Verstrahltes Fukushima und verstrahlte AKW-Arbeiter

Interview

Im Interview spricht der Fotojournalist Kenji Higuchi über seine kritischen Arbeiten zur Kernenergie in Japan und wie sich die gesellschaftliche Haltung zur Atomkraft seit Fukushima gewandelt hat.

Portrait Kenji Higuchi

Was hat Sie als Fotojournalisten am meisten bewegt und geprägt?

Ich bin als Sohn einer Bauernfamilie in der Shinshû-Region in der Präfektur Nagano aufgewachsen. Als junger Mann, war ich gezwungen, jedes Jahr fünf Wintermonate lang in Tokio als einfacher Arbeiter 18 Stunden am Tag zu arbeiten. In den 1950er Jahren steckte Japan noch in der Bewältigung der Folgen des zweiten Weltkrieges und die Menschen lebten in Armut. Ich sah keine Hoffnung in der Landwirtschaft und zog nach Tokio.

Das starke Wirtschaftswachstum fing in Japan 1960 an. Ich hatte gerade angefangen, als Kranfahrer in einem Eisenhüttenwerk zu arbeiten. In dem Gebäude, wo ich meine Unterkunft hatte, lebte ein alter Mann, der unter schwerem Asthma litt.  Er erzählte mir, dass die Luft zunehmend schlechter geworden sei, seitdem immer mehr Fabriken gebaut worden waren.

In dieser Zeit empfahl mir ein Freund eine Ausstellung des Fotojournalisten Robert Capa, der für seine Aufnahmen von verschiedenen Kriegsschauplätzen international bekannt war. Ich hatte zwar damals noch kein besonderes Interesse an Fotografie aber als ich die Bilder von Robert Capa sah, die das wahre Wesen des Krieges gnadenlos zeigten, war ich sehr bewegt. Da begriff ich, was für ein wunderbarer Beruf es ist, mit der Kamera so viele Menschen erreichen zu können. So entschied ich mich, Fotojournalist zu werden.

Ich wollte mich vor allem wegen meiner eigenen Biographie auf Bauern und einfache Arbeiter als Lebensthema fokussieren.  Nachdem ich eine Fotoschule absolviert hatte, bin ich auf das Thema „Luftverschmutzung Yokkaichi“ (auch bekannt als „Yokkaichi-Asthma“) gestoßen, verursacht durch das petrochemische Kombinat Yokkaichi. Dies war die Vorstufe meines folgenden Themas „Atomenergie“.

Wie sind Sie in den 1970-er Jahren auf das Thema Leiharbeiter in AKWs gestoßen und warum haben Sie sich entschieden, es weiter zu verfolgen? Was war der entscheidende Anlass?

Am 15. April 1974 verklagte der AKW-Arbeiter Herr Kazuyuki Iwasa eine AKW-Betreiberfirma. Das war das erste Gerichtsverfahren wegen Strahlenbelastung in einem AKW in Japan. Damals propagierte Japan mit allen Mitteln, vor allem über die Medien, die sogenannte „friedliche Nutzung der Atomenergie“.

Drei Tage später, am 18. April, stand in der Zeitung „Asahi Shimbun“, eine der führenden und auflagenstärksten Tageszeitungen in Japan ein Artikel von einer Journalistin mit dem Titel: „Rätselhafte Hautkrankheit – Einwand gegen die These, dass die Radioaktivität die Ursache sei“.

Die Journalistin hatte aber, um den Artikel zu schreiben, weder den Kläger Iwasa noch seinen Rechtsanwalt interviewt, sondern nur die einseitige Behauptung der Regierung zusammengefasst. Das machte mich zornig und brachte mich dazu, als Fotojournalist immer der Wahrheit verpflichtet zu sein und schließlich weiter zu verfolgen, was mit AKW-Arbeitern geschieht.

Sie hatten sich schon lange vor dem Reaktorunfall im Kernkraftwerk Three Mile Island (1979) oder der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl (1986) mit dem Thema Atomenergie kritisch auseinandergesetzt. Hätten Sie jemals geahnt, dass es in Japan so einen Super GAU wie Fukushima geben könnte? Was war Ihr erster Gedanke, als der Unfall bekannt wurde?

Am 25. Juli 1966 ging das erste Atomkraftwerk Japans in Betrieb: Das Kernkraftwerk Tôkai Reaktor Nr. 1. Seitdem wurden in Japan 54 Reaktoren gebaut und bis zum 11. März 2011 betrieben. Da Japan eine relativ kleine Inselgruppe ist, mag die Dichte vielleicht weltweit am Größten sein.

Ich begriff relativ bald, dass die Strahlenbelastung von AKW-Leiharbeitern den Kern des menschenverachtenden Wesens der Atomenergie verkörperte.  Ich war mir sicher, dass die Atomindustrie, die auf Kosten von Schwachen hohe Profite erzielte, eines Tages einen schweren Unfall herbeiführen würde. Ein Super-GAU wäre so oder so irgendwann passiert.  Deshalb dachte ich, als ich vom Unfall erfuhr: Na, was hatte ich euch gesagt?

