40 Jahre Grüne: Zeitgeistphänomen oder Jahrhundertprojekt?

Hintergrund

Was hat die Grünen hervorgebracht, was hält sie zusammen? Der Philosoph und Politologe Reinhard Olschanski blickt zurück, gratuliert und konstatiert: Das ökologische Paradigma war das entscheidende, aufregend Neue. Doch im Verlauf von 40 Jahren Grüne und 30 Jahren Bündnis 90 ist eine thematisch breit aufgestellte politische Kraft entstanden, die die Fundamentalliberalisierung der Bundesrepublik vorantrieb – und sie für sich zu nutzen wusste.

Gründungskongress Die Grünen, Stadthalle Karlsruhe, 12./13.1.1980
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Gründungskongress Die Grünen, Stadthalle Karlsruhe, 12./13.1.1980

Zeitgeist und politische Konjunktur haben manches Parteiprojekt aus der Taufe gehoben – und ihm oft ein nur kurzes öffentliches Leben beschert: Einige wenige Medienresonanzen und ein Platz unter den Listen, die ganz unten auf den Wahlzetteln stehen. Auch die Grünen waren einmal Teil eines solchen Angebots. Und tatsächlich war es eher unwahrscheinlich, dass mehr aus ihnen würde als ein flüchtiger politischer Sinnenreiz. Woran liegt es, dass es die Grünen 40 Jahre nach ihrer Gründung immer noch gibt? Und dass sie im Parteiensystem inzwischen so etwas wie der neue Stabilitätsanker sind?

An der Wiege wurde ihnen das jedenfalls nicht gesungen. Denn dort ging es um Politik in denkbar flüssiger Form – um Bewegungen mit wenig formellem Zuschnitt, um Anti-AKWler, Feministinnen, Friedensbewegte und Dritte-Welt-Gruppen, um enttäuschte Semester aus den K-Gruppen, die nicht immer nur die 1920er Jahre nachspielen wollten, oder um Anhänger von etablierten Parteien, die mit deren Führungen haderten. Die Gründungsgrünen waren der wohl bunteste politische Regenbogen, der je zur Partei wurde. Allein schon deshalb erscheint ihre weitere Entwicklung als eine ziemliche Überraschung.

Die Antwort auf die Frage, wie alles gekommen ist, wird nicht leichter, wenn man sich der Faktenfülle und der schillernden Ereignisoberfläche aus 40 Jahren Parteigeschichte zuwendet. Wo sollte man anfangen, wenn man nicht bloß aufzählen will? Und wo zwischen den ersten grünen Listengründungen Ende der 1970er Jahre und den nicht bloß demoskopischen Höhenflügen heutiger Tage sollte man tiefer bohren, um zum Kern der Sache zu vorzustoßen?

E pluribus duum – die zwei Markenkerne

Auch auf die Gefahr hin, wichtige Details zu überspringen, möchte ich für eine recht einfache These plädieren: Die Grünen sind deshalb beständig und erfolgreich, weil sie über alle Disruptionen und inhaltliche Verästelungen hinweg zwei weithin sichtbare und wiedererkennbare Markenkerne ausgebildet haben und sie im kollektiven Bewusstsein der Republik verankern konnten. Sie sind zunächst die Partei eines neuen politischen Paradigmas, nämlich des Ökologismus. Das ist das aufregend Neue an den Grünen. Aber sie stehen auch für die Erneuerung von alten Bekannten: Sie haben mit ihrer Politik den drei älteren politischen Grundströmungen – dem Liberalismus, dem Konservatismus und dem Sozialismus – wichtige Nuancen abgewonnen und diese à jour gebracht. Die Grünen, das meint „e pluribus duum“: Eine Vielheit, die sich im Verlauf der vergangenen 40 Jahre als solide integrierte Zweiheit etabliert hat, eine ökologische und zugleich auf neue Weise sozialliberale Partei mit wertkonservativen Einsprengseln.

Die beiden Markenkerne sind praktisch relevant. Die Partei ist mit ihnen inzwischen thematisch breit aufgestellt. Im Zusammenspiel sorgen sie für einen unverwechselbaren Sound. Die Grünen sind ein politischer „Vollsortimenter“ geworden, der zu allen wichtigen Themen der Tagesdebatte mit eigenen Vorschlägen zu hören ist und Beachtung findet.

Ökologie oder Industrialismus?

