plus einen von den Minderheiten, die sich unserer Fraktion angeschlossen hat, insgesamt also 30 Abgeordnete. Wir wollen allerdings die nicht-serbische Minderheit der Parlamentsmitglieder sofort einbeziehen, d. h. 10, vielleicht 9 Personen, weil eine möglicherweise nicht mitmacht, das werden wir noch sehen. Die Abstimmung des Regierungsprogramms ist bereits zu 100 Prozent abgeschlossen, was jetzt noch fehlt ist die Verteilung der Ministerien, wobei wir vereinbart haben, dass mindestens 30 Prozent mit Frauen besetzt werden, maximal zwei stellvertretende Minister pro Ministerium und zwei stellvertretende Premierminister, und wir versuchen, alles in zwölf Ministerien unter Dach und Fach zu bringen. Das ist nicht einfach, aber trotzdem machbar. Wir wollen den Staat stärken und nicht die Elite vergrößern.

Sie führen eine Kampagne zur Bekämpfung der Korruption, sowie zur Verschlankung des Staats und zur Förderung von sozioökonomischen Entwicklungen, und Sie wurden von sehr vielen jungen Wählern gewählt. Wo sehen Sie die Prioritäten Ihrer Regierung?

Wir legen besonderen Wert auf Rechtsstaatlichkeit. Wir wollen die Korruption bekämpfen, die leider allgegenwärtige Korruption und das organisierte Verbrechen, und zu diesem Zweck müssen wir die Staatsanwaltschaften stärken. Wir müssen sie von der Exekutive loslösen. Die Staatsanwälte sollen von sich aus aktiv werden, nicht nur im Büro darauf warten, dass Opfer Anklage erheben. Sie müssen ermitteln, durchsetzungsfähig sein und aktiv werden und zu diesem Zweck werden wir die Strafprozessordnungen ändern. Und wir wollen ein Überprüfungsverfahren (so genanntes Vetting) etablieren. 

Nach albanischem Vorbild?

Ja, ich glaube, das findet genauso im Kongo und in der Ukraine statt, aber ja, der Überprüfungsprozess ist etwas, was wir umsetzen müssen, nicht nur für die Justiz und die Strafverfolgung, sondern auch im Sicherheitssektor, bei der Polizei und den Geheimdiensten – allerdings vielleicht nur für deren hochrangige Beamte. Außerdem brauchen wir wirtschaftliche Entwicklung, arbeitsintensive Investitionen und, was sehr wichtig ist, eine Entkriminalisierung der Beschaffung, weil wir über 170 Behörden haben, die Produkte kaufen, d. h. dass der Staat auch als Konsument auftritt, und wir müssen diese Funktion entkriminalisieren, weil es einige Geschäftsleute gibt, die zwar nicht dem Königshof, aber dennoch dem „Staatshof“ angehören und die infolgedessen regelmäßig die Ausschreibungen gewinnen. Also müssen wir die Korruption in der Regierung beenden, wir werden sie überall bekämpfen, in den Institutionen und in der Gesellschaft. Wir wollen die Integrität, Glaubwürdigkeit und Autorität unseres Staats als Institution zur Verwaltung von Steuergeldern wiederherstellen. Weil die Menschen keine Steuern zahlen, wenn sie täglich in den Abendnachrichten über Skandale in der Regierung erfahren, wie es in den letzten Jahren der Fall war; also nochmal klar und eindeutig formuliert: Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung dienen nicht nur der Justiz und den Menschen, sie dienen auch der Wirtschaft, die wiederum das Leben der Menschen und Bürger beeinflusst, weil wir als progressive politische Kraft der Wirtschaft dabei helfen wollen, für die Gesellschaft zu funktionieren. Wir brauchen auch eine staatliche Entwicklungsbank und einen staatlichen Investitionsfonds zur Förderung des privatwirtschaftlichen Sektors, besonders der kleinen und mittleren Unternehmen in der Produktion, im Handel, sowie für Finanzen und Dienstleistungen.

Wir haben bereits früher in der Region Kandidaten gesehen, die Korruptionsbekämpfung und Verschlankung des Staats versprochen und damit Hoffnung erzeugt haben – die aber dann dieses Versprechen zur Festigung der eigenen Macht missbraucht haben. Wie wollen Sie das verhindern?

