Atomkraft? Nicht schon wieder.

Meinung

Eine neue Auseinandersetzung über die Atomenergie in Deutschland ist so erwartbar wie überflüssig. Dr. Gerd Rosenkranz erörtert warum und präsentiert weiterhin gültige Fakten für eine atomfreie Energieversorgung.

Atomenergie_Flagge: Atomkraft? Nein Danke

Das jüngste Aufflackern der Debatte über die Sinnhaftigkeit der Atomenergie in Zeiten der Klimakrise kommt nicht überraschend. Im Gegenteil, wirklich wundern müsste man sich, wenn sie ausbliebe. Die Atomtechnologie ist zwar in ihrem gesamten Lebenszyklus keineswegs klimaneutral, aber natürlich weniger treibhausgasintensiv als die fossilen Brennstoffe Kohle, Öl und Erdgas. Bei der Stromerzeugung aus Kernspaltungsenergie selbst entsteht kein CO2. Und die Energiewende auf Basis Erneuerbarer Energien erweist sich als mühsam und aufwendig. Es ist nicht damit getan, die Erzeugungstechnologien für Strom auszutauschen. Das gesamte Energiesystem steht zur Disposition. Wer die Energiewende vollenden will, muss – nur als Beispiel – auch die Digitalisierung verstehen und lernen ihr Potenzial zu nutzen. Das künftige System wird dezentraler sein, vor allem aber ungleich komplexer als das alte.

Brauchen wir nach 2022 Atomkraft?

Um die Jahrtausendwende stammte fast ein Drittel der deutschen Stromerzeugung aus Atomenergie, aktuell sind es knapp 12, in drei Jahren null Prozent. Steigen wir also vorschnell aus, wie uns nun Manche wieder nahelegen wollen? Die Antwort lautet nein, der Zug ist abgefahren. Wir brauchen keinen Nuklearstrom und werden auch keine wirklich relevante Diskussion darüber führen, solange die Geschäftsgrundlage hält. Die lautet: Wer aussteigt muss auch einsteigen oder konkreter: Der Ausbau der Erneuerbaren Energien geht zügig weiter und der Kohleausstieg wird entlang der Vorgaben der Kohlekommission umgesetzt.  

Die Gruppe energiepolitischer Außenseiter, die nun kurz vor Toresschluss meint, den eben erst befriedeten Generationenkonflikt um die Atomenergie neu entfachen zu müssen, ist nicht homogen zusammengesetzt. Es gibt unter ihnen solche, die selbst glauben, was sie vortragen und chronisch skeptisch sind gegenüber der Energiewende. Und es gibt solche, die neun Jahre nach Fukushima, 34 nach Tschernobyl und 41 nach Harrisburg auf die Vergesslichkeit der Alten und die Unkenntnis der Jungen setzen.

Was 2007 schon stimmte, gilt 2020 erst recht

„Die Atomwirtschaft braucht den Klimawandel mehr, als der Klimawandel die Atomwirtschaft. Wenn wir ein katastrophale Erderwärmung noch abwehren wollen, warum sollten wir dafür die langsamste, die teuerste, die unwirksamste, die unflexibelste und riskanteste Option wählen? 1957 war es richtig, es mit der Atomenergie zu versuchen. Heute ist Atomenergie nur noch ein Hindernis beim Übergang in eine nachhaltige Elektrizitätsversorgung.“ 1

Deshalb ein paar keineswegs neue, aber weiter gültige Fakten.

Atomenergie ist nicht nur sicherheitstechnisch eine Hochrisikotechnologie, sondern auch finanztechnisch.