Die Geburt der Grünen hat viel zu tun mit der Einsicht in die Endlichkeit der Ressourcen, die nicht zuletzt durch den Bericht des Club of Rome von 1972 eine breitere Öffentlichkeit erreichte. Auch Probleme wie der saure Regen, die Verschmutzung der Flüsse, der unökologische Landbau, die ungezügelte Versiegelung von Flächen oder die Enthumanisierung der Städte zugunsten der sogenannten autogerechten Stadt trugen bei zur Formierung der grünen und bunten Listen. Aus Ihnen entstand im Kontext des Europawahlkampfs 1979 zunächst die „Sonstige Politische Vereinigung–Die Grünen“ und schließlich, auf der Bundesversammlung am 12. und 13. Januar 1980 in Karlsruhe, die Partei „Die Grünen“ auf Bundesebene.

Und natürlich spielte die Atomkraft in der Formierungsphase eine besondere Rolle – sowohl in ihrer militärischen wie auch der sogenannt friedlichen Variante. Der Protest gegen AKWs und den Schnellen Brüter hatte eine enorme mobilisierende Wirkung auf die grüne Gründergeneration. Der zivile Widerstand an Orten wie Gorleben, Brokdorf, Kalkar oder Wyhl wurde in fast mythischer Weise identitätsstiftend. Entsprechendes gilt für die Friedensbewegung und ihren Kampf gegen die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Die spätere Parteivorsitzende Petra Kelly, der ehemalige Panzergeneral Gerd Bastian oder der Künstler Joseph Beuys gehörten zu den Symbolfiguren des Protests.

Der Kampf gegen Atomkraft und Mittelstreckenraketen führte zu einem tiefen Bruch mit den etablierten Parteien, die zumindest mit ihrem führenden Personal auf der anderen Seite standen. Die alten Parteieliten verlachten den Protest auf den Straßen und Bauplätzen. Und manchmal dämonisierten sie ihn auch. Die von den Grünen ausgesprochenen Ängste und Vorbehalte waren jedoch alles andere als mythisch, symbolisch oder dämonisch. Tschernobyl und später Fukushima zeigten, in welch dramatischer Weise sie richtiglagen und wie sehr eine unkritische Technikeuphorie an den Gefahren vorbeiging, die aus der modernen Technologie erwachsen war.

Gleichzeitig lief die Technikkritik der Grünen auf keine rückwärtsgewandte Romantik hinaus, auch wenn sie mitunter von Wollpullover strickenden grünen Männern und Frauen vorgetragen wurde und einiges an „German Angst“ darin eingewoben war. Dass die Alternative aber nicht: entweder Technik oder keine Technik lauten konnte, haben auch die Grünen bald bemerkt. Im Ergebnis brachte ihre Kritik Ökonomie und Ökologie auf konstruktive Weise zusammen. Sie öffnete den Weg für eine andere, verantwortbare, umweltverträgliche Technik. Der praktische Nachweis, dass eine solche Technik möglich und sinnvoll anwendbar ist, wird mit dem Siegeszug der Erneuerbaren Energien heute weltweit erbracht.

Wie weit der ökologische Gedanke tatsächlich trägt, wurde erst nach und nach deutlich – so, als halte er es mit Hegels Eule der Minerva, die ja auch erst in der Dämmerung einer überkommenen Zeitgestalt ihren Flug beginnt. Wenn die grüne Eule heute über rust belts fliegt, dann erkennt sie darin den industrialistischen Geist, der die eigentliche Weltanschauung der zu Ende gehenden Epoche war. Sie erkennt auch, dass die politischen Hauptkombattanten dieser Epoche – so sehr sie auch über Sozialismus, Kapitalismus oder Dritte Wege stritten oder sich sogar mit dem ganzen Vernichtungspotenzial der Blockkonfrontation bedrohten – Teil einer einzigen, nämlich industrialistischen Internationale waren. Bei allem Streit einten sie die Grundüberzeugungen des Industrialismus: dass es nur einen einzigen Pfad der Technikentwicklung gebe und dass die Umwelt umsonst sei, weshalb man sie aus den Kosten der Produktion herausrechnen könne. Das war das zweite große Credo des industrialistischen Epochengeists.

