Böll.Thema_Infrastrukturen

Infrastrukturen stellen Weichen

Diesen Artikel schreibe ich in meiner Heimat­stadt Stuttgart. Im Café warte ich auf den Beginn der Demonstration für den globalen Klimastreik am 20. September.

Bei der Anreise kam ich durch den Stuttgarter Hauptbahnhof, in dem seit Jahren ein riesiges Loch klafft: Die Baustelle für «Stuttgart 21». Soviel Zement, soviel Stahl, soviel Emissionen, soviel Geld, denke ich bei ihrem Anblick.

Ein Mega-Infrastrukturprojekt, das inzwischen auch der Bahn-Vorstandschef bereut, das aber nun so weit fortgeschritten ist, dass keiner mehr aussteigen kann. Augen zu und durch ist nun die Parole, obwohl die Kosten von ursprünglich 2,5 auf 8,2 Milliarden Euro gestiegen sind, Tendenz weiter steigend. Dabei wird immer deutlicher, dass für das viele Geld ein Nadelöhr für den geplanten Deutschlandtakt in Beton gegossen wird. Der Deutschlandtakt soll in einem Jahrzehnt unser Land mit umweltfreundlichen Bahnverbindungen im Halbstundenrhythmus erschließen.

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Infrastruktur stellt Weichen: Wie wir uns fortbewegen, und wie wir Energie erzeugen und verteilen. Wie wir kommunizieren, und welches Wasser wir trinken. Ob wir die Wende zur klimafreundlichen Gesellschaft schaffen. Ob unsere Flüsse sauber werden, und ob sie noch frei fließen dürfen. Ob unsere Städte öffentliche Räume für alle werden, oder privatisierte Tempel für Konsumenten. Ob Bildung und Gesundheit als öffentliche Güter oder nach Gewinninteressen organisiert werden. Ob Platz für Fahrräder geschaffen wird oder für Stadtautobahnen. Ob Züge von China nach Europa fahren, dank denen wir Elektronik binnen weniger Tage quer durch den asiatischen Kontinent geliefert bekommen. Ob Regenwälder für Holzfirmen und Palmölplantagen erschlossen werden, oder afrikanische Dörfer Strom und Zugang zum nächsten Markt bekommen. Ob Pipelines und LNG-Terminals für fossiles Gas gebaut werden, oder Stromleitungen Offshore-Windparks ans Netz bringen.

All diese Fragen werden durch Entscheidungen über Investitionen in Infrastruktur auf die lange Frist beantwortet. Nicht für eine Legislaturperiode, sondern für Jahrzehnte. «Lock-in» heißt der Anglizismus für das «Einrasten» von Entwicklungspfaden, die selbst bei späteren Regierungswechseln nur schwer zu verlassen sind. So prägt zum Beispiel in Stuttgart der autobahnähnliche Ausbau der durch die Stadt führenden Bundesstraßen in den 60/70er Jahren die Stadt bis heute. Und er hat den Autoverkehr weiter angezogen, hat Interessensgruppen für Automobilität geschaffen. Das geht so weit, dass sich heute selbst grüne Stadt- und Landesregierungen schwertun, Gerichtsurteile zu den Schadstoffbelastungen am Neckartor umzusetzen, denn der Protest der Autofahrer ist sicher.

Unter einer dieser Stadtautobahnen, die als B10/B27 vom Norden in die Stadt führt, verschwand Anfang der 70er Jahre das Haus meiner Großeltern samt dem wunderbaren Garten, in dem wir Enkel eine glückliche Kindheit verbracht hatten. Sie hatten sich das schöne Haus durch Krieg und Inflation vom Munde abgespart, doch von der mageren Entschädigung konnten sie sich kein neues in Stuttgart-Zuffenhausen leisten. So mussten sie als Rentner umziehen, im weit entfernten Schwäbisch Hall reichte es gerade noch für ein winziges Reihenhaus.

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Damit sind sie noch glimpflich davon­gekommen: Zwischen 2004 und 2013 mussten 3,4 Millionen Menschen allein für Weltbankprojekte weichen, wie eine Recherche des Internationalen Konsortiums für Investigativen Journalismus herausfand. Zumeist sind es Menschen, die in Slums wohnen, Fischersleute, Kleinbäuerinnen und -bauern, Hirtinnen und Hirten, die mit ihrem Land oft auch ihre Lebensgrundlage verloren.

Keine Frage, wir brauchen neue Infrastrukturen. Doch sie stellen nicht in erster Linie technische Fragen an Ingenieure. Welche Infrastruktur, für welche Form von Entwicklung, in wessen Eigentum, zu wessen Nutzen und zu wessen Lasten? Das sind die eminent politischen Fragen, an denen sich Konflikte um Infrastrukturprojekte entzünden. Wie wir diese Fragen beantworten, das wird darüber entscheiden, ob Klimaziele erreicht, ob Wälder erhalten, ob Wasser sauber wird – kurz: ob unsere Lebensgrundlagen erhalten bleiben oder nicht.

Denn Infrastrukturpolitik hat globale Dimensionen: Geht es nach den Wünschen der G20, werden die Infrastrukturinvestitionen weltweit in den nächsten Jahren verdoppelt. Der Bedarf ist groß: Milliarden Menschen ziehen in die Städte, brauchen Wasser und Abwasser, Energie, Transport, Kommunikation, Krankenhäuser, Schulen.

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Zwölf Billionen US-Dollar sollen investiert werden. Die im globalen Steuerwettbewerb geschrumpften Staatsbudgets geben das nicht her. Eine «Infrastrukturlücke» wird diagnostiziert, und der private Kapitalmarkt soll sie stopfen. «Infrastruktur als Anlageklasse» heißt das G20-Schlagwort, unter dem Infrastruktur in Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP) privat finanziert und betrieben werden soll. Der Staat soll die Gewinne garantieren. De-Risking nennt man das in der Finanzbranche. Doch das mit den riesigen Investitionen verbundene Risiko verschwindet nicht, es verschiebt sich nur auf die öffentliche Hand. Das stellte der IWF fest, als er in der Finanzkrise in Portugal zu Hilfe gerufen wurde und feststellen musste, dass Ausgaben in Höhe von 15% des Bruttosozialprodukts in ÖPPs versteckt waren – vor allem für Straßenbau.

Das Finanzierungsmodell ist sehr «innovativ»: Die privaten Betreiberfirmen erhalten Nutzungsgebühren oder garantierte Zahlungen des Staates. Die Erträge sollen in Finanzprodukten gebündelt und diese nach Risiko gestaffelt von Schattenbanken auf den globalen Kapitalmärkten verkauft werden. Aus dem eingenommenen Kapital wird der Infrastrukturbau refinanziert. Angesichts von Niedrigzinsen soll so auch Ihre Lebensversicherung vom Autobahnbau in Indonesien profitieren. Und natürlich ganz nebenbei auch die Finanzbranche, die das Ganze arrangiert. Darüber sind sich von Beijing bis Washington, von Brüssel bis Jakarta scheinbar alle einig. «Wall Street Konsens» nennt das die britische Wirtschaftswissenschaftlerin Daniela Gabor, in Anlehnung an den «Washington Konsens» der 90er Jahre.


Jörg Haas ist seit 2017 Referent für internationale Politik der Heinrich-Böll- Stiftung, wo er sich mit der großen Transformation zum nachhaltigen Wirtschaften beschäftigt. Zuvor arbeitete er bei Campact vorwiegend zu Handelsabkommen und bei der European Climate Foundation zur internationalen Klimapolitik.

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