Also ich denke, dass diejenigen, die hinter den Oligarchen auf dem Balkan her waren, Herrn Putin imitieren wollten, der die Oligarchen unter seine Kontrolle bringen wollte, als er feststellte, dass sie Eigentümer der Medien waren und diese entsprechend kontrollierten. Das ist allerdings nicht unser Ziel. Wir verfolgen einen völlig anderen Ansatz. Wir wollen, dass unser Land frei ist, dass unsere Bürger Freiheiten und Handlungsspielräume nutzen können. Wir orientieren uns nicht an den Medien und versuchen auch nicht, herauszufinden, wer diese besitzt, im Gegenteil, wir streben eine Befreiung an. Und ich denke, dass dies mit unserer Mitte-links-sozialdemokratischen Politik sehr gut möglich ist.

Integration der serbischen Gemeinschaft und Dialog mit Serbien über die Normalisierung des Verhältnisses

Wie wollen Sie hinsichtlich der Integration der serbischen Minderheit vorgehen? Hier gibt es ein Dilemma: Sie sind auf der einen Seite durch die Verfassung gezwungen, mindestens einen Minister aus der serbischen Gemeinschaft auszuwählen, auf der anderen Seite wollen Sie keine Koalition mit der serbischen Liste. Wie wollen Sie die serbische Minderheit integrieren?

Zuallererst bin ich der Meinung, dass sich die serbische Nationalidentität nicht auf eine Parteimitgliedschaft reduzieren lässt. Ob Sie Serbe sind oder nicht, entscheiden vielleicht Ihre Eltern, nicht Ihr Präsident. Also steht in der Verfassung, dass es einen Minister geben muss, der die serbische Minderheit vertritt, nicht einen, der unbedingt der Partei des Präsidenten Serbiens angehören muss. Lassen Sie uns darüber etwas nachdenken. Diese Wahlen wurden durch einen großformatigen Betrug gekennzeichnet. Sie (Anm.: die Srpska Lista) haben es so im Juni 2017 gemacht, sie machen es wieder im Oktober 2019 und zwischen diesen beiden Zeitpunkten haben wir die Ermordung von Oliver Ivanović erlebt, eines Mitglieds der serbischen Gemeinschaft, das es gewagt hat, nicht nur eine Position gegen die Politik Serbiens im Kosovo einzunehmen, sondern auch, unabhängige Organisationen und Parteien zusammenzubringen. Ich werde also bereits in der ersten Woche, in der ich im Amt bin, einen Dialog mit den Serben des Kosovo auf Augenhöhe anstreben.

Ein Dialog über den Dialog?

Ein Ansatz von der Basis aus, also kein Kommando von oben, sondern beginnend mit der Basis, ein Dialog zur Entwicklung: offen, demokratisch, sozial. Andererseits werde ich hinsichtlich des Dialogs mit Serbien auch in Brüssel einen Dialog starten, aber das ist eine andere Angelegenheit. Ich möchte, dass die Serben sozial und wirtschaftlich integriert werden, nicht nur im Hinblick auf die Institutionen, weil wir, auch wenn wir einen Serben der Serbischen Liste in die Regierung aufnehmen, keine Garantie haben, dass die Serben dadurch integriert werden. Ich möchte diesen Ansatz von der Basis aus und ich möchte, dass die Menschen nicht in den Strukturen, sondern im täglichen Leben integriert werden. Also beginnen wir am besten damit, was diese Menschen verbindet, z. B. ihre sozialen Rollen, die sozialen Funktionen. Wenn beispielsweise albanische und serbische Bauern in einem Dorf eine Gemeinschaft bilden für Dünger, Samen, Lebensmittelproduktion, wie kann dies vom Staat gefördert werden? Ich bin der Überzeugung, dass die Integration hier real wird. Wir respektieren die Verfassung, wir werden also sicher einen Minister aus der serbischen Gemeinschaft haben, wir wollen aber für den sozialen Prozess noch weit mehr. Auch wenn Nenad Rašić [1] Minister ist, oder sogar, wenn Slobodan Petrović [2] Minister ist, haben wir unser Ziel noch nicht erreicht, wir sind noch sehr weit entfernt davon. In diesem Zusammenhang bedauere ich die Serbische Liste, da sie beabsichtigen, den Druck, dem sie selbst ausgesetzt sind, an die serbische Bevölkerung des Kosovo weiterzugeben. Hier findet höchstens eine Druckweitergabe statt.

