Ignoranz und ihre Folgen

Kommentar

In Griechenland haben sich am Wochenende dramatische Szenen abgespielt. Europa muss seine Politik des Ignorierens der wachsenden Spannungen an den EU-Außengrenzen überwinden.

Blick auf das Lager Moria
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Das Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos.

Die Türkei setzt auf Drohungen, indem sie Geflüchtete und Migrant*innen an die Grenzen und auf die griechischen Inseln schickt, während Griechenland zu extremen Mitteln bewehrter „Grenzsicherung“ greift. Beide Staaten fühlen sich zunehmend mit der Flüchtlingssituation im Stich gelassen - doch Brüssel versucht sich weiterhin im Aussitzen.

Dabei gab es in der östlichen Ägäis am Wochenende dramatische Szenen: Auf Lesbos erfuhren aus der Türkei kommende Geflüchtete und Migrant*innen heftigen Widerstand - nicht nur von Sicherheitskräften, sondern auch von Zivilisten, unter denen sich offenkundig rechte Bürgerwehren befanden. Menschen wurden von einer aufgebrachten Menge stundenlang daran gehindert, aus einem Schlauchboot an Land zu kommen, die griechische Polizei griff nicht ein. Internationale Helfer und Journalisten wurden verprügelt, Kameras ins Meer geworfen. Ein Transitlager stand in Flammen. Entlang der Grenze zur Türkei waren bereits Ende letzter Woche die griechischen Einheiten verstärkt worden, die mit Warnschüssen und Tränengas gegen die Menschen vorgingen. Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis hatte nach einem Telefonat mit Berlin angekündigt, den "Grad der Abschreckung an unseren Grenzen auf ein Maximum zu erhöhen".

Grenzsicherung und finanzielle Unterstützung

EU-Ratspräsident Charles Michel kommentierte all dies am Sonntag über Twitter damit, dass er "die griechischen Bemühungen, die EU-Grenzen zu schützen" unterstütze.

Was heißt ein Maximum an Abschreckung? Und, warum schweigt ein Ratspräsident dazu, dass Zivilisten von Sicherheitskräften ungehindert auf Menschen losgehen können? Warum legt Kommissionspräsidentin von der Leyen in ihren Kommentaren selbst einen Fokus auf Grenzsicherung und dankt Griechenland gar, das Europäische „aspida“ (Schild) zu sein? Später dann heißt es in einer von der Kommission verbreiteten Rede von der Leyens: „Griechenland hat unsere Unterstützung, Migranten haben mein Mitgefühl“. Was ist eigentlich noch alles akzeptabel an Europas Außengrenzen, und wer heißt das „Maximum an Abschreckung“ weiterhin gut?

Seit November 2019 hatte die griechische Regierung erklärt, die unsäglich überfüllten Lager auf den Inseln schließen und neue geschlossene Lager einrichten zu wollen (in denen Asylverfahren schneller abgewickelt und abgelehnte Asylbewerber*innen dann rascher in die Türkei zurückgeschoben werden sollten).

Die Türkei hatte im Rahmen des berühmten „Flüchtlingsdeals“ 6 Milliarden Euro finanzieller Unterstützung zugesagt bekommen, ausgelegt auf eine Laufzeit von vier Jahren. Bislang wurden laut Kommission jedoch nur 4,7 Milliarden vertraglich vergeben. Brüssel hat sich zu Recht geweigert, eine Neuauflage der finanziellen Unterstützung direkt in Ankaras Staatskasse fließen zu lassen. Zugleich hat die Eskalation im syrischen Idlib erneut eine Million Menschen intern vertrieben und die Situation für die Türkei verschärft, die bereits mehr als 3,6 Millionen Syrer aufgenommen hat. Ob es nun ausreichen wird, Ankara weitere finanzielle Unterstützung zuzusagen, ist unklar. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan scheint die EU nun auch zur Zusammenarbeit und auf seinen Kurs in Syrien zwingen zu wollen. Bezogen auf die finanzielle Unterstützung der Türkei im Umgang mit Geflüchteten ist eine Lösung dringend geboten, denn es wird sich bitter rächen, in dieser Frage - aus welchen Gründen auch immer - auf Zeit zu spielen.

