Eröffnungsrede: Verleihung des Friedensfilmpreises 2020

Rede

Filme eröffnen uns einen zärtlichen, menschlichen, empathischen Blick auf Migrant/innen und ihre Schicksale. Darin liegt die emotionale Kraft des Erzählkinos, sagt Dr. Ellen Ueberschär in ihrer Eröffnungsrede zur Verleihung des Friedensfilmpreises 2020.

Preisverleihung Friedensfilmpreis
Teaser Bild Untertitel
Preisverleihung, v.l.n.r.: Ellen Überschär (Vorstand Heinrich Böll Stiftung), Samuel Kishi Leopo (Filmemacher, Regisseur), Judith Ohene (ehrenamtl. Vorstand Weltfriedensdienst e.V.)

Kennen Sie das Wort Resilienz?
Es ist ein Modewort für Unbeschreibliches:

Es ist eine Antwort auf die Frage, die wir uns stellen im Angesicht unsäglichen Leids – wie halten die das aus?

Resilienz ist, wenn Menschen inmitten unmenschlicher Umstände ihre Würde bewahren, wenn sie versuchen, das bisschen Leben herauszuholen aus dem wenigen, das ihnen zuteilwird.

Resilienz ist, wenn Menschen aus Booten steigen, die seeuntauglich waren, wenn sie Überlebende eines Kampfes mit dem Ertrinken geworden sind.

Resilienz ist, wenn Kinder Gewalt ausgeliefert sind, und dennoch Kinder sein können.

Viele der Protagonist/innen aus den Filmen, die dieser wichtige Preis, der Friedensfilmpreis, in 35 Jahren ausgezeichnet hat, waren genau das – resilient, widerstandsfähig und in der Lage, Inseln des Friedens zu schaffen, Inseln eines unerhörten und unerwarteten Miteinanders – wie die brasilianischen Schülerinnen und Schüler in „Espera tua revolta“ – der Film, der den Friedensfilmpreis 2019 erhalten hat. Schülerinnen und Schüler, fast noch Kinder, verschanzen sich in einer Schule und üben etwas ein, das sie tief im Inneren in sich tragen, aber nie selbst erleben – Gewaltfreiheit. Sie schaffen eine Insel des Friedens, einer alltäglichen Solidarität, die ein Gegenentwurf zum brasilianischen Alltag voller Gewalt und Feindseligkeit ist. Wir sind gespannt, ob der diesjährige Friedensfilmpreis auf dieser Spur der Inseln voller Resilienz bleibt.

Zum 35. Mal vergeben wir heute den Friedensfilmpreis im Rahmen der Berlinale.

35 ausgezeichnete Filme, die überraschende, kritische oder zärtliche Blicke auf eine Welt werfen, die inmitten des Unfriedens Frieden sucht, 35 Filme, die Unmögliches und Unsägliches, Überwältigendes und tief Berührendes erzählen, immer auf der Suche nach dem Menschlichen, nach dem Ort und der Zeit, in der Frieden beginnt.

„Die Orangen in Europa schmecken besser“ – das klingt fast nach einem Filmtitel, ist aber die Überschrift einer Broschüre der Heinrich-Böll-Stiftung, die der Frage nachgeht, was es denn auf sich hat mit der Bekämpfung von Fluchtursachen. Menschen kommen zu Wort, die ihre Heimat verlassen, voller Hoffnung auf Ruhe vor Bedrohungen, auf eine anständige Arbeit, auf Glück!

Menschen, die der Gewalt entkommen wollen, der Arbeitslosigkeit und der Hoffnungslosigkeit. Menschen, die mit einer unglaublichen Hartnäckigkeit an der Verwirklichung ihres Traumes arbeiten.

Keine Macht der Welt hindert sie, ihren Hoffnungen nachzujagen, den Umständen zu trotzen.

Sie befinden sich auf der ungünstigen Seite der Ungleichheit und sie wissen das. Auf die günstige Seite zu kommen – das treibt sie an und macht sie stark. Gegen alle Widerstände, gegen alle Mauern und Zäune.