Und im Zusammenhang mit dem Brüsseler Dialog sind Sie bereit, die Steuern zu suspendieren und den von der EU moderierten Dialog wiederaufzunehmen? 

Zunächst muss ich sagen, dass der Dialog mit Serbien nicht meine oberste Priorität ist. Wir brauchen einen demokratischen Staatsaufbau, wir brauchen eine sozioökonomische Entwicklung, und wenn Sie die Albaner und Serben aller Regionen des Kosovo fragen, was sie sich am meisten wünschen, sind dies Arbeitsplätze und Gerechtigkeit. Natürlich laufen wir vor den Gesprächen nicht davon, wir brauchen einen gut vorbereiteten Dialog, d. h. wir brauchen Prinzipien, und ich kann mir vorstellen, dass dieser Dialog neu beginnen wird, ich möchte aber keine schnellen Deals oder kurzlebige Abhilfemaßnahmen.

Auch wenn die USA anscheinend in diese Richtung gehen?

Ich weiß es nicht, sie haben zwei Unterhändler. Natürlich hätte ich gerne so schnell wie möglich eine Einigung. Ich glaube aber nicht, dass die Inhalte, die Substanz auf der einen Seite und der Prozess zur Einigung auf der anderen Seite vernachlässigt werden dürfen, nur weil man ehrgeizige Termine einhalten will.

Einige der Prinzipien in diesem Dialog wurden wohl im Brüsseler Abkommen von 2013 festgelegt. Halten Sie immer noch an Artikel 1 fest, der Idee von einem Verband serbischer Gemeinden?

Im Jahr 1991 hat die Republika Srpska mit einer Vereinigung serbischer Mehrheitsgemeinden in Bosnien und Herzegowina begonnen, sie haben also genau das angefangen, was sie auch hier im Kosovo beabsichtigen. Die internationale Anerkennung der Republika Srpska erfolgte am 14. Dezember 1995 in Dayton, Ohio. Allerdings viel früher, ich glaube es war im April 1991, gründeten sie die Vereinigung der serbischen Mehrheitsgemeinden, die dann Schritt für Schritt ihre Unabhängigkeit erklärte und ihre eigene Verfassung bekam. Ich bin nicht für dieses Modell, für diese Art Ansatz, ich möchte einen Austausch zwischen dem Kosovo und Serbien, nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit. Am 07. Dezember 2011 haben wir in unserem Parlament eine Resolution über eine umfassende Reziprozität mit Serbien beschlossen, nach der wir die Zölle nicht aufheben können, bevor wir nicht diese Reziprozität als konstruktives Prinzip umsetzen, für eine gesunde bilaterale Nachbarschaft. Preševo, Medveđa und Bujanovac [3], sie haben dieses nationale Koordinationsorgan, vielleicht wäre das auch für den Kosovo eine Lösung. Darüber hinaus hat unser Verfassungsgericht die Möglichkeit eines Gemeindeverbands ausgeschlossen. Es ist traurig, dass 23 Artikel unserer Verfassung nicht im Einvernehmen mit dem Brüsseler Abkommen stehen und dass keines der sieben Kapitel dieses Abkommens die Kriterien erfüllt, um im Einklang mit unserer Verfassung zu stehen, sodass im Grunde der Gemeindeverband tot ist, was in Belgrad sehr wohl bekannt ist. Und eine Sache, die für mich besonders interessant ist, war der 23. Dezember 2015, als unser Verfassungsgericht verlautete, dass ein Gemeindeverband nicht in Frage käme, und keiner der Serben im Kosovo dagegen protestierte, nur eben Belgrad. Die Serben im Kosovo sagen zu mir: “Wir sind mit dir einer Meinung. Auch wir wollen diesen Verband nicht.” Können Sie sich das vorstellen? 130.000 Serben im Kosovo und nicht ein einziger Protestbrief, als das Verfassungsgericht einen Gemeindeverband ausschloss.