Vergleichen ließe sich diese Ignoranz mit der Situation 2013/2014 als die UN-Hilfsorganisationen verzweifelt darauf hinwiesen, dass ihre finanziellen Mittel nicht ausreichten, um syrische Geflüchtete im Libanon und Jordanien mit dem Notwendigsten zu versorgen. Der Ruf nach finanzieller Unterstützung blieb weitgehend ungehört. Und auch die Bemühungen um zeitweilige Entlastung der Situation durch vermehrte Aufnahme der Geflüchteten in Europa, waren erbärmlich, angesichts des Ausmaßes der Flüchtlingswelle. Die Folgen sind bekannt.

Keine nachhaltige politische Strategie

Als vor einigen Monaten in Deutschland der Vorschlag kursierte, zumindest Kinder aus den schrecklichen Zuständen der überfüllten Lager auf den griechischen Inseln in unser Land zu holen, prallte der Ruf nach humanitärer Aktion ab am kategorischem Hinweis auf sogenannte „Pull-Faktoren“ und auf die größere Lösung, die dann allerdings ausblieb. Dabei sind es vor allem die Kommunen – 150 allein in Deutschland - die immer wieder bezeugen, dass sie mehr Menschen aufnehmen könnten.

Für kurze Zeit haben der Deal mit der Türkei und andere Maßnahmen dafür gesorgt, dass die Zahl von Asylanträgen in Europa deutlich zurückging. Dieses Zeitfenster wurde aber kaum genutzt, aus dem Krisenmodus von 2015 in eine Politik überzugehen, die die wachsenden Herausforderungen von Flucht und Migration mit nachhaltigen politischen Strategien bewältigt. Abschottung ist nun mal zerbrechlich.

Die Frage nach der „gerechten Lastenverteilung“ in der EU bleibt ungelöst. Auch hier hilft ein Blick über den eigenen „Tellerrand“ und auf die Zahlen: Griechenland hat in den letzten fünf Jahren 250.000 Asylanträge bearbeitet. Das sind in dem krisengeschüttelten, durch rigorose Spardiktate geschwächten Land 70.000 mehr als beispielsweise in Österreich. In Deutschland wird von Politiker*innen viel über die nahezu 800.000 Aufgenommenen debattiert und immer wieder problematisiert, dass abgelehnten Asylanträgen keine konsequenten Abschiebungen folgen. Demgegenüber steht die Türkei mit 3,6 Millionen zu integrierenden Geflüchteten und den Hunderttausenden, die jetzt aus Idlib kommend dort Schutz suchen, so ziemlich „im Regen“.

Griechenland setzt Asylrecht aus

Der jahrelang populistisch verstärkte und eindimensionale Diskurs von der Notwendigkeit, „irreguläre“ Einwanderung zu reduzieren, hat uns jetzt in eine neue Dimension getrieben: Nach Ungarn hat seit dem 1. März nun auch Griechenland erstmalig und für einen Monat das Asylrecht komplett ausgesetzt. Das bedeutet, dass in Griechenland keine neuen Anträge auf Asyl angenommen werden. Das sind (neben der ebenso beklagenswerten Missachtung des Refoulement Verbots) eklatante Verstöße gegen die Genfer Konvention, die weitgehend unwidersprochen ein Grundrecht infrage stellen, das aus den Lehren des Zweiten Weltkriegs erwachsen ist und dem sich die europäischen Staaten – auch Griechenland – verpflichtet haben. Vielleicht sollten sich so manche, ob in Griechenland, den östlichen Mitgliedsstaaten oder auch in Deutschland auch heute wieder daran erinnern, dass für die eigenen Landsleute in schlimmsten Kriegszeiten anderswo Schutz gewährt wurde.