Ukraine: „Erneuerbare Energie ja! Neue Monopole nein!“

Interview

Iryna Holovko, Vorstandsmitglied im Zentrum für Umweltinitiativen “Ecoaction” spricht im Interview mit Robert Sperfeld über das Thema Klimaschutz innerhalb der ukrainischen Gesellschaft.

Blick auf ein Kraftwerk in Mariupol, 2018

Robert Sperfeld: Welche Priorität hat das Thema Klimaschutz für die ukrainische Gesellschaft?

Iryna Holovko: Mit Sicherheit hat das Thema Klimawandel auch in der Ukraine in den letzten zwei Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Greta Thunbergs weltweite Mobilisierung von Jugendlichen hat dazu beigetragen, aber auch die häufigeren Extremwettersituationen wie schneefreie Winter oder heißere Sommer. Im Jahr 2018 benannten die Menschen Dürren und Überflutungen als wichtigste ökologische Probleme, allerdings wurden sie nicht unbedingt mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht. In den letzten zwei Jahren haben die ukrainischen Medien viel intensiver als zuvor über den Klimawandel und seine Ursachen und Konsequenzen berichtet. Es gibt Fridays for Future auch in der Ukraine. Die größten Klimaproteste in der ukrainischen Geschichte im September 2019 haben 2000 Menschen auf die Straßen geholt, die wirksame Maßnahmen für einen vollständigen Umstieg auf erneuerbare Energien bis 2050 einforderten. Über 12.000 haben eine online-Petition unterzeichnet, die politische Antworten auf die negativen Auswirkungen des Klimawandels verlangt.

Nach zwei Jahren mit signifikantem Wachstum erneuerbarer Energien in der Ukraine und Erklärungen mehrerer großer Städte zur Dekarbonisierung: Ist die Ukraine schon unumkehrbar auf dem richtigen Weg?

Nun ja, nichts ist bei uns unumkehrbar… In den ersten drei Quartalen 2019 wurden tatsächlich erneuerbare Stromerzeugungskapazitäten im Umfang von 3,3 GW installiert - das ist mehr als in den zehn Jahren zuvor zusammengenommen. Aber kann es als nachhaltiges Wachstum betrachtet werden? Leider nicht! Das erklärt sich durch das Auslaufen der außergewöhnlich hohen „grünen Tarife“ zum Jahresende. Deshalb beeilten sich die Investoren und brachten ans Netz, was möglich war. Die weiteren Perspektiven sind eher unklar, denn die Regeln für das nun vorgesehene Ausschreibungssystem sind noch nicht geschrieben. Wir wissen noch nicht, wann es losgeht und wie es sich auf den Sektor auswirken wird. Die Ausschreibungen sollten faire Bedingungen für alle Anbieter, also auch für kleine und mittlere Unternehmen, schaffen. Anderenfalls wird die Akzeptanz für den weiteren Ausbau der Erneuerbaren in der Bevölkerung weiter schwinden. Der Sektor wird schon jetzt dominiert von einer Handvoll großer Unternehmen, die auch schon andere Bereiche der Energiewirtschaft monopolisieren. Das hat bei vielen Menschen bereits erheblich zu einer negativen Einstellung gegenüber Erneuerbaren beigetragen. Die neue Regierung muss dies unbedingt korrigieren, wenn wir einen weiteren Umbau der Versorgung mit sauberer und bezahlbarer Energie erreichen wollen.

Iryna Holovko

Iryna Holovko,
Vorstandsmitglied im Zentrum für Umweltinitiativen “Ecoaction”.


Wie hat sich der Wechsel des Präsidenten und der Regierung im Bereich der Energiepolitik ausgewirkt?

Der Anfang war eine radikale Veränderung im Zuschnitt der Ministerien. Die früheren Ressorts für Energie und Kohle einerseits und Umwelt andererseits wurden zusammengelegt in einem neuen Ministerium für Energie und Umweltschutz. Neuer Minister wurde Oleksiy Orzhel, der zuvor den ukrainischen Verband der Erneuerbaren Energien geleitet hat. Er sagt, der Grund für die Verschmelzung war „eine neue Perspektive auf Umweltschutzbelange im Zusammenhang mit globalen Trends zum Klimaschutz“, und das ist natürlich erstmal ein positives Zeichen. Im September dann hat Minister Orzhel dann sein Ministerium darauf verpflichtet, alles dafür zu tun, das Land auf den Weg zu 100% Erneuerbaren bis 2050 oder schneller zu bringen. Und es gab auch weitere Statements des Ministers, z.B. während der Klimakonferenz in Madrid, die Regierung plane die Schließung aller nicht profitablen staatlichen Kohleminen und Kohle dürfe nicht Teil des zukünftigen Energiemixes der Ukraine sein. Zudem bezweifelte er die Notwendigkeit, zwei nukleare Reaktorblöcke in Khmelnitskiy zu vollenden. Die Vorgängerregierung von Volodymyr Groysman hatte ein solches Projekt noch verfolgt und war dafür von uns und vielen internationalen Experten kritisiert worden, weil es ein rückwärtsgewandtes, gefährliches, korruptionsanfälliges Projekt wäre, das noch dazu die Abhängigkeit des Energiesektors von Russland erhöhen würde.  Nun müssen wir aber abwarten, ob und wie sich diese Aussagen auch in die konkrete Politik umsetzen. In diesem Jahr wird die Ukraine die Erklärung ihres nationalen Beitrags zum Pariser Klimaprozess überarbeiten und einen Nationalen Energie- und Klimaplan unter dem Dach der Europäischen Energiegemeinschaft aufstellen. Hier kann die Regierung die Ernsthaftigkeit ihres Engagements für Klimaschutz und Energiewende unter Beweis stellen. 