Die Grünen haben die Tragweite ihrer Kritik zunächst wohl mehr erahnt als erkannt. Sie wussten allerdings, wo deren Kernpunkte lagen: Umwelt ist nicht umsonst. Und nachhaltige technische Alternativen sind möglich! Diese Überzeugungen legten sie ihrer Politik sehr konsequent über die Jahrzehnte zugrunde – prominent formuliert im Slogan, wonach wir die Erde nur von unseren Kindern geborgt haben. Heute, 40 Jahre später, stehen die Kinder, die damit gemeint waren – oder auch schon deren Kinder – auf der Straße und protestieren mit den Fridays for Future für Klimaschutz und den Gedanken der Nachhaltigkeit. Mit diesem Leihgeber zieht offenkundig die neue Zeit.

Ökologie als vierte politische Grundidee der Moderne

Mit der wachsenden Einsicht in das Wesen des Industrialismus verflüchtigen sich auch weitere Chimären rund um die ökologische Idee, zum Beispiel die, wonach Ökologie bloß etwas für die Reichen und Wohlhabenden sei – für Bürgerkinder, die sonst keine materiellen Sorgen mehr haben. Entgegen dieser Auffassung ist Ökologie jedoch gerade keine postmaterialistische Idee, sondern eine, die „materialistischer“ ist als Ökonomen, die im Geist des Marxschen Denkens groß geworden sind, sich je vorstellen konnten. Denn die Ökologie zeigt, wie sehr wir durch Leib und Körper wirkliche Naturwesen sind und wie stark wir mit der Zerstörung der äußeren Natur auch uns selbst in Mitleidenschaft ziehen.

Tatsächlich bringt der Klimawandel als massivste Folge von 200 Jahren Industrialismus die materielle Basis des menschlichen Lebens auf der Erde in Gefahr. Wenn die Erderhitzung ungezügelt weitergeht, dann wird sie die Lebensgrundlagen nicht von Millionen, sondern von Milliarden Menschen zerstören, vor allem auch die der Allerärmsten. Die Breiten, in denen sie heute noch leben, werden schlicht unbewohnbar sein. Deswegen ist der Klimawandel die größte globale Herausforderung unserer Zeit. Die Grünen wissen das seit langem. Sie haben es in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt, als Andere den Klimawandel noch leugneten oder ihm allenfalls rhetorisch und mit Symbolpolitik begegneten.

Die ökologische Idee ist also kein luftiges oder postmaterialistisches Etwas, sondern sie betrifft elementare Lebensgrundlagen. Deshalb meint sie auch nicht bloß Lifestyle und Jutebeutel, sondern eine große Transformation an der Basis der Ökonomie. Sie macht ernst mit dem, was der Wirtschaftsoziologe Karl von Polanyi schon in den 1940er Jahren einforderte, als er feststellte, dass die „Große Transformation“ hin zu Marktwirtschaft und Industrialismus nicht nur die Arbeitskraft, sondern auch Grund und Boden und damit Umwelt und Natur aus den überkommenen feudalen Bindungen freigesetzt und zur Ware gemacht hatte. Polanyi folgerte hellsichtig, dass die Moderne deshalb eigentlich zwei weitere Transformationen benötige: die der sozialen Wiedereinbettung der menschlichen Beziehung durch den Sozialstaat und die einer Wiedereinbettung der Naturbeziehung. Umwelt und Natur dürfen nicht länger als bloß vernutzbare und beliebig zu vermarktende Güter behandelt werden, sondern so, dass die Lebensgrundlagen nachhaltig geschützt werden. Genau dieser Aufgabe verschreibt sich der ökologische Grundansatz. Die Grünen haben mit ihm die zweite große und lange verdrängte Basisfrage der industriellen Moderne zu ihrer eigenen gemacht. Darin liegt der tiefste Grund ihrer erfolgreichen Entwicklung. Sie haben eine Jahrhundertfrage gestellt, konstruktive Antworten formuliert und zum Teil auch schon praktisch realisiert.

An der Bedeutung dieses Fundaments in der Sache hängt auch die des „Überbaus“ grüner Politik. Das ökologische Paradigma sitzt nicht länger nur am Katzentisch der politischen Ideen der Moderne – zu klein und unbedeutend, um bei den Großen mitspielen zu dürfen. Die ökologische Idee steht längst in einer Reihe mit den liberalen, konservativen oder sozialistischen Paradigmen, die den Ideenhimmel der letzten 200 Jahre bevölkerten. Und sie motiviert viele Menschen in ihrem praktischen Tun. Deshalb gibt es in unserer Moderne nicht mehr nur drei, sondern vier große politische Paradigmen. Und auch deshalb haben die Grünen aufgeschlossen zu den Parteien, die aus den drei älteren Ideenströmungen hervorgegangen sind.