Aber wenn Sie in die Zukunft sehen, wird die Normalisierungsvereinbarung ein Kompromiss sein müssen, d. h., dass beide Seiten etwas dazu beitragen müssen. Was wollen Sie Belgrad denn geben?

Es tut mir leid, das zu sagen, aber das ist die falsche Frage. Der Plan von Ahtisaari war ein Kompromiss, die Unabhängigkeit war ein Kompromiss, also handelt es sich jetzt nur um Taktik.

Die Unabhängigkeit war ein Kompromiss?

Ja.

Nicht zwischen Serbien und dem Kosovo?

In den frühen 1990er Jahren sagte Ibrahim Rugova, dass die Unabhängigkeit ein Kompromiss sei. Der Plan von Athisaari war ein Kompromiss über einen Kompromiss. Was ich Serbien anbieten kann, ist eine Liste mit Forderungen. 10.000 unbewaffnete Zivilisten wurden während des Krieges getötet, 20.000 Frauen wurden vergewaltigt, 1.200 kulturelle Güter wurden aus unseren Museen gestohlen. Bankguthaben von Kosovaren, Pensionskassen wurden gestohlen, 120.000 Häuser wurden zerstört, niedergebrannt oder zumindest beschädigt. Serbien hat keinen einzigen Euro dafür bezahlen müssen. Also bin ich der Meinung, dass Serbien uns etwas schuldig ist. Warum sollte ich mit Serbien einen Kompromiss eingehen, wenn sie Schulden bei uns haben – damit sie mich leben lassen?! Dies ist unser Land, wir haben unsere Unabhängigkeit erklärt, 110 Länder haben sie anerkannt, und es wäre gut für Serbien, wenn sie uns ebenfalls anerkennen würden, ich werde allerdings nicht darum betteln, dass sie uns anerkennen. Ich meine, Serbien muss seine eigene Vergangenheit bewältigen. In Batajnica [4], mitten in Belgrad, wurden 744 albanische Tote ausgegraben, und es gab nicht einmal eine Kennzeichnung, dass es sich hier um ein Massengrab handelte.

In Deutschland haben wir ein Sprichwort: “Der Klügere gibt nach.”

Ich denke, es ist jetzt an ihnen, klug zu sein. Ich denke, wir brauchen einen serbischen Präsidenten, der sich an Charles de Gaulle ein Beispiel nimmt, der sagte, dass Frankreich auch ohne Algerien ein großes Land ist – Serbien ist ein großes Land auch ohne den Kosovo. Und ein Beispiel an Willy Brandt mit dem Warschauer Kniefall für die Opfer, und ein Beispiel an Michail Gorbatschow mit der Perestroika für den Staat Serbien, der zu sehr zentralistisch organisiert ist. Sie können mir auch eine Liste mit Forderungen schicken, ich möchte sie lesen, allerdings können sie nicht einfach fragen, was bist du bereit zu geben.

Das Sondertribunal & Rechenschaftspflicht

Vetëvendosje hatte traditionell eine kritische Sichtweise auf UNMIK (die Interimsverwaltungsmission der Vereinten Nationen im Kosovo), ICTY (das Internationale Straftribunal für Ex-Jugoslawien) und das Sondertribunal. Jetzt hat das Sondertribunal aber Personen vorgeladen und sie werden wahrscheinlich eine Menge dieser Personen verurteilen, die sich auch nach Ihrer Meinung verantworten sollten, weil sie korrupt sind oder eine zweifelhafte Vergangenheit haben. Sind Sie immer noch ein Gegner des Sondertribunals?

Ich habe es nicht begrüßt, ich habe gesagt, dass es sich hier um ein Gericht sui generis handelt, mit einem Bein im kosovarischen System und mit dem anderen außerhalb des Systems, und ich denke, es wird eines Tages in Straßburg sehr schwierig, dieses Gericht als Institution zu verteidigen. Wir werden dafür sorgen, dass die ordentlichen Gerichte normal funktionieren und dass so die Sondertribunale überflüssig werden, die für unser Land leider eine internationale Verpflichtung geworden sind, weil man unsere Verfassung geändert hat, damit diese Tribunale existieren können. Das war jetzt vor vier Jahren und es gibt immer noch keine Anklagen, keine Prozesse.

Würden Sie es begrüßen, wenn Anklagen erhoben würden?

