10 Denkrichtungen der Krisenresilienz

Kommentar

Für Lehren aus der Corona-Krise ist es noch zu früh. Für die Frage, in welche Richtungen nach der Krise politisch gedacht werden muss, drängt sich jedoch ein Begriff auf: Resilienz. Aber was genau bedeutet er und wie wird er die politische Agenda beeinflussen?

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Um Lehren aus der Gesundheitskrise um Covid-19 zu ziehen, ist es viel zu früh. Die Hälfte der Weltbevölkerung sitzt unter Quarantäne, die Infektionszahlen steigen, während sich das Epizentrum der Krise von Europa in die USA verlagert. Zunehmend wird die Krise nach der Krise spürbar – der Einbruch der Weltwirtschaft.

Krisen sind nicht nur die Stunde der Exekutive, sondern auch Zahltag der Vorsorge. Was zum Zeitpunkt, an dem die Krise eintritt, nicht vorhanden oder aufgebaut ist, kann nicht unter Belastung aus dem Boden gestampft werden.

Das gilt für Krankenhäuser und deren Ausstattung mit Personal und medizinischen Geräten, genauso wie für die Qualifikation von Lehrerinnen, auch digital Unterricht zu erteilen, wobei die Befähigung der Schülerinnen, jenseits aller sozialen Unterschiede, digital zu lernen, spiegelbildlich zu sehen ist. Wo kein Breitbandausbau stattgefunden hat, kann jetzt weder Homeoffice noch Homeschooling stattfinden, weil die Netze schlicht überlastet sind. Noch weniger aufholen lassen sich Vorsorge-Defizite in der Forschung und Entwicklung.

Der Zahltag der Vorsorge gilt auch für die Europäische Union. Die Gesundheitskrise traf die EU in einem Moment, in dem der europäische Zusammenhalt und die Lösungskompetenz der Union ohnehin bereits in kritischem Zustand war – harte Brexit-Verhandlungen plus Aushöhlung des Rechtstaats in mehreren europäischen Ländern, allen voran im Ungarn Viktor Orbáns, plus die Uneinigkeit über einen mittelfristigen Finanzrahmen plus die festgefahrene Flüchtlingspolitik. Es verwundert nicht, dass die durchaus vorhandenen Frühwarnsysteme und Instrumente der Pandemie-Bewältigung im ersten Moment überhaupt nicht und im zweiten nur schleppend griffen. [1]

Es sind die Grundmuster der Globalisierung, die momentan reduziert sind

Die Maßnahmen, mit denen die Krise eingedämmt werden soll, folgen zwei großen Mustern: der Einschränkung von Mobilität und der Unterbindung von persönlichen Kontakten. Es sind diese beiden Muster, die die Hochform der Globalisierung, wie sie bis zum Februar 2020 zu erleben war, prägten – im Guten wie im Schlechten. Gut, weil die Schienennetze der Bahn, die Fluglinien des Luftverkehrs und die Schiffsrouten durch die Weltmeere so etwas wie das Blutkreislaufsystem einer globalisierten Wirtschaft waren, weil Kontaktmöglichkeiten, ökonomische und zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit, bis hin zur sekundenschnellen Information über Menschenrechtsverletzungen, über Kontinente ausgetauscht werden konnten. Schlecht, weil sie Transportkosten zum Verschwinden brachten, globale Ungleichheit ausnutzten und damit verstärkten und weil sie ökologische Kosten verursachten, die niemand bereit war zu zahlen.

Wie sensitiv diese beiden Muster der Globalisierung sind, zeigt ihre Unterbrechung – unterbrochene Wirtschaftskreisläufe und geschlossene Grenzen führen geradewegs in eine Weltwirtschaftskrise oder, wie Ivan Krastev treffend sagt: „ein ground zero der Globalisierung“. [2]

Innerhalb der Europäischen Union ähnelten die Schockreaktionen mit der Unterbrechung von Lieferketten, den Ausfuhrbeschränkungen von Industrieprodukten und den Bewegungseinschränkungen in bestimmten Sektoren einem ground zero der Europäisierung.