Gleichzeitig fällt mit der ökologischen Perspektive ein neues Licht auf die älteren Ideen. Sie kann zu einer Erneuerung von wichtigen Gehalten des sozialen, liberalen oder wertkonservativen Denkens beitragen, das ohne eine ökologische Fundierung schlicht aus der Zeit zu fallen droht. Die ökologische Orientierung hat das Zeug, nicht nur eine industriell-technische, sondern auch eine umfassendere, kulturell-geistige Modernisierung anzuleiten.

Zwischen Pop und Protest – die Grünen als neue liberale Kraft

Mit der Ökologie haben die Grünen eine Jahrhundertfrage gestellt. Allerdings sind die anderen Fragen, auch wenn viele von ihnen nun auf andere Weise gestellt werden, nicht einfach bedeutungslos geworden. Und auch die Grünen selbst sind ja nicht bloß aus der Ökologiebewegung hervorgegangen, sondern stellen für sich eine ganze Regenbogenkoalition dar. Tatsächlich gibt es in der grün-bunten Vielfalt noch einen zweiten, soziokulturellen Faden, der sich durchzieht und grüne Politik zusammenhält.

Soziokulturell gesehen sind die Grünen ein Kind von Woodstock und Studentenbewegung. Ihre primäre Sozialisation fand irgendwo auf halbem Weg zwischen Janis Joplin und Rudi Dutschke statt. Dabei haben sie all das, was sich mit Jazz und Existenzialismus in den 1950er ankündigte und was mit Folk, Rock und Pop dann breit in 1960er und 70er Jahre in die Gesellschaft einfloss, in sich aufgenommen. Und auch das, was gleichzeitig in den Bürgerrechtsbewegungen, im Kampf für Frauen-, Schwulen und Lesbenrechte, in der Friedens- und Anti-Vietnamkriegs-Bewegung oder im Wunsch nach mehr demokratischer Partizipation einen politischen Ausdruck fand. Sie sind der Sprössling einer Fundamentalliberalisierung, einer weltoffenen und liberalen Lebensweise, die ausgehend von kleinen und zunächst randständigen Sub- und Jugendkulturen die westlichen Gesellschaften prägte und inzwischen den Mainstream darstellt.

Längst will auch der konservative Teil der Bevölkerung seinen „Anteil an Woodstock“ haben. Oder, um es mit Heidegger auszudrücken, er will ebenfalls in der neuen „Lichtung des Seins“ stehen, die einen alten, muffigen und autoritären Geist überwunden hat. Die soziokulturelle Bruchlinie hin zu diesem neuen Anspruch verläuft inzwischen am rechten Rand der Union, und auf dem Weg von dort bis hin zu Franz-Josef Strauß‘ berühmter „politischer Wand“ rechts außen.  Für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ist die liberale Lebensweise in der offenen Gesellschaft, die die Grünen politisch verkörpern, jedenfalls längst die eigene – selbst dann, wenn sie gar keine Grünenwähler sind.  Soziokulturell stehen hier keine turmhohen Trennmauern mehr.

Eigentlich hätte die angestammte Partei des Liberalismus in Deutschland, die FDP, der originäre Erbe dieser Liberalisierung sein können, ja müssen. Aber sie nahm unter Otto Graf Lambsdorff einen anderen Weg und drängte die eigene sozialliberale Traditionslinie mit einem harten Wirtschaftsliberalismus an den Rand. Und von der SPD unter Helmut Schmidt war noch viel weniger ein integrativer Kurs zu erwarten. Spätestens seit dem „Deutschen Herbst“ 1977 hatte man dort das Visier heruntergeklappt und trug mit zunehmend autoritären Worten und Taten dazu bei, die junge Generation mit ihren Ansprüchen auf Liberalität und Selbstbestimmung abzuschrecken.

Damit hatten die alten Parteieliten auch die Erneuerungskraft dieser engagierten jungen Generation für ihre eigenen Parteien verspielt. Sie leisteten einen unfreiwilligen Beitrag zum Entstehen der Grünen. Das, was heute als Krise der Volksparteien verhandelt wird, ist auch eine Spätfolge dieses Fehlers. Pop und Protest und das Unverständnis der Etablierten mündeten stattdessen in den grünen Gründungsimpuls. Sie brachten die Gründungsgeneration dazu, es bei aller Buntheit und gegen alle Wahrscheinlichkeit mit einem eigenen Projekt zu versuchen.