Nie in der mehr als 50-jährigen Geschichte ihrer kommerziellen Nutzung hat sich ein einziges Atomkraftwerk in einem liberalisierten Strommarkt ökonomisch durchgesetzt. Stets waren es Politiker, die diese wegen ihrer verheerenden militärischen Vorgeschichte in Hiroshima und Nagasaki von Anfang an ungeliebte Technologie gegen große Widerstände, anfangs sogar aus den Reihen der Industrie, durchsetzten. Entweder betrieben dann staatlich geschützte Monopole die Kraftwerke (wie in Westdeutschland) oder sie waren Teil der Staatswirtschaft (wie in der DDR) oder private Investoren verlangten immense Subventionen, wenn die Politik den Einsatz dieser Technologie vorantrieb. Das ist bis heute nicht anders. Kernenergie ist mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrem Start weiterhin auf Markteinführungshilfen angewiesen. Auch das macht sie einzigartig.

Die EU konnte sich dennoch bisher nicht darauf einigen, der Atomkraft für die Zukunft endgültig den Geldhahn abzudrehen, obwohl in nur noch drei von 27 Mitgliedstaaten (Frankreich, Finnland, Slowakei) Reaktoren errichtet werden. Die Europäische Investitionsbank vergibt weiterhin Nuklearkredite und die Ende 2019 beschlossenen EU-Regeln für nachhaltige Finanzprodukte („EU-Taxonomie“) könnten theoretisch sogar Atomkraftwerken zu „grünem“ Kapital verhelfen.

Wo heute Atomkraftwerke in privat organisierten Strommärkten wirtschaftlich betrieben werden – zum Beispiel die sechs verbliebenen Meiler in Deutschland – laufen sie nur noch aus einem einzigen Grund: Weil sie alt sind und abgeschrieben und nur solange keine größeren Reparaturen anfallen. Deshalb gilt auch: Ohne massive staatliche Hilfestellung gäbe es auf der Welt keine einzige AKW-Neubaustelle. In China und Russland lässt sich der Staat das Festhalten an der Atomenergie Milliarden kosten.

Im Westen garantiert etwa die britische Regierung für das seit 2018 im Bau befindliche Atomkraftwerk Hinkley Point C am Bristol Kanal, für die gesamte Lebensdauer Strompreise, die die hierzulande aktuell gewährte Vergütung von Solar- oder Windkraftwerken bei weitem übersteigen. Die Subventionen über die gesamte Lebenszeit werden für die zwei Reaktorblöcke auf 100 Milliarden Euro geschätzt. Neben Großbritannien ließen sich zuletzt Finnland und Frankreich auf das Abenteuer eines Reaktorneubaus ein: Das finnische Atomkraftwerk Olkiluoto III wird seit 2005 errichtet. Es sollte 2009 in Betrieb gehen und drei Milliarden Euro kosten. Aktuell ist die Inbetriebnahme für 2021 geplant. Geschätzter Kostenpunkt: 11 Milliarden Euro. In Flamanville, an der französischen Kanalküste, entsteht seit 2007 ein Reaktor gleichen Typs – mit ganz ähnlicher Performance.

Und die neuen Reaktorkonzepte?

Versprochen werden kleine Einheiten, die mit weniger aufwändigen Sicherheitseinrichtungen entscheidend sicherer sein sollen als die hergebrachten Meiler. Unkaputtbar sozusagen und ohne Entsorgungsprobleme. Versprochen werden Reaktoren, in denen die Physik unkontrollierte Kernschmelzen verhindert. Und in denen sich langlebige radioaktive Zerfallsprodukte zuverlässig in solche verwandeln, die ihre Gefährlichkeit in überschaubaren Zeiträumen verlieren. Doch diese so genannten Mikroreaktoren hat nicht Bill Gates erfunden, der die neuesten dieser Blütenträume in den USA finanziert. Revolutionäre Reaktorkonzepte existieren in ungezählten Varianten seit mehr als 30 Jahren. Auf dem Papier, neuerdings auch in Blechmodellen. „Walk-away“-Reaktoren tauften sie die PR-gewandten Amerikaner damals. Selbst beim schlimmsten denkbaren Unfall, versprach einer ihrer Protagonisten, „können Sie nach Hause gehen, ein Nickerchen einlegen und sich später darum kümmern. Ohne die geringste Sorge, ohne Panik“. Bis heute fehlt weltweit die Probe aufs Exempel, die technischen Wunderwerke sind geblieben was sie immer schon waren: ungedeckte Wechsel auf eine ferne Zukunft.