Die Anerkennung unserer Vulnerabilität ist die Voraussetzung für Resilienz

Das zeigt: Die europäischen, westlich geprägten Gesellschaften sind hochvulnerabel. Das anzuerkennen, ist keine Selbstverständlichkeit. Anerkennung von Vulnerabilität ist etwas anderes, als davon auszugehen, dass Sicherheit machbar und herstellbar ist. Diese Erkenntnis kann entscheidend sein für den Umgang mit bevorstehenden Krisen, der Klimakrise zu allererst.

Eine Politik der scheinbaren Unverwundbarkeit, zum Beispiel eine Volkswirtschaft protektionistisch und nationalistisch abzuschotten, bei gleichzeitiger Ausnutzung der Offenheit und Vulnerabiltät anderer, führt zu tiefgehenden Friktionen und unauflösbaren Widersprüchen. Wenn die US-Administration beispielsweise versucht, forschende Pharmafirmen mit Geld in die USA zu locken, um dort exklusiv für ein Land Impfstoffe zu entwickeln, dann sind das niederen Instinkten gehorchende Aktivitäten, die einem Skript folgen, das nur den egoistischen Moment und keine gemeinsame Zukunft kennt. Dieses Skript ist das Ergebnis einer Nichtanerkennung der offensichtlichen, eigenen Verwundbarkeit.

Anerkennung von Vulnerabilität ist die Voraussetzung dafür, auch für den globalen Norden etwas zu entwickeln, was bisher vor allem im globalen Süden notwendig war – Resilienz. Resilienzkonzepte geben darüber Auskunft, welche Kapazitäten nötig sind, um Menschen und Gesellschaften in die Lage zu versetzen, Schocks und Belastungen zu absorbieren. Ursprünglich aus der Psychologie kommend, rekurriert Resilienz auf eine Materialeigenschaft, die dafür sorgt, dass ein bestimmtes Material sich unter Belastung zwar verformt, aber nicht bricht. Lässt sich das auf die derzeitige Situation übertragen?

In der politischen Resilienzforschung sind drei Kapazitäten herausgearbeitet worden: Bewältigungskapazitäten, adaptive Kapazitäten und transformatorische Kapazitäten. An der Frage, welche Kapazitäten vorhanden sind und welche nicht, lassen sich vorsichtige Schlüsse ziehen, in welche Richtungen nach der Krise politisch gedacht werden muss:

Bewältigungskapazitäten erfassen das Aushalten sowie die kurzfristige und möglichst flexible Überwindung von unmittelbar auftretenden Störungen. Zu den Kapazitäten, mit denen die Gesundheitskrise gerade bewältigt wird, zählt:

  1. dass der Staat und seine Institutionen wieder wichtiger werden. Menschen vertrauen Regierungen, öffentlichen Institutionen wie Gesundheitsämtern und nationalen Behörden in dem Maße, in dem diese gut begründete und erklärte Entscheidungen treffen. Menschen sind sogar bereit, freiheitseinschränkende Maßnahmen in einem Ausmaß hinzunehmen, das die heftig bekämpften Notstandsgesetze der Bundesrepublik von 1968 teilweise in den Schatten stellt. Dies aber nur solange, wie die Maßnahmen das eigentliche Problem adressieren und nicht der Legitimation anderweitiger politischer Absichten dienen.
     
  2. Dass Professionalität und Expertise – nach zermürbenden Strategien der Entwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse – zumindest in den akut relevanten Bereichen wieder anerkannt werden. Das gibt Hoffnung auf eine Abkehr von populistischem Halbwissen hin zu sachlicher, evidenzbasierter Politik – auch in anderen Feldern, wie zum Beispiel in der Klimawissenschaft, die ähnlich komplexe Wissenschaftsfelder abbildet wie die öffentliche Gesundheit. Aber: Die Corona-Krise bietet keine Antwort auf die Klimakrise. Wer darauf verweist, dass jetzt endlich der CO2-Ausstoß sinkt und daraus schlussfolgert, dass dies die angemessenen Maßnahmen gegen die Klimakrise sind, läuft in eine politische Sackgasse. Eine Klimapolitik, die den Stillstand unserer Gesellschaft voraussetzt, wird scheitern, und nicht annähernd eine demokratische Mehrheit finden. Dafür braucht es überzeugendere und bessere Antworten. Denn:
     