Nein, ich würde die Anklagen nicht begrüßen, ich denke aber, dass UNMIK und EULEX für viele Personen Unmengen Beweise für deren Korruption hatten und nicht entsprechend gehandelt haben, und nun sollen wir plötzlich 20 Jahre zurückgehen und uns mit etwas befassen, was der ICTY, UNMIK und EULEX alle geprüft haben, ich meine damit die Ergebnisse des Dick Marty Berichts. Also bin ich für dieses Gericht überhaupt nicht optimistisch, und ich denke, dass mehr Transparenz angebracht wäre. Es funktioniert wie ein Phantom und man hat dieses Konzept des verdächtigen Zeugen (Anm. der Redaktion: insider witness) eingeführt, also werden einige Personen als verdächtige Zeugen vorgeladen. Sind diese nun Zeugen oder Verdächtige? Nach dem Krieg fanden Verbrechen gegen Serben und Roma statt und ich denke, dass UNMIK hier keine Gerechtigkeit geschaffen hat und EULEX ebenso wenig: das müssen wir selbst tun. Und diese Verbrechen müssen einzeln strafrechtlich verfolgt werden, um herauszufinden, wer diese Serben oder Roma oder auch Albaner getötet hat. Es sind nun zwanzig Jahre vergangen, während derer man sich darum hätte kümmern können. Ich meine, das Problem besteht darin, dass UNMIK und EULEX die Rechtsstaatlichkeit nicht für Gerechtigkeit gegenüber den Opfern und für die Rechte der Bürger bemüht hat, sondern vielmehr zugunsten einer kurzfristigen politischen Stabilität, durch die Disziplinierung politischer Eliten. Ich möchte eine Stabilität, die auf Rechtsstaatlichkeit beruht, nicht eine, die auf deren Kosten existiert.

Eine Umweltschutzagenda für den Kosovo?

Wir haben gehört, dass Vetëvendosje eine Arbeitsgruppe für einen grünen New Deal unterhält, uns interessiert hier, wie bei der Umweltpolitik das Thema Energie behandelt wird, da der Kosovo in hohem Maße von der Kohle abhängig ist, ebenso das Problem kleiner Wasserkraftanlagen, und ob die vielen illegalen Mülldeponien zu Ihren Prioritäten zählen?

Ja, wir wollen gut informiert eine neue Umweltpolitik einführen, um die beiden Probleme Klimawandel und Ungleichheit gleichermaßen angehen zu können, da diese zusammenhängen und wir der Meinung sind, dass wir zu ihrer Lösung verpflichtet sind. Die neue Umweltpolitik als grünen New Deal zu bezeichnen, trifft es hier sehr gut. Wir wollen die Kohlenstoffemission senken und wir müssen diese Mülldeponien loswerden. Wir als sehr kleines Land haben diese riesigen offenen Deponien und außerdem müssen wir uns um die Waldrodung kümmern. Wir müssen Flussbette und Flussufer befestigen und wir müssen für die Einsparung von Plastik sorgen. Derzeit bekommen Sie in unseren Supermärkten noch so viele Plastiktüten wie Sie wollen.

Und Kosova e RE? (Anm. der Redaktion: Planung eines neuen Kohlekraftwerks)

Wir sind gegen dieses Projekt, nicht nur wegen der Umweltverschmutzung, sondern auch wegen der hohen Preise; die Preise sind für den Kosovo unverhältnismäßig hoch. 1,3 Milliarden für 450 Megawatt, das ist zu viel. Nach diesem Vertrag müssen wir den gesamten Strom kaufen, den sie produzieren, unabhängig davon, ob wir ihn brauchen oder nicht. Also wird der Strompreis steigen. Wir können allerdings die Kohle nicht auf einen Schlag abschaffen. Wir sehen sie für einen bestimmten Zeitraum als ein notwendiges Übel an, allerdings unter der Bedingung, dass wir sie schrittweise reduzieren. Wir wollen auch in Erneuerbare Energien investieren und so unseren neuen grünen New Deal in die Praxis umsetzen.

Also werden Sie den Vertrag mit dem amerikanischen Investor Contour Global über das Kraftwerk neu verhandeln? 

 … Wir wollen die Pläne stoppen.

Stoppen?

