"Die Pandemie vertieft die Kluft"

Interview

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft sind dramatisch. Das Virus erschüttert alle großen Wirtschaftsnationen gleichzeitig, Rettungspakete werden geschnürt, Milliarden ausgegeben. Kapital aus den Schwellenländern wird abgezogen. Gleichzeitig steigert der Kampf gegen die Pandemie die Staatsverschuldung vieler Länder enorm und gerade für die bereits hoch verschuldeten Entwicklungsländer wirkt die Krise wie ein Beschleuniger. Ein Interview mit Barbara Unmüßig vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung über die jüngsten Entwicklungen.

Barbara Unmüßig, Stiftungs-Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung
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Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Barbara Unmüßig, wir sitzen uns in Ihrem Büro in der Stiftung gegenüber, mit viel Abstand, gut gelüftet. Das Haus ist leer, keine Mitarbeitenden unterwegs. Fast alle sind im Homeoffice. Wie geht es Ihnen mit dieser Situation?

Mein Arbeitsalltag im Homeoffice ist ein sehr verdichteter. Ich habe das Gefühl, ich arbeite noch intensiver und habe Mühe, mir meine Pausen zu organisieren. Alle unsere Mitarbeitenden auch ins unseren Büros in aller Welt arbeiten im Homeoffice. Das ist für manche eine starke Belastung, vor allem dort, wo strikteste Ausgangssperren wie in Chile oder Südafrika herrschen und überall, wo Kinder und zu Pflegende zu versorgen sind. Doch sind unsere Mitarbeiter*innen in einer privilegierten Position. Wir müssen keine Kurzarbeit beantragen, unsere Arbeitsplätze sind sicher. Wir versuchen, alle Mitarbeitenden gut auszustatten, zu entlasten, zu beraten, so dass Homeoffice geht.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat gerade seinen jährlichen Ausblick auf die weltwirtschaftliche Entwicklung veröffentlicht, eine düstere Prognose. Was erwartet uns in den kommenden Monaten und Jahren?

Das ist eine Krise historischer Dimension. Auch der ehemalige IWF-Chefökonom Kenneth Rogoff sagt, dass es eine solch rasche und tiefe Krise noch nie gab. Sie betrifft alle Lebensbereiche, den Produktionssektor, den Dienstleistungssektor und auch alle Winkel der Erde. Der IWF erwartet, dass die Wirtschaftsleistung im Durchschnitt um mindestens drei Prozent in diesem Jahr schrumpft - und alle sagen das ist eine sehr optimistische Einschätzung. Durchschnittswerte sind immer nur begrenzt aussagekräftig.

Minus 3 Prozent weltweites Wirtschaftswachstum – optimistisch geschätzt

Italien wird ein Minus im Wirtschaftswachstum von minus 9,1 Prozent prognostiziert und für Brasilien minus 5,3 Prozent. Das ist für ein Schwellenland sehr viel. China hat allein im ersten Quartal 2020 ein Minus von 6,8 Prozent hinnehmen müssen. Für China seit mehr als drei Jahrzehnten eine vollkommen ungewohnte Tatsache. Wie sich das auf die politische Stabilität auswirkt, die ja immer auch auf hohen Wachstumsraten basierte, wird sich noch zeigen.

Die überwiegende Mehrheit der Schwellen- und Entwicklungsländer wird in der wirtschaftlichen Entwicklung massiv zurückfallen. Für Afrika gibt es seit 25 Jahren zum ersten Mal eine Wirtschafts-Rezession. Die Folge scheint klar: Mehr Hunger, Armut, wachsende Ungleichheit in der Welt.

Wenn hier alles stillsteht, die Geschäfte geschlossen sind, etwa die ganzen Modeketten – was bedeutet das für die Menschen in den Ländern des globalen Südens, die für diese Ketten arbeiten und nähen?

Hunderttausende Frauen verlieren ihren Arbeitsplatz! In Bangladesh, Indien, Kambodscha, Myanmar, weil ganz viele Textilketten zum Beispiel Gap oder Zara oder Primark oder C&A im Moment ihre Aufträge in Milliardenhöhe stornieren.

Stornierte Aufträge in Milliardenhöhe

Alleine in Indien, beispielsweise im südindischen Bangalore, arbeiten ungefähr 400.000 Menschen im Textil-Sektor. Mindestens 300.000 davon haben ihren Job verloren. Sehr viele davon sind in ihre Dörfer zurückgekehrt und hoffen auf familiäre Unterstützung. Sie treffen dort aber auf Menschen, die ebenfalls Hunger haben, die kein Einkommen haben.

Viele dürfen die Stadt ja auch wegen des Lockdowns gar nicht mehr verlassen.