In dieser Broschüre erzählt ein 14-jähriger Junge aus El Salvador von seiner Familie: „Ich lebe mit meiner Großmutter [in San Salvador]. Ich bin gegangen, weil ja jeder gern bei Papa oder Mama ist. Ich will bei meiner Mutter und meinen Schwestern sein. Meine Mama ist vor zehn Jahren gegangen, und meine beiden Schwestern im vergangenen Jahr. Ich ging mit ihnen. Sie schafften es in die USA. Sie sagen, der Schleuser habe sie in den USA allein zurückgelassen. Sie wurden von der Grenzpolizei festgenommen und einen Monat lang inhaftiert. Aber sie sind schon wieder freigekommen, und ich glaube, sie haben Papiere erhalten. Sie sagen, dort sei es besser, aber man lasse sie kaum aus dem Haus und überhaupt. Die jüngere ist zwölf Jahre alt, die ältere 16. Für jeden von uns zahlte man 7.000 Dollar, 3.500 Dollar hier und die andern 3.500 Dollar drüben. Ich kam dreimal mit meinen Schwestern. Dreimal machte ich mit ihnen die Reise, die vierte dann nicht mehr, die machte ich alleine. Und das jetzt ist die fünfte.“

Staaten können für eine ordentliche und menschenwürdige Aufnahme Geflüchteter und für eine angemessene Behandlung von Migrantinnen und Migranten sorgen oder sie können diese Sorge vernachlässigen.

Geschieht Letzteres, so sind es zuerst die Kinder, die Verletzlichsten, die unter Entwürdigung leiden. Wie der interviewte Junge im mexikanischen Auffanglager, der zum 5. Mal versucht hat, in die USA zu kommen.

Der westliche Blick auf Migration ist im Allgemeinen eher ängstlich als zuversichtlich, eher abwehrend als offen. Je gröber die Lupe auf das Phänomen eingestellt ist, desto ängstlicher und abwehrender.

Wie verändern wir das? Wie gewinnen wir einen zärtlichen, menschlichen, empathischen Blick auf Migrantinnen und ihre Schicksale?

Zum Beispiel durch Filme, durch die emotionale Kraft des Erzählkinos.

Viele der 34 Filme bisher haben das vermocht: unsere Empathie zu wecken und ich bin sicher – so wird es auch diesmal sein.

Und dafür geht mein Dank an meine Kolleg/innen von der Heinrich-Böll-Stiftung Christian Römer und Karin Lenski, die diesen Abend so wunderbar vorbereitet haben. An Su-Zi Schütz vom Jury Office der Berlinale. An das Hackesche Höfe Kino für seine Gastfreundschaft

An den Trägerkreis des Friedensfilmpreises, allen voran an den Weltfriedensdienst (vertreten durch Judith Ohene) und die Friedensinitiative Zehlendorf (vertreten durch Helgard Gammert) und natürlich an die  Jury.

Apropos Jury, drei ehemalige Jurymitglieder sind dieses Jahr selbst mit ihren Filmen auf der Berlinale vertreten: Burhan Qurbani mit "Berlin Alexanderplatz“, Teboho Edkins, der sogar Alumnus der Heinrich-Böll-Stiftung ist, mit „Days of Cannibalism“ und Michael Kotschi, der die Kamera und Bildgestaltung für den Film "Wagenknecht" gemacht hat.

Abschließend möchte ich den Mitgliedern der aktuellen Friedensfilmpreis-Jury danken, die aus allen Berlinale-Beiträgen den heutigen Preisträger ausgewählt haben:

  • Miraz Bezar (Film- und Theaterregisseur)
  • Gerd Brendel (Autor und Journalist)
  • Tamara Erbe (Regisseurin)
  • Helgard Gammert (Betreiberin des Bali-Kinos Berlin)
  • Andreas Höfer (Kameramann)
  • Jean Peters (Teil des PENG! Kollektivs und Autor)
  • Esther Slevogt (Publizistin, Theaterkritikerin und Chefredakteurin des Theaterportals nachtkritik.de)

Mein Glückwunsch geht an den Gewinner des Friedensfilmpreises 2020, an den mexikanischen Film „Los Lobos - Die Wölfe“ von Samuel Isamu Kishi Leopo.