Sie annullieren. Nicht neu verhandeln, sondern annullieren.

Wird es mehr Finanzmittel für das Umweltministerium geben oder denken Sie über eine Umweltagentur nach, die Sie für bestimmte Aufgaben entsprechend bevollmächtigen wollen?

Ja, das Ministerium erhält ein größeres Budget, insbesondere für Erneuerbare Energien und für Energieeffizienz. Wir denken hier eher an ein Auktionssystem als an eine Einspeisevergütung, um den Ausbau Erneuerbarer Energien zu befördern. 

Von einer Bewegung zu einer politischen Partei

Sie haben Vetëvendosje als eine Bürgerbewegung und Bürgerinitiative aufgebaut. Wie haben Sie den Übergang von einer Bewegung zu einer politischen Partei gemeistert und was würden Sie jungen Aktivisten empfehlen, oder Menschen, die sich engagieren wollen und heute eine Bewegung oder Partei gründen, um eine Wiederholung eigener Fehler zu vermeiden?

Ich bin der Meinung, dass es nicht das eine Modell gibt, das für alle Kontexte passt. Ich glaube, Ideen sind wichtig, ich glaube auch, Serbien brauchte eine progressive Linke, und dann brauchen Sie eine Vielzahl an Aktivitäten, entsprechende Organisationsstrukturen und eine allgemeine Vision, oder besser gesagt Weltanschauung. Es ist sehr wichtig, in großen Dimensionen zu denken und auch Risiken einzugehen, dann kommen die Aktivitäten dazu, es muss sich etwas bewegen. Ohne Bewegung ist es nicht machbar, es geht nicht nur um gute Gedanken, sie brauchen Aktionen. Manchmal ohne Ihre Gedanken zu Ende zu denken, Sie brauchen Bewegung und anschließend können Sie eine Organisation mit einer entsprechenden Struktur aufbauen. Das ist die Dreieinigkeit.

Ok, Vision, Aktion, Organisation.

Ja. Fünf Jahre lang haben wir komplett außerhalb des Systems agiert; wir wurden verhaftet usw., dann aber kam die Unabhängigkeit, die Dinge änderten sich und ich sagte: OK, jetzt können wir entweder zur Wahl antreten oder weiter protestieren. Wir könnten auch eventuell unseren Protest ins Parlament tragen. Also wurden die Methoden insgesamt kombiniert, es ist dabei aber sehr wichtig gewesen, Menschen um sich zu haben, die mit Begeisterung dabei sind und die ausdauernd sind, die ihre Ideen sehr ernst nehmen, sich selber aber nicht so sehr. Man sollte sich selbst nämlich nichtübermäßig ernst nehmen. Nehmen Sie Ihre Ideen sehr ernst, verfolgen Sie sie um jeden Preis weiter. Die Leidenschaft sollte daher kommen die Vision zum Bedürfnis werden zu lassen.  Nicht leicht, aber erfolgversprechend!

Nationale Symbole & Ethnizität

Einige sehen in Ihnen einen linken Nationalisten, der den Kosovo in Richtung Vereinigung mit Albanien steuert, jemanden, der ein Problem mit den nationalen Symbolen des Kosovo hat. Wie reagieren Sie darauf?