Ja. Mindestens hunderttausend Arbeiterinnen und Arbeiter, weil sie aus anderen indischen Bundesstaaten kommen. Was mit diesen Menschen passiert, die gar keine soziale Bindung haben, keine Infrastruktur und gleichzeitig aber für Miete und Medizin bezahlen müssen? Da geht es um das Überleben. Es gibt kein Kurzarbeitergeld, es gibt keine sozialen Sicherungssysteme.

Es trifft also die vulnerablen Bevölkerungsgruppen doppelt und dreifach. Wenn alles brachliegt und es Ausgangssperren gibt, verlieren sie ihre Jobs - im formellen und informellen Sektor. Gleichzeitig sind es Länder, die keine Gesundheitssysteme haben. Der Lockdown – so notwendig er ist – ist brutal und wird Menschenleben kosten.

Wie trifft die Krise die Länder, die Rohstoffe exportieren?

Besonders die Länder sind hart von externen Schocks betroffen sind, die sehr einseitig auf einen einzigen Wirtschaftszweig bzw. Exportsektor wie Bangladesch oder Kambodscha im Textilsektor gesetzt haben oder landwirtschaftliche und mineralische oder fossile Rohstoffe exportieren.

Abhängigkeit von nur einem Rohstoff ist fatal

Die Rohstoffpreise gehen massiv zurück, weil weltweit die Nachfrage zurückgeht. Gerade Erdöl und Erdgas exportierende Länder leiden massiv unter dem ungeheuren Fall des Ölpreises. Heute, am 21. April, kam die Nachricht, dass für US-amerikanisches Öl sogar Geld bezahlt wird, damit man es abkauft. Auch Länder wie Nigeria oder Algerien oder das ohnehin schon marode Venezuela leiden natürlich unter dem Ölpreissturz. Letztlich sind alle Rentenökonomien – auch in Lateinamerika – stark von den weltwirtschaftlichen Einbrüchen betroffen.

Alle weltwirtschaftlichen Folgen der Krise laufen gegen die Schwellen und Entwicklungsländer, wo sich sehr schnell die Effekte gegenseitig verstärken. Auslandsschulden zu bedienen wird teurer und dringend benötigte Importe auch. Hinzu kommen wohl noch Nahrungsmittelversorgungskrisen, weil Preise steigen und wir Ernteausfälle haben werden. Dürren, Heuschreckenplagen in Ostafrika verschärfen die Folgen des Lockdowns. Es wird sehr bald viel mehr Hungernde als die 800 Millionen jetzt geben.

Stichwort Schulden: Wird für Länder, die bereits hoch verschuldet sind, die Corona-Krise jetzt eine Schuldenkrise?

Ja. Es trifft ganz besonders die Länder, die jetzt schon hoch verschuldet sind und die sich nicht in ihrer eigenen Währung verschulden können.

Zum Beispiel Südafrika: Das Land hat sich in Dollar verschuldet und muss sich auch in Dollar weiter verschulden. Die Währung Rand hat seit Jahresbeginn gegenüber dem Dollar ein Drittel an Wert verloren und das Land gibt ein Drittel seiner Erlöse aus dem Handelsexport für den laufenden Schuldendienst aus.

Die Welt hat noch nicht wirklich wahrgenommen, wie sehr eigentlich wir in eine neue Verschuldungskrise hineinlaufen. Insbesondere sind die Länder mittlerweile auch bei China verschuldet und deswegen wird es auch mehr denn je auf China ankommen, wenn politische Lösungen für Wege aus der Schuldenfalle gesucht werden müssen.

Wobei China im Inneren ja auch hoch verschuldet ist.

Chinas Verschuldung wächst dramatisch. Die Bruttoverschuldung, das sind Schulden von Staat, privaten Haushalten und Unternehmen zusammengenommen, sind  im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 140 Prozent im Jahr 2007 auf 261 Prozent im zweiten Quartal 2019 und jetzt wohl auf 310 Prozent gestiegen. Das ist atemberaubend, gerade auch im Vergleich zu europäischen Ländern. Und wird noch weitergehen, wenn die chinesische Regierung mit Stimuluspaketen gegen die Folgen der weltwirtschaftlichen Rezession im eigenen Land kämpft.

Was kann man aus Ihrer Sicht tun, um dieser weltweiten Krise zu begegnen?

Definitiv brauchen wir ein breit und langfristig angelegtes Moratorium oder eben auch Schuldenerlasse für Entwicklungs- und Schwellenländer. Wir sehen erste Schritte. Die G20 haben für 77 Länder vor kurzem ein solches Moratorium beschlossen.

Das ist aber nur ein Zahlungsaufschub, eine Stundung der Tilgungen und Zinsen – und gilt erstmal nur bis Ende 2020. Danach haben diese Länder drei Jahre Zeit zurückzuzahlen. Das ist meiner Einsicht alles zu wenig langfristig ausgelegt.