Soziale und wertkonservative Perspektiven

Mit der auf Selbstbestimmung und Weltoffenheit gründenden liberalen Grundausrichtung verband sich auch eine besondere soziale Empathie. Sie fußt bei den Grünen nicht mehr auf einem Klassenparadigma oder einer kollektivistischen Sicht der Dinge, wie sie aus den relativ einheitlichen Lebensbedingungen und Erfahrungszusammenhängen des alten fordistisch-industrialistischen Zeitalters entspringt, sondern greift die gewachsenen Ansprüche nach individueller und selbstbestimmter Lebensgestaltung auf und formuliert in kantisch-citoyenhafter Weise eine an der normativen Verallgemeinerbarkeit von Regeln orientierte Politik. Die Regeln, die die Gesellschaft sich gibt, sollen für alle gelten und allen ein freies, gutes und selbstbestimmtes Leben ermöglichen.

Aus diesem Grundansatz entspringt das Gerechtigkeitsideal, mit dem die Grünen die alte, primär an Verteilungsfragen orientierte Gerechtigkeitsvorstellung der Sozialdemokratie ergänzen, erneuern und erweitern. Das Ergebnis ist ein komplexer Gerechtigkeitsbegriff.  Dazu gehört die besondere Betonung der Chancengerechtigkeit, die nach der Verteilung von Lebenschancen unter heutigen Bedingungen fragt und eine differenzierte Politik für Betreuung, Bildung und Ausbildung formuliert – und auch eine erneuerte Idee von Familie. Grüner Politik geht es in besonderer Weise auch um Geschlechter- und Gendergerechtigkeit, wobei sie die lange Geschichte der Frauenrechts- und Antidiskriminierungspolitik zeitgemäß fortschreibt. Mit ihrer Frauenquote haben die Grünen eine regelechte Kulturrevolution ausgelöst, was ein weiterer wichtiger Grund für ihre gewachsene Stärke ist. Schließlich formulieren sie die Idee einer Generationengerechtigkeit, die bei der Klimafrage und angesichts der fortbestehenden Externalisierung von ökologischen Folgekosten von hohem Belang ist. In der Sozialpolitik läuft der Gedanke allerdings Gefahr, einer Ideologisierung des Nachhaltigkeitsbegriffs aufzusitzen. Eine komplex arbeitsteilige Gesellschaft mit Produktivitätszuwächsen funktioniert eben nicht nach dem archaischen Prinzip eines Köpfezählens Alt gegen Jung! Die Grünen sollten Begriffe wie Nachhaltigkeit oder Subsidiarität, die ihnen wichtig sind, besser vor Greenwashern und Trittbrettfahrern schützen. Dass sie das überhaupt tun müssen, ist allerdings auch eine der Folgelasten ihres Erfolgs.

Die Grünen sind schließlich nicht nur Erben und Erneuerer von wichtigen sozialen und liberalen Traditionslinien, sie sind auch eine Partei mit einigen wertkonservativen Einsprengseln. Damit ist nicht ein völkischer Konservatismus gemeint, der episodenhaft durch ihre Anfangszeit geisterte. Sondern weit eher der des „grünen“ Sozialdemokraten Erhard Eppler, der mit einer kritischen Unterscheidung zwischen Wert- und Strukturkonservatismus den Konservatismusgedanken aus der rechten Ecke holte. Wo sollte der Strukturkonservatismus heute deutlicher zutage treten als beim Widerstand der alten Öl-, Kohle- und Atomlobbys gegen die Wende hin zu den Erneuerbaren Energien?  Diese Lobbys verteidigen die Strukturen eines alten und nicht nachhaltigen Industrialismus auch gegen den Versuch, das Konservative werthaft zu verstehen – nämlich im Sinne eines conservare, dem es um den Schutz natürlichen Lebensgrundlagen zu tun ist. Der grüne Wertkonservatismus ist nicht zuletzt eine starke Brücke zu Menschen, die die Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes im Sinne eines Erhalts der Schöpfung thematisieren.

Ein neuer Leitgegensatz?

Die Grünen haben mit ihrer praktischen Politik das Erbe des Links- und Sozialliberalismus angetreten. Und sie vertreten wertkonservative Ideen, die damit harmonieren. Sie stehen in Traditionslinien, die viel älter sind als sie selbst. Es wäre gut, wenn sie ihr Parteijubiläum nutzen, um auch über den Tellerrand ihrer Parteigeschichte im engeren Sinne hinauszublicken.