Was wurde mit den Reformen im Energiesektor in den letzten Jahren schon erreicht, und was sind die größten noch bestehenden Herausforderungen?

Seit einigen Jahren liegt der Fokus der Reformen v.a. auf dem Gas- und dem Stromsektor. Sie werden gemäß den Anforderungen des Dritten Energiepakets der EU reorganisiert. Fortschritt gab es auch bei der Regulierung für Energieeffizienz von Gebäuden. Hier ist seit 2019 ein Energieeffizienzfonds etabliert. Auf diese Reformen haben die internationalen Partner der Ukraine sehr gedrängt. Daneben gibt es seit Ende des Jahres ein Gesetz über das Berichtswesen zu den Treibhausgasemissionen, ein erster Schritt auf dem Weg zu marktbasierten Instrumenten der Emissionsminderung, die bisher nicht bestehen.

Zahlreiche Herausforderungen bleiben bestehen: Das Land ist für seine Energieversorgung nach wie vor stark von Kohle, Atom und Gas abhängig. Die Anlagen zur Stromerzeugung stammen ganz überwiegend noch aus der Sowjet-Zeit und sind am Ende ihrer Lebensdauer. Dennoch produzieren wir 90% unseres Stroms aus diesen Quellen und nur 10% kommen aus Erneuerbaren, schon einschließlich großer Wasserkraftwerke. Die Wirtschaft verbraucht noch immer pro Einheit Bruttoinlandsprodukt dreimal mehr Energie und erzeugt dreimal mehr Treibhausgase im Vergleich zum Durchschnitt der EU oder der OECD.  Das Einsparpotenzial des Gebäudesektors ist noch weitgehend unerschlossen und verursacht Verluste von 2,7 Milliarden Euro jährlich. Erneuerbare Energien haben ein großes Potenzial und ihr weiterer Ausbau hängt sehr vom Erfolg des neuen Ausschreibungssystems ab. Es muss so ausgestaltet werden, dass kosteneffiziente und wettbewerbsfähige Technologien zum Zuge kommen und monopolistische Dominanz einzelner Großunternehmen ausgeschlossen wird. Uns fehlt zudem ein wirksamer Rechtsrahmen und finanzielle Instrumente für kleine Bürgerenergie-Projekte. Da muss die Regierung ran, weil mit solchem Engagement auf der lokalen Ebene auch Brennstoff-bezogene Emissionsreduzierungen und die Unabhängigkeit der Energieversorgung gestärkt werden kann.

Auch auf der strategischen Ebene müssen die maßgeblichen Konzepte und Pläne die neue Tonlage der Regierung in Bezug auf Klimawandel und Entwicklung von Erneuerbaren aufgreifen. Wenig ambitionierte Zielsetzungen für die Energiewende bedeuten ein Risiko für eine rechtzeitige Neuausrichtung der Energiewirtschaft auf zukunftsfähige Strukturen, ohne die das Land sonst schon in den kommenden Dekaden in ernste soziale und ökonomische Schwierigkeiten geraten könnte.

Was erwartet die Ukraine von der EU als Partner im Rahmen der Europäischen Energiegemeinschaft und der Östlichen Partnerschaft?

Die Zusammenarbeit der EU und der Ukraine sollte auf allen Ebenen stärker auf die Ausgestaltung der Dekarbonisierung ausrichtet werden. Auf der nationalen Ebene sollte die EU der Ukraine Unterstützung bei der Anpassung der Ziele an das Pariser Klimaabkommen und finanzielle und technische Instrumente zu deren Umsetzung anbieten. Erneuerbare Energien und Energieeffizienz sollten die Priorität der Energiebeziehungen werden. Auf der lokalen Ebene ist viel Unterstützung gefragt, um kleine bürgerschaftliche Erneuerbare-Energien-Projekte auf den Weg zu bringen. In diesem Bereich stockt es noch gewaltig, weil ein ermöglichender rechtlicher Rahmen und finanzielle Instrumente fehlen. Und natürlich sollte man auch die kohleabhängigen Regionen, insbesondere den Donbas, nicht vergessen. Sie brauchen dringend Hilfe bei der Neuausrichtung und Diversifizierung ihrer Wirtschaftsstrukturen, wenn die Kohleminen geschlossen werden. Es gibt jetzt neue Chancen in den Regionen, wie die Gründung der Plattform für die Nachhaltige Entwicklung der Donbas-Städte, die ein Forum für die Debatte über eine regionale Transformationsstrategie ermöglichen. Hier ist ebenso strategische Unterstützung der EU bei der Aufstellung eines nationalen Plans für einen gerechten Strukturwandel in der Ukraine gefragt, denn in vielen Regionen der EU gibt es bereits Erfahrungen mit Strukturwandelprozessen.