  3. Die Demokratie selbst erweist sich als Teil der Bewältigungskapazität: Es darf und muss widersprochen, angezweifelt und debattiert werden: Sind die Maßnahmen rechtmäßig, angemessen und nicht auf Dauer angelegt? Zum Beispiel wurde die vorschnelle gesetzliche Einführung einer tracking-App im demokratischen Diskurs gestoppt. Demokratien sind lernende Systeme, die ihr Verhalten anpassen, korrigieren und dadurch verbessern können. Beschädigte Demokratien können das weniger gut – das zeigt die Aufhebung der demokratischen Institutionen und die vollständige Knebelung der Meinungsfreiheit in Ungarn. Das Unterdrücken von Informationen behindert den demokratischen Lernprozess und kann Leben kosten. Autoritäre Systeme funktionieren insofern nicht besser als demokratische Systeme – im Gegenteil. Die chinesische Staatspropaganda versucht der Weltgemeinschaft zu beweisen, dass das „chinesische System“ dem „westlichen System“ (nicht nur) in Krisenzeiten überlegen ist. Die Wahrheit ist eine andere: Die intransparente Situation in China hat es der Weltgemeinschaft wesentlich erschwert, mit der Krise umzugehen. Bis heute ist unklar, wie die Lage in China vor Ort wirklich ist. Dagegen haben auch europäische Regierungen bewiesen, dass sie schnell, demokratisch und entschlossen handeln können.
     
  4. Und schließlich beweist die Solidarität der Bevölkerung – von den gegenseitigen Hilfsangeboten über die Medizinstudentinnen und –studenten, die in Krankenhäusern einspringen bis zu den „Gabenzäunen“ für Obdach- und Wohnungslose, wie groß die Kapazitäten zur Bewältigung der Krise tatsächlich sind. Nach der Überwindung der anfänglichen nationalen Reflexe sind auch europäische Dimensionen der Solidarität angelaufen. Die Grenzen unserer Solidarität zeigen sich dort, wo es um die Handlungsunfähigkeit gegenüber den Geflüchteten in den griechischen Insellagern geht. Hier fehlen die nötigen Kapazitäten – mit dramatischen Konsequenzen.
     

    Resilienz bedarf adaptiver Kapazitäten, womit die proaktiv und langfristig angelegte Ausrichtung von Strukturen, Prozessen und Verhaltensweisen auf gegenwärtige und künftige Verwundbarkeiten gemeint ist.

  5. In der Gesundheitskrise haben sich Verwundbarkeiten an systemischen Positionen offenbart, die bisher nicht als relevant galten – die Kassiererinnen in Supermärkten und die Pflegerinnen in Altenheimen. Adaptive Kapazitäten in diesem Bereich aufzubauen, würde bedeuten, Systemrelevanz neu zu definieren und dies auch bei der Entlohnung deutlich werden zu lassen.
     
  6. Damit eng verbunden ist die langfristige Ausstattung und Erhaltung von Infrastrukturen der Teilhabe: öffentlich finanzierten, allen zugänglichen Einrichtungen, die keinen unmittelbaren Gewinn abwerfen, von denen aber sowohl im Krisenfall als auch im Normalfall zu recht erwartet wird, dass sie funktionieren. Infrastrukturen machen das Dasein der Menschen in Stadt und Land einigermaßen gleichwertig möglich und garantieren ein selbstbestimmtes und gesundes Leben. Diese Form der Daseinsvorsorge aber ist in den vergangenen Jahren vernachlässigt worden – das grellste Licht fällt im Moment auf die mangelhafte personelle Ausstattung von Gesundheitsämtern und Krankenhäusern mit Pflegekräften sowie auf die mangelhafte Digitalausstattung und digitale Befähigung von Schulen und Hochschulen.
     
  7. Jetzt und künftig werden langfristig angelegte Strukturen der Kooperation gebraucht – nicht nur im Bereich von Krisenvorsorge und Forschung, nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer und auf internationaler Ebene. Denn gerade auf die Stärkung der Handlungs- und Interventionsfähigkeiten internationaler Organisationen wird es ankommen, wie zum Beispiel der kaputt gesparten WHO, deren Finanzierung nicht allein durch die Staatengemeinschaft sondern wesentlich durch die Gates-Stiftung sichergestellt ist. Ebenso wichtig wäre es, die kooperativen Potentiale der OSZE, der UN und nicht zuletzt der Europäischen Union viel stärker zu nutzen.
     