Man spricht in Japan vom mächtigen „Atomdorf“, einem dicht vernetzten System der Atom-Lobby, bestehend aus der Atomindustrie, inklusive AKW-Betreiber, Politik, Medien und Wissenschaft, das quasi alle kritischen Meinungen mundtot macht.  Was sollte sich Ihrer Meinung nach als erstes ändern, damit die Energiepolitik in Japan demokratischer, offener und zukunftsträchtiger gestaltet werden kann?

So lange dieses dicht vernetzte „Atomdorf“, bestehend aus Politiker/innen, Wirtschaftsgiganten, Technokrat/innen, (käuflichen) Wissenschaftler/innen, Medien und der Justiz, sich gemeinsam verschworen hat, sein profitables Geschäftssystem weiter aufrechtzuerhalten, wird es keinen Atomausstieg in Japan geben.

Dennoch sind nach dem Super-GAU in Fukushima alle Kernkraftwerke Japans vom Netzt genommen worden. Und die Stromversorgung wurde dabei nicht unterbrochen, es gab genug Strom aus Wasserkraft und anderen Energiequellen. 

Die Energiepolitik Japans könnte meines Erachtens nur dann demokratischer umgestaltet werden, wenn die Medien aufwachen, bewusst auf lukrative Einnahmen aus der Werbung von Stromkonzernen verzichten und sich an vorderster Front für den Atomausstieg stark machen. Ein leichter Hoffnungsschimmer ist, dass 80% der Japaner/innen für den Atomausstieg sind.

Sie haben die Leiharbeiter von AKWs in Japan und ihre schlimmen Arbeitsbedingungen seit mehreren Jahrzehnten verfolgt. Hat sich etwas im Lauf der Zeit verändert? Oder sind die Arbeitsbedingungen, auch nach Fukushima, gleich geblieben?

Bis zum 11. März 2011 hat sich kaum jemand ernsthaft für das Thema Verstrahlung von AKW-Leiharbeitern interessiert, dass ich seit jeher verfolge. Aber die Reaktorkatastrophe von Fukushima Daiichi veränderte alles und das Thema der schweren Strahlenbelastung von Arbeitern ist bekannt geworden. Die Japaner/innen waren seit etwa 40 Jahren mit dem Begriff der „friedlichen Nutzung der Kernenergie“ einer Gehirnwäsche unterzogen worden.  

Nun endlich wurden die Medien auf das Thema aufmerksam. Nach dem Unfall veröffentlichten internationale Leitmedien wie die „Washington Post“ oder die griechische Zeitschrift „Epsilon“  lange Artikel über meine Arbeit. Führende japanische Tageszeitungen, die Nachrichtenagentur Kyôdô Tsushin, diverse Zeitschriften, Fotomagazine und Fernsehanstalten haben mich zwischen 2011 und 2015 insgesamt 86 Mal interviewt. 

Innerhalb von zwei Jahren wurden sieben verschiedene Fotobände von mir veröffentlicht. So etwas wäre vor dem Unfall undenkbar gewesen. Über Fukushima wird seit der Katastrophe kontinuierlich berichtet. Also denke ich, dass sich etwas bewegt, wenn auch langsam.

Was hat sich nach Fukushima im Bewusstsein der Menschen in Japan oder bei den   Bürgerbewegungen geändert? Gibt es eine positive Entwicklung?

Persönlich empfinde ich, dass sich die Situation nach der Katastrophe in Fukushima gewaltig verändert hat. Ein Beispiel dafür ist, dass ich seit dem Unfall bis heute insgesamt 196 Vorträge gehalten habe. Das war früher unvorstellbar.

Auch die Bürgerbewegungen haben sich sichtbar verändert. Etwa 12.000 Menschen aus Fukushima sind an ca. 60 verschiedenen rechtlichen Prozessen beteiligt, die sie gegen den Staat und die Kraftwerksbetreiberfirma TEPCO führen. Viele Menschen unterstützen dabei die Kläger/innen.

Hier kann man erkennen, dass ein großer gesellschaftlicher Wandel stattgefunden hat. Leider bedarf es eines starken Durchhaltevermögens, schließlich legt man sich mit dem Staat und einem mächtigen Konzern an. 


Das Interview wurde schriftlich geführt von der Antiatomgruppe Sayonara Nukes Berlin und kann hier auch auf Japanisch herunter geladen werden. ( 被ばくし続けるフクシマと世界の原発労働被ばく ).

Kenji Higuchi: Fotojournalist, geboren 1937 in Nagano, Japan, bekannt durch seine Bilder, in denen er sich mit Umweltschäden durch Industrien und mit Leiharbeitern von AKWs auseinandersetzt.  Mit seinen Fotos versucht er die „andere“, dunkle Seite der Atomindustrie aufzudecken, die oft von der Staatsgewalt und anderen mächtigen Akteur/innen vertuscht, verharmlost oder verleugnet wird. Er war der erste Fotograf weltweit, der Arbeiter im Reaktorinneren fotografierte. 2001 erhielt er als erster Japaner den  Nuclear-Free Future Award.  Zu seinen Publikationen gehören unter anderem: "Die Wahrheit über AKWs" (Originaltitel: これが原発だ 1991 ), "Die Vergessenen AKW-Hibakusha" (Originaltitel: 闇に消される原発被曝者1981), "Verfall eines Kernkraftwerks: 2011 Fukushima" (Originaltitel: 原発崩壊 2011).