Zudem sollten sie nicht die nur 30 Jahre zurückliegenden Ereignisse vergessen, die sie mit Bündnis 90 zusammenführten und die ihnen im Gefolge nicht nur die zweite Hälfte ihres Parteinamens gab, sondern ganz konkret und kurzfristig auch die fortbestehende Präsenz im Bundestag nach dem vollkommen verhagelten Wahlkampf 1990. Andererseits sollte der Teil der Freiheitsbewegung der ehemaligen DDR, der zu den Grünen fand, sich auch selbst nicht vorschnell historisieren lassen. Denn er ist weit mehr als nur ein museales Antistück zum spießigen DDR-Sozialismus. Er steht für einen Freiheitsimpuls, der gerade heute, in einer Zeit mit wiedererstarkten autoritären Bewegungen und erschreckenden neuen Überwachungsmöglichkeiten viel zu sagen hat. Und der auch weiß, dass der Slogan „Wir sind das Volk“ kein völkisch-nationalistischer, sondern ein zutiefst demokratischer, freiheitlicher und partizipativer ist.

Möglicherweise stehen wir insgesamt vor einer Veränderung des politischen Koordinatensystems. Der alte politische Leitgegensatz von Rechts und Links könnte von dem zwischen liberalen und illiberalen Kräften abgelöst werden. Denn zur aktuellen Erfahrung gehört auch, dass wir heute nicht das nach 1989 vorausgesagte Ende der Geschichte und den Zustand einer immerwährenden liberalen Demokratie erreicht haben. Vielmehr sehen wir das demokratische Gemeinwesen in einer Weise herausgefordert, die sich viele kaum mehr vorstellen konnten.

Die neue Einsicht ist eigentlich eine alte: Jede Generation muss sich Demokratie und offene Gesellschaft neu erkämpfen. Sie fallen ihr nicht einfach in den Schoß. Die Grünen haben das Zeug, ein breites weltoffenes Lager anzuführen, das genau das tut. Sie sind heute die Demokratiepartei und ein wichtiger politischer Gegenpol zum grassierenden Illiberalismus und Populismus.

Erfolg ohne Geheimnis

Die Grünen sind angetreten als Anti-Establishment-Partei. Inzwischen haben sie sich etabliert und sind alles andere als eine politische Eintagsfliege. Sie haben mit der Ökologie ein neues politisches Paradigma etabliert. Das ist ein großes Pfund, mit dem sie wuchern können. Ein weiteres liegt darin, originäre Exponenten eines tiefen soziokulturellen Wandels zu sein, der die westliche Welt und viele junge Menschen weltweit ergriffen hat.

Längst sitzen die Grünen nicht nur in Parlamenten, sondern auch in Regierungen. Sie haben nach der Starre der „Kohljahre“ in sieben Jahren Bundesregierung das Land weit vorangebracht. Und in Baden-Württemberg sind sie inzwischen sogar die führende Kraft und stellen in der innovativsten Region Europas den Ministerpräsidenten.

Die Grünen haben die Mittel, die demokratischer Politik zu Gebote stehen, erfolgreich genutzt – mit langer Linie und konturierten Gehalten, mit gut sichtbarem Spitzenpersonal, mit zeitgemäßer Anmutung und nur vermeintlich unzeitgemäßer Authentizität... und manchmal auch mit sympathischer Schrulligkeit. Sie leisten Kleinarbeit auf allen Ebenen, manchmal mit einer quietschgrünen, dann wieder mit einer gediegenen Ansprache, mit einer aktiven Mitgliederschaft, deren Zahl auf die Sechsstelligkeit zusteuert.

Die besondere Flügelarithmetik trug – auch wenn sie inzwischen etwas verblasst ist – einiges dazu bei, dass es manchmal gehörig krachte. Aber auch dazu, dass die Sache dann nicht einfach auseinanderflog – so, wie das beim Hauen und Stechen der Anfangsjahre noch zu befürchten war. Die Grünen haben in medial attraktiver Weise gestritten, oft auch stellvertretend für die ganze Gesellschaft – und für lustlose und ängstliche Mitbewerber, die Streit mehr fürchteten als inhaltliches Vakuum. Deshalb sind die Grünen heute dezidiert eine Partei der Inhalte, die mehr will als bloß moderieren.

Alles in allem macht der grüne Erfolg in der Bundesrepublik Sinn. Er lässt sich rational rekonstruieren und gibt keine unlösbaren Rätsel auf. Ein Selbstläufer war und ist er allerdings auch nicht.