Als unsere Flagge im Parlament festgelegt wurde, haben wir noch am selben Tag, dem 17. Februar 2008 die Unabhängigkeit erklärt, ohne jede Parlamentsdebatte, ohne Referendum, ohne lange darüber nachzudenken, über Geschichte, Geografie, und unter einigen Bedingungen, die wir für sehr problematisch hielten, kein Rot, kein Schwarz, kein Adler, als ob wir die Unabhängigkeit von Albanien erklären würden und nicht von Serbien. Im Parlament habe ich das respektiert, ich war nicht übermäßig begeistert davon, aber ich konnte es respektieren. Ich war Vorsitzender des Ausschusses für Auslandsangelegenheiten und hatte sie immer dort. In der Regierung werden wir sie haben und respektieren sie natürlich – wir werden sie nicht entfernen. Allerdings ist für uns Albanien viel mehr als ein Nachbarland. Die Grenze zwischen dem Kosovo und Albanien wurde bei der Londoner Konferenz 1913 festgelegt. Ich weiß, woher dieser Artikel 1.3 unserer Verfassung stammt, der es uns nicht erlaubt, uns mit einem anderen Land zu vereinen. Ich glaube, er wurde nach österreichischem Vorbild formuliert, wo ein Anschluss an Deutschland verboten wird. Aber nicht wir hatten Hitler, Serbien hatte Milosevic. Artikel 1.3, der übrigens zu Artikel 1.1 im Widerspruch steht, der besagt, dass wir ein unabhängiges, souveränes Land sind. Aber wir sind nicht unabhängig von der Unabhängigkeit. Wir sind in der Unabhängigkeit gefangen. Wir können z. B. keiner Föderation beitreten. Sogar ein Beitritt zur EU wäre problematisch. Allerdings übernehme ich nicht den Gedankengang unseres Präsidenten, der meint, dass ein Scheitern des Staates Kosovo uns näher an eine Vereinigung mit Albanien rückt. Ich hingegen denke, dass dieser Staat zunächst einmal erfolgreich sein muss. Weil der Gedanke, den Norden aufzugeben und Albanien beizutreten nicht funktionieren würde. Das war die Idee unseres Präsidenten, die meiner Ansicht nach falsch ist. Allerdings ist auch hier die Sozioökonomie sehr viel wichtiger als Symbole und geopolitische Themen. Das ist unser Ansatz, von dem wir hoffen, dass er so gut und rasch funktionieren wird, wie wir es geplant haben.

Ich bin erst seit Kurzem in dieser Region unterwegs und ich nehme wahr, dass die Menschen immer noch mit dem Konzept der Staatsbürgerschaft und der ethnischen Zugehörigkeit zu kämpfen haben. Wie denken Sie darüber?

Aus welchem Land stammen Sie?

Deutschland.

Wissen Sie, für mich ist Nationalität ok. Von der ethnischen Zugehörigkeit bin ich nicht so überzeugt, weil die Ethnizität in der akademischen Welt besonders populär wurde, als in den 1970er Jahren entsprechende anthropologische Studien angestellt wurden, und in der Politik auf dem Balkan wurde sie während des Kriegs in Bosnien populär. Es gab einen Begriff, der vor Ethnizität benutzt wurde, und das war der Begriff der ethnischen Säuberungen. Also haben Sie, bevor Sie ein ethnischer Serbe, ethnischer Kroate, ethnischer Bosnier werden, die ethnische Säuberung. Die Ethnizität kam mit dem Krieg, mit den ethnischen Säuberungen und mit dem Genozid. Ich habe nichts einzuwenden, wenn jemand von der serbischen Staatsbürgerschaft spricht, von der deutschen, albanischen, italienischen Nationalzugehörigkeit, warum aber müssen wir von ethnischen Deutschen, Italienern oder Albanern sprechen? Ethnizität ist eine Reise in die Biologie, weg von der Politik, Geschichte und Sozioökonomie. Für mich sind „Nationalität“ und „die Nation“ Begriffe, die auf Dauer bestehen bleiben werden. Wir werden sie in naher Zukunft nicht abschaffen können. Und ich denke, dass wir eines Tages, vielleicht erst im 22. Jahrhundert, die Nationen abschaffen können, dieser Prozess beginnt aber nicht mit den Albanern und den Serben. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass der Patriotismus und Nationalismus kleiner Nationen weniger Schaden anrichten können als diese Bestrebungen in großen Nationen. Ich bin nicht besorgt über den Nationalismus des schottischen Volks, ich bin aber besorgt über einige nationalistische Tendenzen in der Welt in Hinblick auf Frieden und Sicherheit.

Vielen Dank für Ihre Zeit.

 

Das Interview wurde von Simon Ilse, Leiter des Büros Belgrad der Heinrich-Böll-Stiftung, am 14. November 2019 in Pristina geführt.


[1] Vorsitzender der serbischen Partei “Progressive Demokratische Partei”.

[2] Ehemaliger Vorsitzender der “Unabhängigen Liberalen Partei ” im Kosovo, später Mitglied der “Serbischen Liste”.

[3] Alle drei sind Gemeinschaften im Süden Serbiens mit albanischen Mehrheitsgemeinden.

[4] Vorstadt von Belgrad, Polizeiübungsgelände.