Bleibt die Frage: Warum sollten sich Unternehmen heute auf das finanz- und sicherheitstechnische Abenteuer Atomenergie einlassen? Warum sollte heute gelingen, was schon zu Zeiten nicht gelang, als Solar- und Windenergie sündhaft teuer waren und nicht als ausgereifte und kostengünstige Alternative zur Kohleverstromung bereitstanden?

Das Gegenteil von Versorgungssicherheit.

Seit jeher wird Atomkraft von ihren Protagonisten auch als Garant für eine sichere Stromversorgung propagiert. Das war immer schon erstaunlich: Denn jeder schwere Unfall, jeder terroristische Anschlag (selbst wenn er fehlschlägt) gefährdet unmittelbar den Weiterbetrieb aller anderen Atomkraftwerke in der betroffenen Region. Nach Fukushima wurden alle 54 Reaktoren in Japan abgeschaltet, bis heute sind nur neun wieder am Netz. Das ist das Gegenteil von Versorgungssicherheit. 

 Schließlich: Auch die Verfechter der Energiewende haben bemerkt, dass die Sonne nicht immer scheint und der Wind nicht immer weht. Aber sie wissen im Gegensatz zu den Freunden der Atomkraft auch, dass Kernreaktoren das Problem nicht lösen. Die sind dafür konzipiert, Tag und Nacht, sommers wie winters durchzulaufen, möglichst mit hundert Prozent ihrer Leistung. In einem vorrangig auf Sonne und Wind gegründeten Stromsystem kommen die Back-up-Kraftwerke jedoch nur noch stundenweise zum Zuge, wenn Wind und Sonne ausfallen. Das macht Atomkraftwerke, erstens, unwirtschaftlich. Zweitens und wichtiger: Atomkraftwerke, alte wie künftige, sind für den so genannten Lastfolgebetrieb, der im System mit den Schwankungen von Wind- und Sonnenstrom wie nie gefragt ist, nicht konzipiert. Gerade die sicherheitstechnisch entscheidenden Komponenten im Reaktorkern halten den ständigen Last- und Temperaturwechseln nicht dauerhaft stand.

Die Betreiber der verbliebenen Reaktoren (E.on, RWE und EnBW) selbst versichern, kein Interesse an einem Weiterbetrieb zu haben. Seit Jahren fahren sie ihre Altmeiler in Erwartung der nahen Abschaltung. Man darf gespannt sein, ob das Verdikt „Sicherheit vor Wirtschaftlichkeit“ weiter gilt, wenn einige Versprengte in der Politik die Betreiber vor dem Stilllegungstermin der letzten sechs Meiler Ende 2021 bzw. Ende 2022 noch einmal mit Überbrückung und goldenem Ende locken. Völlig auszuschließen ist nicht, dass sie noch einmal weich werden. Das würde absehbar ein kurzer Spaß. Das Unternehmen, das als erstes den Atomkonsens aufkündigt, muss damit rechnen, einen Großteil seiner Kunden zu verlieren und sich auch als seriöser Energie-Dienstleister dauerhaft zu diskreditieren.

Und wenn es doch passiert? Kommt es so wie vor der geplanten schwarz-gelben Laufzeitverlängerung im Jahr 2010. Hunderttausende im Dienst ergraute AKW-Gegner werden wieder auf der Straße sein, diesmal gemeinsam mit der Generation Fridays for Future.


[1] Patterson, W. Fifty years of hopes and fears. Nature 449, 664 (2007). https://doi.org/10.1038/449664a, Übersetzung zitiert nach Rosenkranz, Gerd (2010): Mythen der Atomkraft. Wie uns die Energielobby hinters Licht führt. https://www.boell.de/sites/default/files/assets/boell.de/images/download_de/oekologie/Mythen_der_Atomkraft.pdf, S. 10