    Und schließlich brauchen Gesellschaften transformative Kapazitäten, um zu lernen, sich beständig und neu unvorhersehbaren Bedingungen anzupassen und den Wandel als Chance zu begreifen.

  8. Für die Frage, wie mit der zu erwartenden Weltwirtschaftskrise umzugehen ist, taugt das Bild vom ground zero nur bedingt. Die Interdependenzen der globalen Ökonomie, die weiterhin bestehen, sobald die Flugzeuge wieder abheben, sollten in der Wirtschaftskrise nicht erneut als Waffe in Handelskriegen benutzt werden, sondern vielmehr, um diese Krise und die weitaus folgenreichere globale Klimakrise zu bewältigen. Die Weltbank erkennt im Covid-19-Schock ein „window of opportunity“, in dem die Konjunkturpakete, die es geben wird und geben muss, als „klimakluge“ Investitionen gestaltet werden können. [3] Vier Aspekte sind dabei von strategischer Bedeutung: Investitionen in erneuerbare Energien, die oft auch mehr Arbeitsplätze schaffen als fossile Energieträger und Energiesicherheit schaffen; Investitionen in eine weitgehend klimaneutrale Infrastruktur im Verkehrsbereich oder im Abfallmanagement; Investitionen in lokale Anpassungsmaßnahmen wie Bewässerung, sozialen Wohnungsbau, Wasser und Hygieneeinrichtungen, Renaturierungsmaßnahmen etc. und das Festhalten an CO2-Steuern und Zöllen zur Vermeidung falscher Anreize.
     
  9. Transformative Kapazitäten braucht auch die Europäische Union. Sie steht nicht vor irgendeiner weiteren Krise, sondern kämpft um ihre Existenz. Soll sie weiter bestehen bleiben, braucht es eine rasche Lösung in der Frage, wie die taumelnden Volkswirtschaften Italiens und anderer, schwer von der Krise getroffener Staaten aufgefangen werden können. Aber es braucht weitergehende Ideen, das Auseinanderbrechen zu verhindern. Noch sehen 67% der Deutschen mehr Vor- als Nachteile in der EU-Mitgliedschaft. [4] Das ist eine gute Basis, auf der die deutsche Ratspräsidentschaft ab Juli ihre dramatisch gestiegene Verantwortung entschlossen wahrnehmen kann, die Staatengemeinschaft auf Stabilisierungskurs zu bringen.
     
  10. Die Corona-Krise ist die erste Krise der Menschheitsgeschichte, in der wir virtuell weiterführen können, was reell gerade nicht möglich ist. Virtuelles Informieren, kontaktloses Bezahlen, digitales Zusammentreffen – plötzlich bemerken wir, in welcher Welt wir längst gelebt haben, ohne unser Verhalten vollständig darauf eingestellt zu haben. Die digitale Erfahrungskurve weiter Teile der Berufstätigen steigt gerade steil an. Darin liegt eine große Chance. Diese Erfahrungen werden nach der Krise nicht ungenutzt bleiben, sondern die digitale Transformation befeuern. Zu einer transformativen Kapazität kann sie aber nur werden, wenn nicht der Daten- und Informationsschutz gegen die Usability ausgespielt wird, wenn der digital divide – die Fortsetzung sozialer Ungleichheit im digitalen Raum sich nicht verstärkt und wenn das Internet ein Raum sicherer und vertrauenswürdiger Kommunikation wird.

Die beiden Grundmuster der Globalisierung – Mobilität und Kontakt – die momentan so stark reduziert sind, werden sich verändern. Digitale Mobilität und digitale Kontakte versprechen mehr Resilienz in ähnlichen Krisen und haben den Vorteil, dass sie auch ökologisch vernünftiges Verhalten fördern ohne Freiheiten einzuschränken.    
 


[1] Vgl. Eva van de Rakt/Florian Christl, Covid-19-Pandemie: Von der Zerbrechlichkeit der EU
[2] Vgl. Ivan Krastev, Seven early lessons from the coronavirus
[3] Vgl. Xenia Kirchhofer, The pandemic is an unexpected opportunity for climate action
[4] Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung, Selbstverständlich europäisch!?