Private Gläubiger einbinden!

Auch die Schwellenländer brauchen ein Moratorium – das auch von privaten Gläubigern mitgetragen wird. Die Länder sind ja nicht nur öffentlich, beim IWF, der Weltbank oder bei öffentlichen Banken verschuldet, sondern sie haben ganz viele Schulden bei privaten Gläubigern. Und die privaten Gläubiger sind ja bislang nicht einbezogen in die Schuldenmoratorien.

Und es braucht einen Schutz vor Klagen privater Gläubiger wie Hedge-Fonds, denn diese können entsprechende Schuldtitel vor britischen oder US-Gerichten einklagen.

Das braucht es angesichts der Krise, die historisch kein Vorbild hat, erst recht. Das wäre ein Zeichen universaler Solidarität.

Spüren Sie denn mehr Solidarität auf weltpolitischer Ebene gerade?

Nur teilweise. Das beschlossene Moratorium der G20 ist ein erster guter Schritt ist. Ein zweiter guter Schritt - und das ist auch einmalig in der Geschichte: Der IWF hat sehr schnell und zügig deutlich gemacht, dass er bereit ist, auch Schutzschirme aufzuspannen und baut seine Notschirme auf...

...insgesamt sind bisher acht Billionen an Liquiditätshilfen und in Hilfspakete geflossen.

Das sind sage und schreibe 9,5 Prozent des Weltbruttosozialprodukts. Das hat es in dem Tempo und der Höhe noch nie gegeben. 103 Länder haben beim IWF bereits schnelle Hilfen beantragt. Die Fed, also die Zentralbank in den Vereinigten Staaten, scheint rational zu funktionieren im Gegensatz zum Präsidenten, der Sündenböcke sucht und der WHO mitten in der Pandemie die Mittel streicht.

Die Krise ist allerdings so tief und so umfassend, dass sie uns lange beschäftigen wird und wir eigentlich größere Schutzschirm für die Ökonomien gerade auch im globalen Süden brauchen.

Was gibt es denn darüber hinaus für Instrumente, die der IWF einsetzen könnte?

Der IWF muss noch mehr Geld erhalten, er sollte seine Sonderziehungsrechte ausweiten. Das wird auch diskutiert, ist aber noch nicht entschieden, weil die USA u.a. blockieren. Entlang ihrer Wirtschaftsleistung haben alle Mitgliedsländer des IWF Anspruch darauf. Und das sind keine Kredite, sondern so etwas wie Zugangsrechte für Mitgliedsländer des IWF. Davon würden zunächst und hauptsächlich die reichen G20-Länder profitieren. Mehr als 70 Prozent der Mittel würden den G20 zugute kommen. Sie könnten diese Sonderziehungsrechte allerdings übertragen. So könnten sich auch arme Länder und Schwellenländer im globalen Süden Geld organisieren. Afrikanische und einige europäische Regierungen befürworten die Ausweitung der Sonderziehungsrechte. Wichtig und zentral ist, dass diese Gelder in Gesundheits- und Bildungssysteme fließen.…

Doch die Schwere der Krise wird nur durch weit größere Finanzierungspakete zu bewältigen sein. Da muss die Bundesregierung endlich über ihren (ideologischen) Schatten springen, und den sogenannten Coronabonds zustimmen. Und das lässt sich zumindest teilweise auch mit einem Green Deal verbinden - einer Investitionsoffensive in erneuerbare Energien, Energieeffizienz und CO2-freie Mobilität.

Welche Chancen bietet diese Krise aus klimapolitischer Perspektive. Was braucht es jetzt für die Weltwirtschaft?  

Die Zukunft der Weltwirtschaft braucht ein anderes Handels- und Finanzsystem, das eben auch im Einklang mit den Pariser Klimazielen stehen muss. Dazu brauchen wir ein sehr grundlegendes Umsteuern. Eine Rückkehr zum Business as usual wird es hoffentlich nicht geben. Die ökologischen Krisen gehen weiter. Und die Pandemie wird die sozialen Ungleichheiten noch weiter verschärfen. Deshalb braucht es sozial-ökologische Antworten.

Wir brauchen aus meiner Sicht Rückverlagerungen von Produktion, mehr Reserven, mehr Vorräte, ganz andere Sicherung der Lieferketten. Wir sind auch so vulnerabel, weil wir Medikamente nur noch aus China und Indien beziehen – und immer just in time. Das muss sich ändern. Wie stärken wir die öffentliche Daseinvorsorge, den Gesundheitssektor? Wie schaffen wir es, CO2 und überhaupt emissions- und ressourcenärmer zu wirtschaften? Das sind die Fragen, die wir als Stiftung schon lange stellen. Jetzt noch um so intensiver.